Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3728. Wien, Dienstag, den 12. Januar 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3728. Wien, Dienstag, den 12. Januar 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 12.01.1875
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Theater und Musik. („Giroflé-Girofla“ von Lecocq. — Philharmonisches Concert. — Gesellschafts-Concert.)

Ed. H. Giroflé und Girofla sind die Namen zweier einander zum Verwechseln ähnlicher Zwillingsschwestern, und ihre wirkliche Verwechslung ein ganzes Stück hindurch bildet den Stoff von Lecocq’s neuester komischer Oper. Es gibt viele Lustspiele, die auf der täuschenden Aehnlichkeit zweier Personen beruhen. Der Ahnherr dieses Geschlechtes ist wol der „Amphytruo“ von Plautus; da nimmt der Göttervater Zeus auf einer seiner galanten Wanderungen die Gestalt des thebanischen Helden an, um dessen Rolle als Ehemann zu spielen. Wenn die Aehnlichkeit der Kniff eines Gottes ist, dann freilich haben die Verwechslungen nicht den Vor wurf der Unwahrscheinlichkeit zu fürchten. Plautus selbst in seinen „Menächmen“, Shakspeare in dem „Lustspiel der Irrungen“ begründeten die Aehnlichkeit, das Triebrad ihrer possenhaften Verwechslungen, durch Zwillingsbruderschaft. In neuerer Zeit verwerthet man dieses Motiv fast nur noch für die Virtuosität eines Schauspielers. Es war eine der berühmtesten Leistungen unseres Fichtner, in Holbein’s Doppelgänger“ die Doppelrolle eines lustigen und eines sentimentalen Officiers zu spielen; noch weiter ging der Stuttgarter Hofschauspieler Moritz, der auf seinen Gast spielen regelmäßig „Drillinge“ darstellte. Eine solche Auf gabe für die Bravour individualisirender Kunst bildet das Lecocq’sche Zwillingsschwesternpaar keineswegs. Mit Ausnahme einer ganz kurzen Scene der Girofla zu Anfang ist es immer nur Giroflé allein, welche das Stück hindurch spielt und bald für die eine, bald für die andere Schwester aus gegeben wird. Der Dichter verräth zwar anfangs die Ab sicht, die beiden einander leiblich so ähnlichen Schwestern durch entgegengesetzte Temperamente auseinanderzuhalten; er läßt wenigstens erzählen, daß die eine lebhaft und lustig, die andere schüchterner Natur sei. Seltsamerweise unterläßt der Componist den Versuch einer musikalischen Charakteristik selbst an der einzigen dafür günstigen Stelle. Die ernsthafte Schwester präsentirt sich nämlich mit dem Complet: „Père

adoré, c’est Giroflé“, worauf die andere, lustige, mit dem zweiten Couplet folgt: „Petit papa, c’est Girofla“. Der Componist hat für die gleiche Melodie dieser zweiten Schwester nicht einmal eine höhere Tonstufe oder ein rasche res Tempo zur charakteristischen Unterscheidung gewählt. Wir müssen es für das Verdienst von Fräulein Meyerhoff halten, daß sie trotzdem den beiden gleichlautenden Strophen eine sehr verschiedene Färbung verleiht. Von da an ver schwindet Girofla, von Piraten geraubt, aus dem Stücke, und Giroflé, die Zurückgebliebene, muß bald die Frau des sanften Kaufmannes Marasquin, bald jene des wüthenden Maurenhäuptlings Murzuk spielen, ein Spaß, der sich doch zu bald erschöpft. Das ganze Stück ist ein Tanz auf dem gespannten Seile der Unwahrscheinlichkeit; um unser Inter esse zu erhalten, müßte der Gang der Begebenheiten so rasch sein, daß man nirgends zur Besinnung käme. Dafür fehlt aber dieser Operette die übermüthige Laune, das un widerstehliche Temperament. Auf der possenhaften Voraus setzung baut sich alles Folgende mit einer gewissen Schwere und Ernsthaftigkeit auf; die Eltern, die Braut, der junge Ehemann kommen nicht aus den ängstlichsten Empfindungen heraus, ja zum Schlusse droht förmlich die Tragödie herein zubrechen, indem Murzuk in wahnsinniger Eifersucht Giroflé ermorden will. Da verkündet ein Trompetenstoß (ganz Fidelio“!) die Ankunft des siegreichen Admirals mit der geretteten Girofla, und nun hat endlich jeder der beiden Neuvermälten seine eigene Frau für sich.

