Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3735. Wien, Dienstag, den 19. Januar 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3735. Wien, Dienstag, den 19. Januar 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 19.01.1875
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Musik. (Philharmonisches Concert. — Joachim. — Pauline Lucca. — Offenbach’s „Frau Herzog“.)

Ed. H. Die schönsten musikalischen Stunden der letzten Woche verdanken wir unstreitig Joachim. Leider hat er nach kurzem Aufenthalt uns wieder verlassen; Wien ist stolz auf diesen österreichischen Künstler, aber Berlin besitzt ihn. Seine Virtuosität kennen wir seit lange; sie hat alle nich tigen Schlacken spurlos abgethan, geht so rein und voll ständig in dem Kunst-Ideal auf, daß der Zuhörer auf alles blos Technische vergißt und der Kritiker fast ungern davon spricht. Größe und Adel, die bestimmenden Charakterzüge seines Spieles, schließen bei Joachim weder die zärtlichste Empfindung aus, noch den scherzenden Frohsinn; nur hält er jene immer unberührt von Weichlichkeit, diesen von zu dringlicher Koketterie. Jeder Tondichtung gibt Joachim ihr volles Recht, ihre Eigenthümlichkeit, und dennoch fühlt man, daß er, der Spieler, überall er selbst und sich treu geblieben ist. Das gibt seiner Kunst die überzeugende Kraft, den Aus druck von Wahrheit und Verläßlichkeit; man glaubt und vertraut ihm, indem man ihm lauscht. Er spielt nicht blos wie ein großer Geiger, er spielt wie ein treuer Freund, wie ein vortrefflicher Mensch. Das Elementarische, Dämonische einer ungezügelten Subjectivität, wie es in Liszt, in Paganini so berauschend wirkte, steht seiner Natur fern. Joachim’s gleichmäßige Wärme wirkt minder erregend für den Moment, aber reiner und nachhaltiger. Wol sind sie hinreißend im Leben und in der Kunst, die „unberechenbaren Charaktere“, mit ihrem entzückenden Liebreiz und ihren grausamen Launen — wir bluten unter ihrem Zauber. Bei Joachim aber fühlen wir uns sicher, geborgen; er schlägt keine Wunden, er heilt sie, oder macht es uns doch glauben, so lange er spielt. Wer hat nicht diesen Eindruck, wenn Joachim das Adagio aus Spohr’s E-moll-Concert vorträgt? Wie schön ent fesselt er die schwärmerische Empfindung dieser Elegie und hält sie doch mit starkem Geist zusammen, daß sie nicht überströme. In solchen Stimmungen zieht sein Gesang wie ein weißer Schwan über den stillen Wasserspiegel. Es war im fünften Philharmonie-Concerte, wo das Spohr’sche

Violin-Concert zur Aufführung kam. Wir danken es Joachim, daß Spohr, der bei all seiner Einseitigkeit ein echter und eigenthümlicher Meister bleibt, doch nicht gänzlich vergessen wird. Joachim’s Ton klang unvergleichlich süß, wenngleich nicht so groß und majestätisch wie vor einem Decennium, wo ihn die bessere Akustik des Redoutensaales begünstigte. Auch einige kleine Unreinheiten in den Bravourstellen des ersten Satzes machten sich bemerkbar, ohne daß sie uns ernstlich gestört hätten. Mit besonderer Freude lasen wir im Programm ein „Notturno“ von Joachim angezeigt; ist doch der einzige Vorwurf, den wir ihm je machten, sein seltenes Hervortreten als Componist. Joachim scheint schwer zu pro duciren, wenigstens schwer befriedigt, und doch seufzen Spie ler und Hörer nach neuen Violin-Compositionen, wie das Ungarische Concert“. Ein warmer Verehrer dieser glänzen den Tondichtung, bin ich doch ziemlich kalt geblieben bei Joachim’s neuem „Notturno“. Es fehlen ihm die plastisch hervortretenden, die entscheidenden Melodien; selbst die Stim mung des Ganzen will sich dem Hörer nicht recht mitthei len. Das Stück klingt wie die improvisirte Rede eines geist reichen Mannes, der nichts Banales sagen will und doch momentan etwas mißlaunig und zerstreut ist. Sicher würde das Notturno durch eine zweite Aufführung gewinnen, wir aber noch mehr durch einige neue Werke von Joachim. In demselben Concerte sang Frau Amalie Joachim die be kannte Rache-Arie der Dejanira aus Händel’sHerakles“, eine der dramatisch prägnantesten und leidenschaftlichsten die ses Meisters, stylvoll und technisch meisterhaft. Die (nur zu oft gehörte) „Euryanthe“-Ouvertüre von Weber und Schumann’s reizende „Sinfonetta“ (Ouvertüre, Scherzo und Finale) bil deten die orchestralen Pfeiler dieses glänzenden Concertes.