Die Beschaffenheit dieses Textbuches begründet schon die entschiedene Inferiorität der „Giroflé“ unter „Madame Angot“ desselben Componisten. Letztere ist ein gelungenes Zeit- und Sittenbild, in welchem eine gutverschlungene Doppel-Intrigue durch den historischen Hintergrund Bedeut samkeit erhält; dazu die Contraste zwischen Salon und Straßenleben, herzhafte Volksgestalten, an denen wir mensch liches Interesse nehmen, eine geschickt angelegte, sich wirksam steigernde Handlung. Der Inhalt von „Giroflé“ ist, kurz gesagt, Unsinn, und die handelnden Personen sind Cari caturen. Musikalisch bewährt auch „Giroflé“ in mehr als Einer Nummer das gewandte, anmuthige Talent Lecocq’s; allein die Erfindung fließt viel spärlicher und gemischter als in

der „Angot“. Die geringere anregende Kraft des Textbuches auf den Componisten mußte sich hier wol geltend machen. Das musikalisch Beste in seiner neuen Operette findet sich in den kleinen knappen Formen; gleich die ersten Couplets Blasel’s — die deutsche Uebersetzung mit dem Heine’schen Reime: „Der Vater, das that er“, ist hier wirksamer als das Original: „Un père, radieux et prospère“ — dann die graziösen Strophen der Meyerhoff und des sich den Eltern präsentirenden Marasquin, Swoboda, sie sind bei aller Anspruchslosigkeit vortrefflich, ganz das, was sie sein sollen. Ein Gleiches kann man dem Liebesduett der Neuvermälten in G-dur nicht nachrühmen, es ist ein anständiger Gassen hauer, wie manches Nachfolgende. Aus dem ersten Finale hebt sich nur das wohlklingende, breite Andante: „Wie sie der Schwester ähnlich sieht“ vortheilhaft heraus. Wie im ersten Acte das Couplet, so herrscht im zweiten der Ensemble- und Chorgesang vor. Der Componist, welcher in der „Angotden besten Eigenschaften Offenbach’s mit Glück nachfolgte, hat sich hier nur zu oft auf dessen schlimme Cancanseite ge schlagen. Der Chor der Hochzeitsgäste, der „Galopp“ in A-dur, das Ensemble des Cousins mit dem folgenden Punsch- Trinklied, das Alles schlendert in liederlichen Tanzrhythmen recht abgegriffen einher. Das Lied: „Unsere Alten“, eine Melodie von allergewöhnlichster Erfindung, wird nur durch Swoboda’s graziösen Vortrag pikant, sowie die Triviali tät des Unisono-Quintetts: „Matamoros, der Held der Meere“ lediglich durch den parodistischen Einfall der Frau Schäfer in komischen Effect umschlägt. So bleiben im zweiten Acte nur zwei Stücke von vornehmerer musikalischer Abkunft: das sehr neckische Duett zwischen der opponirenden Giroflé und ihrem Vater, dann das (blos in der Ouvertüre verwendete) zärtliche Andante der beiden jungen Ehemänner: „O Giroflé, o Girofla!“ im Finale. Im dritten Acte beschränkt sich unsere musikalische Ausbeute so ziemlich auf das kleine Duett Mur zuk’s mit Giroflé und seine Couplets im Polonaisen-Tempo: „Ach schmerzlich ist’s“, zwei Nummern von melodiösem Reize und durchaus distinguirter Haltung. Wie eine frühere Notiz bereits constatirt hat, ist die Vorstellung der „Giroflé“ ein echt Jauner’sches Prachtstück an Zusammenspiel und Ausstattung; sie setzt alle Vorzüge dieser Novität in helles Licht und mag

dadurch für manchen Hörer die Thatsache verdeckt haben, daß „Giroflé“ künstlerisch keinen Vergleich aushält mit „La fille de Madame Angot“. Es mag grausam erscheinen, einen Componisten durch die Hinweisung auf sein gelungen stes erstes Werk für die geringeren Qualitäten eines keines wegs mißrathenen zweiten gleichsam zu strafen. Aber das Glück eines so unermeßlichen Erfolges, wie der von Lecocq’s Angot“, bleibt selten ganz ohne gefährliche Folgen. Succès oblige.

Das vierte Philharmonische Concert begann mit einer Novität von Leo Grill. Sie nennt sich „Con cert-Ouvertüre“ und hat weder Titel noch Motto. Durch beides würde sie nicht besser, aber wenigstens verständlicher geworden sein. Man fragt sich unwillkürlich, was diese langgestreckte düstere Einleitung vorstelle, was der leiden schaftliche Kampf und all die dramatischen Zuckungen im Allegro? Wir fühlen, es müsse dieses Tongemälde noch etwas außer der Musik bedeuten wollen, um überhaupt etwas zu bedeuten. Wie sie vorliegt, ist Grill’s Concert- Ouvertüre eine Composition von beträchtlichen Ansprüchen und Anläufen, denen das Ziel und die Erfüllung fehlen. Kein origineller Gedanke, kein aus dem Herzen quellender Gesang, keine Nothwendigkeit, nur Geschicklichkeit. Ihr Schicksal: ein durchfallverwandter „Achtungserfolg“. — Die renommirte Pianistin Fräulein Anna Mehlig aus Stutt gart spielte Rubinstein’s Viertes Concert. Wir sind ihr dankbar für die Wahl dieses geist- und effectreichen Virtuosenstückes, mag es an künstlerischer Vollendung noch so weit von dem Halbdutzend classischer Clavier-Concerte abstehen, deren Reiz durch maßlose Abnützung schon so bedauerlich abgeschwächt erscheint. Nicht in gleichem Grade war dieses Concert eine gute Wahl für die Künstlerin selbst, deren überaus nettes, reines und ausgeglichenes Spiel der dafür nöthigen Kraft entbehrt. Man braucht das Stück nicht einmal von Rubinstein selbst gehört zu haben, um diese zarte Weiblichkeit hier ungenügend zu finden. In dem leichten Aether der Solo-Passagen flog sie zierlich und behend wie ein Vogel; gegen den Ansturm des Orchesters vermochte sie sich jedoch nirgends zu behaupten. Die Leistung Fräulein Anna Mehlig’s fand die schmeichel hafteste Anerkennung; sie war auch von tadelloser Glätte