Einen intimeren Charakter trug das Abendconcert, welches Joachim mit seiner Gattin, von Brahms unterstützt, im kleinen Musikvereinssaale gab. Das Zu sammenwirken der so engverbundenen drei Freunde verlieh diesem Musikabend einen ganz eigenen, familienhaften Reiz. Das Programm war reichlich, fast zu reichlich ausgestattet; am leichtesten hätten wir daraus die Bach’sche E-dur-Sonate für Violine und Clavier entbehrt. Als Anfangsnummer zumal haben ähnliche strenge Compositionen den Nachtheil, das Publicum nicht in die rechte Stimmung kommen zu

lassen; in die Mitte genommen, zwischen anderen Stücken, wirken sie besser. Obendrein spielte Joachim noch ein an deres Bach’sches Violinsolo und zwei Compositionen älterer Meister, Tartini und Leclair. Die mächtigen poly phonen Gestalten der Bach’schen Musik klangen wie in Stein gehauen, jeder Ton bestimmt und kraftvoll, scheinbar für die Ewigkeit gespielt. Doppelt reizend wirkte darauf das mun tere, volksthümliche Treiben in Leclair’s „Tambourin“. Den stürmischesten Beifall erregten die „Ungarischen Tänze“ von Brahms, von Joachim für die Geige übertragen. Brahms hat diese Melodien aus dem Zigeuner-Orchester, dessen Hauptfactor ja die Geige ist, geistvoll und eigenthümlich für das Clavier bearbeitet; von diesem wieder für die Violine umgearbeitet, klingen sie wie eine Rückübersetzung ins Ori ginal, und eine solche bleibt in der Regel immer unvoll ständig. So effectvoll die „Ungarischen Tänze“ unter Joachim’s Bogen klangen, wir ziehen doch den Brahms’schen Claviersatz vor. Einen unvergleichlichen Genuß gewährte Beethoven’s C-dur-Quartett (Op. 59), das Joachim, als Primspieler, mit der ganzen Fülle seines Geistes und Ge müthes durchdrang. Hellmesberger stand ihm als Violaspieler ebenbürtig zur Seite und wurde von Hell mesberger Sohn und Röver vortrefflich unterstützt.

Zwischen den Instrumentalstücken erklang eine Anzahl Lieder, ebenso vorzüglich ausgewählt wie gesungen von Frau Joachim; zuerst Schubert’sSuleika“ und Schu mann’sSturmnacht“, sodann drei Lieder von Brahms: Ewige Liebe“, überaus stimmungsvoll und tief empfunden; Sandmännchen“, ein reizendes Kinderlied, dem man den starken Anklang an Margarethens Lied in der „Weißen Frau“ gern nachsieht; endlich „Auf dem See“, das, musika lisch minder hervorragend, für die Hauptstelle des Gedichtes: „Glück und Frieden magst du saugen“ nicht den vollen natürlichen Ausdruck findet. In derselben Sammlung (Op. 59) findet sich eine wundervolle Composition des schönen Gedichtes von Mörike: „Rosenzeit, wie schnell vorbei.“ Bei diesem Anlasse kann ich mir eine Erwähnung des neuesten Lieder heftes von Brahms (Op. 63, bei Peters) nicht versagen, dessen erstes Stück: „Frühlingstrost“, vielleicht das schönste Lied ist, das Brahms geschrieben, und jedenfalls eines der herrlichsten seit Schubert. Im Liede erscheint mir im Allge