und Correctheit, nur nach allen Dimensionen zu klein. — Einem Curiosum wunderlicher Art begegneten wir in Abert’s Orchester-Begleitung zweier Stücke von Sebastian Bach. Zuerst hören wir das Cis-moll-Präludium aus dem wohltemperirten Clavier“ (nach D-moll transponirt) in fei ner, effectvoller Instrumentirung. Hierauf kommt urplötzlich, wie ein in den Concertsaal verirrtes Begräbniß, ein Cho ral von Abert angeblasen, blos Trompeten, Hörner und Posaunen. An diese unerwartete „Aufforderung zum Tode“ schließt sich ebenso unerwartet Bach’s Orgelfuge in G-moll, in deren ungestörten Verlauf stückweise jener Choral hinein schmettert. Gounod’s artiger Einfall, zu Bach’s C-dur-Prä ludium eine gesangvolle Violinstimme zu schreiben, scheint schlimme Nacheiferung zu wecken. Schon hat ein deutscher Componist den Cramer’schen Etuden solche Melodiemützen aufgestülpt, und nun kommt unser geschätzter Freund Abert gar auf die absonderliche Idee, der Bach’schen G-moll- Fuge (nach Art einer subcutanen Injection) einen fremden Choral einzuspritzen. Abert besitzt vollständig die gründ liche Bildung, die feine und sichere Hand, die für eine so schwierige Musik-Operation nothwendig ist; gegen die Art dieser Operationen müssen wir uns trotzdem entschieden aus sprechen. — Den Beschluß des Concertes machte Beetho ven’s Achte Symphonie, welche unter Dessoff’s Leitung vortrefflich ausgeführt und mit allgemeinem Entzücken ge hört wurde.

Das zweite Gesellschafts-Concert, am 10. Januar, erfreute sich eines ganz ungewöhnlichen Schmuckes durch die Mitwirkung von Joseph und Amalie Joachim. Die frohe Botschaft: „Joachim ist da!“ wurde uns von allen Seiten wie ein Gruß zugeflüstert, und als er selbst vortrat, die Geige in der Hand, da wollte der Jubel kein Ende nehmen. Sieben Jahre sind verflossen, seit Joachim zuletzt in Wien gespielt, und Mancher mochte ihn nicht gleich erkannt haben wegen des mächtigen Vollbartes, der das ehe dem glatte Gesicht jetzt umwuchert. Aber er führt den ersten Bogenstrich, und Niemand kann ihn mehr verkennen — so spielt nur Joachim! Und was er heute spielt, ist gleichfalls unverkennbarer Joachim, das „Ungarische Concert“ nämlich, eine prachtvolle Composition, die nicht blos nach ihrer Aus

dehnung zu den größten Violin-Concerten gehört. Mit jeder Wiederholung wird sie dem Publicum vertrauter und lieber, freilich will sie auch mit der ganzen Energie und Noblesse mit der unfehlbaren und durchgeistigten Bravour Joachim’s vorgetragen sein. Diese durch Empfindung und vornehmste Auffassung geadelte Virtuosität bewunderten wir auch in Joachim’s Vortrag einer Phantasie mit Orchester von Ro bert Schumann, ohne uns für die Composition lebhafter erwärmen zu können, als vor sieben Jahren. Die für Joachim geschriebene, noch ungedruckte Phantasie (das mir vorliegende Autograph Schumann’s trägt das Datum: Düsseldorf, 7. Sep tember 1853) ist eines der spätesten Werke des Meisters und vereinigt auch alle inneren Merkmale seiner einem traurigen Ausgang zusteuernden dritten Periode.