meinen Brahms Talent nicht in seiner vollen Entfal tung, ich möchte sagen, nicht in seiner wahren Heimat. Er braucht große Formen, um seine eminente Combinations kunst zu entwickeln. Durch den Reiz und die Wahrheit einer einfachen Melodie zu wirken, ist ihm nur ausnahmsweise gegeben. Die Lieder von Brahms haben durchaus eine sinnige, vornehme Auffassung, energische Declamation und geistreiche Harmonisirung, doch nur ausnahmsweise jene ursprünglichen, bescheideneren Eigenschaften, welche wir gerade im Liede nur schwer entbehren. Vielleicht stehe ich noch zu altmodisch unter dem Einflusse Schubert’s, der mir im Liede von Brahms ebensowenig erreicht scheint, als er seinerseits diesen erreicht in combinatorischer Kunst in großen Formen. Der neueste Liederstyl, wie ihn hauptsächlich Brahms und Robert Franz repräsentiren, klingt für meine Empfindung zu absichtlich, zu überladen und von Reflexion durchkältet. Vornehmlich drei charakteristische Elemente der modernsten deutschen Musik verleihen dem Liede einen leidigen Ausdruck von Gesuchtheit und Anstrengung: die Synkope, die Häufung von Vorhälten und Dissonanzen, endlich die überwuchernde Clavierbegleitung, deren schwierige Technik und fast absolute Selbstständigkeit heutzutage das Selbst-Accompagniren nahezu unmöglich macht. Das Alles kann sehr schön sein, ist es auch häufig, aber liedmäßig ist es nicht mehr. Unter den Händen zahl reicher Brahms-Nachahmer von zweifelhaftem Talent wird es grauenhaft. Da ich nun, wie es ehrlich gestanden sein wollte, nicht ohne Aengstlichkeit neue Liederhefte aufschlage, ist meine Freude über einen kostbaren Fund um so reiner und lebhafter. Und die genannten neuesten Lieder von Brahms, zu welchen ich noch ganz besonders (aus Op. 63) „O wüßt’ ich doch den Weg zurück“ und „Ich sah als Knabe Blumen blüh’n“ zähle, gehören zu den lyrischen Kostbarkeiten ersten Ranges. Ich mache alle die Sänger, welche so beweglich nach guten neuen Liedern seufzen und doch lieber die schlechten singen, darauf aufmerksam.

Im Hofoperntheater hörten wir Pauline Lucca als Mignon, eine geistvolle, höchst anziehende Leistung. Gleich ihr erstes Auftreten charakterisirte trefflich das Fremdartige, Schüchtern-Verwilderte dieses poetischen Wesens. Diese Auf fassung hielt die Künstlerin fest durch die ganze Oper; nur im letzten Act erschien sie schön gemildert und verklärt durch

die Liebe Wilhelm Meister’s. Die einzige Scene, wo der Componist dem Theater-Effect zuliebe Mignon aus der Rolle fallen läßt — die Styrienne im zweiten Act — mäßigte die Lucca nach Möglichkeit und verzichtete auf das kokette Zün geln und Minaudiren, womit andere Darstellerinnen in diesen Scenen Effect machen. Sie singt die Styrienne nach einer späteren glücklich erweiterten und bereicherten Umarbeitung des Componisten; nur die ganz charakterwidrigen Coloratur- Passagen am Schlusse sollte Mignon weglassen. Eine andere Variante, welche Frau Lucca von der Berliner Bühne hieher verpflanzt hat, vermögen wir nicht zu billigen: den tragischen Schluß, welchen der Componist aus Rücksicht für die Goethe-Pietät in Deutschland nachgeliefert hat. Nach dieser „Version allemande“ bleibt das ganze Finale (mit dem Wiedererscheinen Philinens und Friedrich’s) weg, Mig non sinkt, nachdem sie ihren Vater und ihr Heimatsland erkannt hat, leblos nieder. Schon bei Gelegenheit der ersten Aufführung der „Mignon“ suchte ich nachzuweisen, wie schlecht dieser vom Zaun gerissene tragische Ausgang zu der ganzen Anlage und Stimmung der Oper passe. Der wirk liche Eindruck hat mich in dieser Ansicht nur bekräftigt. Wenn Mignon nach dem Liebesduett im dritten Act mit aller Lungenkraft noch eine Strophe von „Kennst du das Land?“ absingt und hierauf plötzlich todt zu Boden fällt, so entsteht im Zuschauer nur eine Art Verwunderung, was ihr denn eigentlich geschehen sei? Frau Lucca sang die Rolle höchst ausdrucksvoll und spielte die bewegtesten Scenen (nament lich die Eifersuchtsscene und den Abschied von Wilhelm im zweiten Acte) mit ergreifender Wahrheit. Leider war es mir nicht vergönnt, Frau Lucca als Recha in der „Jüdinzu sehen, eine Leistung, die ganz besonders gerühmt wird. Mignon“ ist als eine der besten Vorstellungen des Hof operntheaters bekannt; insbesondere erfreuen sich Beck’s vortrefflicher Lothario und Walter’s gemüthlicher Wil helm Meister längst der allgemeinen Anerkennung. Die Philine gab zum erstenmal Fräulein Tagliana, in Er scheinung, Spiel und Gesang durchaus erfreulich und ihre Vorgängerin, Frau Koch, entschieden überragend. Sie mil derte das Lorettenhafte dieses Charakters durch vornehme Grazie und bewältigte vollkommen die großen Schwierigkei ten des Bravourgesanges, in welchem besonders ihr reines

Staccato und ihre vom dreigestrichenen Es gleichmäßig her abperlende Scala Anerkennung verdienten. Am Schluß ihrer Bravour-Polacca begegnete ihr das Mißgeschick, auf einem freiwillig angebrachten dreigestrichenen F auszugleiten, was bekanntlich auch den berühmtesten Künstlerinnen, nament lich in so schwindelnder Höhe, manchmal passirt. Um den Total-Eindruck der Rolle beim Publicum war es damit ge schehen; umsoweniger darf die Kritik jenem verunglückten F eine ganze Leistung opfern, der so viel Gutes nachzurühmen war.

Im Theater an der Wien hat Offenbach’s neueste Operette: „Frau Herzog“ („Madame l’Archiduc“) entschiedenes Glück gemacht. Die Handlung macht anfangs Miene, sich recht hübsch zu exponiren, fällt aber mit dem Erscheinen des Herzogs im zweiten Acte ins abgeschmackt Possenhafte. Gegen diesen Souverän, welcher sich als ein „Original“ rühmt, während er einfach ein Cretin ist, er scheint der Fürst Casimir in der „Prinzessin von Trapezuntwie ein zweiter Titus. An witzigen Einfällen, politischen namentlich, fehlt es übrigens nicht, namentlich ist die Er nennung der vier Verschworenen zu Ministern und die Ver wandlung der abgesetzten vier Minister in Verschworene von drastischer Komik. Die Partitur trägt durchaus das unver kennbar Offenbach’sche Cachet; daß sie nach einer mehr als zwanzigjährigen beispiellosen Productivität dieses Com ponisten nicht mehr den früheren Erfindungsreichthum auf weist und manche Reminiscenz enthält, versteht sich wol von selbst. In mehr als Einer Nummer blüht aber das eminente Talent Offenbach’s ungeschwächt auf; dahin gehört das Quartett der Verschworenen, die reizende Cantilene „Tais- toil“ im zweiten Finale, das Liebesduett zwischen Marietta und Fortunat, dann das vortreffliche Ensemble: „Pas de scandale ici“ im dritten Acte und manches Andere. [???] das ABC-Sextett wird — wenn man sich über das kin dische dieses Alphabet-Absingens hinwegsetzt — als ein äußerst geschickt componirtes Stück hervorzuheben sein. Fräu lein Geistinger hebt es obendrein durch eine Vortrags kunst, deren Feinheit und graziöse Laune in dieser Scene kaum zu übertreffen ist. Die übrigen Darsteller stehen zwar nicht auf gleicher Höhe, doch macht die ganze Aufführung des splendid ausgestatteten närrischen Stückes einen überaus heiteren Eindruck.