Ein neues bedeutendes und ganz eigenthümliches Werk von Brahms: „Rhapsodie für Altsolo, Männerchor und Orchester“ (Op. 53), konnte unmöglich günstiger eingeführt werden, als durch Frau Amalie Joachim, welchem mit unvergleichlichem Wohllaut der Stimme und ausdrucksvollster Declamation diese schwierige Aufgabe löste. Der düstere Ernst der Composition und das musikalisch spröde, ohne Com mentar kaum verständliche Goethe’sche Gedicht (es beginnt fragend mit den fragwürdigen Worten: „Aber abseits wer ist’s?“) erschweren die Aufnahme dieses Werkes im großen Publicum. Brahms, der auch in der Wahl seiner Texte sich „abseits“ von der breiten lyrischen Heerstraße hält, hat aus Goethe’s „Harzreise im Winter“ jenes Fragment heraus gerissen, das nach Goethe’s Erklärung selbst eine eigene „sentimental-romanhafte“ Geschichte hat. „Als der Dichter,“ erzählt Goethe, „den Werther geschrieben, um sich wenigstens persönlich von der damals herrschenden Empfind samkeits-Krankheit zu befreien, mußte er die große Unbequemlichkeit erleben, daß man ihn gerade diesen Gesinnungen günstig hielt. Er mußte manchen schriftlichen Andrang erdulden, der ihm bald lästig zu werden begann. „Unter Allen aber, die sich ihm mit der Bitte um Beistand in ihren „Herzens- und Geistesnöthen“ nahten, war ihm besonders ein junger Theologe, Plessing, in Wernigerode aufgefallen, welcher in zwei Briefen, nach Goethe’s Worten, „schreib selig-beredt und dabei so ernstlich durchdrungen von Mißbehagen und selbstischer Qual sich zeigte, daß es unmöglich war, nur irgend eine Persönlichkeit zu denken, wozu diese Seel-Enthüllungen passen möchten.“ Goethe beschloß, den Jüngling aufzusuchen, aber uner kannt. Mitten im Winter, am 29. November 1777, trennte er sich von der herzoglichen Reisegesellschaft und ritt einsam dem Harz entgegen. Gleich bei seiner Ankunft in Wernigerode besuchte er den jungen Mann, der „seinem Schreiben völlig glich und so wie jenes Interesse erregte, ohne Anziehungskraft auszuüben“. Goethe gab sich für einen Zeichner aus Gotha aus und ließ den Jüngling gewähren, als dieser ihm seinen traurigen Seelenzustand nochmals mündlich darlegte. Er rieth ihm nun, sich „aus einem schmerzlichen, selbstquä lerischen Zustand durch Naturbeschauung und herzliche Theilnahme an der äußeren Welt zu retten und zu befreien“, fand sich jedoch mit jedem „Versuchsmittel einer zu unternehmenden Cur so ent schieden abgewiesen, daß sein Innerstes sich zuschloß und er sein Gewissen durch den beschwerlichen Weg, im Bewußtsein des besten Willens, völlig befreit und sich gegen ihn von jeder weiteren Pflicht entbunden glaubte“. So schied Goethe von dem Wunderlichen, um ihn nachmals erkannt, in Weimar, dann in Duisburg, wo Plessing später als Professor und philosophischer Schriftsteller lebte, wieder zusehen. Der mittlere Theil von Goethe’s „Harzreise im Winter(das von Brahms componirte Fragment) beschäftigt sich mit dem Bilde des einsamen, menschenscheuen Jünglings und hat diesem zur Unsterblichkeit verholfen.

Die Brahms’sche „Rhapsodie“ wirkt durch die überaus düstere Stimmung anfangs befremdend; recht musikalisch wird das Gedicht eigentlich erst mit der Schlußstrophe, welche Trost und Versöhnung bringt. Der Eintritt des Männerchors, durch den sich die Frauenstimme wie ein weißes Band leuchtend durchschlingt, ist von ergreifender Schönheit. Der eigenthüm lich ethische Charakter, welcher der Brahms’schen Musik im Großen und Ganzen aufgeprägt ist und sie in so nahe Ver wandtschaft mit Beethoven bringt, tritt in der „Rhapsodiemit fast tendenziöser Stärke auf und läßt sie als ein Seiten stück zu seinem „Schicksalslied“ erscheinen. An all dem Vielen und Guten dieses Concerts (auch Mendelssohn’s liebens würdige Ouvertüre zur „Hochzeit des Camacho“ wurde ge spielt) trug schließlich das Auditorium etwas schwer und folgte nur mit Anstrengung der Bach’schen Pfingstcantate O ewiges Feuer!“ Die schwierigen Figurationen der Chöre kamen nicht mit voller Deutlichkeit heraus, und so machte nur die von Frau A. Joachim meisterhaft vorgetragene A-dur-Arie Eindruck. In den Baß-Recitationen wirkte Herr Dr. v. Raindl verdienstlich mit; der Tenorist hingegen sang, als wenn er über dem „ewigen Feuer“ am Brat spieß steckte.