Musik.
(Philharmonisches Concert. —
Joachim. — Pauline
Lucca. —
Offenbach’s „
Frau Herzog“.)
Ed. H. Die schönsten musikalischen Stunden der letzten
Woche verdanken wir unstreitig Joachim. Leider hat er
nach kurzem Aufenthalt uns wieder verlassen; Wien ist stolz
auf diesen österreichischen Künstler, aber Berlin besitzt ihn.
Seine Virtuosität kennen wir seit lange; sie hat alle nich
tigen Schlacken spurlos abgethan, geht so rein und voll
ständig in dem Kunst-Ideal auf, daß der Zuhörer auf alles
blos Technische vergißt und der Kritiker fast ungern davon
spricht. Größe und Adel, die bestimmenden Charakterzüge
seines Spieles, schließen bei Joachim weder die zärtlichste
Empfindung aus, noch den scherzenden Frohsinn; nur hält
er jene immer unberührt von Weichlichkeit, diesen von zu
dringlicher Koketterie. Jeder Tondichtung gibt Joachim ihr
volles Recht, ihre Eigenthümlichkeit, und dennoch fühlt man,
daß er, der Spieler, überall er selbst und sich treu geblieben
ist. Das gibt seiner Kunst die überzeugende Kraft, den Aus
druck von Wahrheit und Verläßlichkeit; man glaubt und
vertraut ihm, indem man ihm lauscht. Er spielt nicht blos
wie ein großer Geiger, er spielt wie ein treuer Freund, wie
ein vortrefflicher Mensch. Das Elementarische, Dämonische
einer ungezügelten Subjectivität, wie es in Liszt, in Paganini
so berauschend wirkte, steht seiner Natur fern. Joachim’s
gleichmäßige Wärme wirkt minder erregend für den Moment,
aber reiner und nachhaltiger. Wol sind sie hinreißend im
Leben und in der Kunst, die „unberechenbaren Charaktere“,
mit ihrem entzückenden Liebreiz und ihren grausamen Launen
— wir bluten unter ihrem Zauber. Bei Joachim aber fühlen
wir uns sicher, geborgen; er schlägt keine Wunden, er heilt
sie, oder macht es uns doch glauben, so lange er spielt. Wer
hat nicht diesen Eindruck, wenn Joachim das Adagio
aus Spohr’s E-moll-Concert vorträgt? Wie schön ent
fesselt er die schwärmerische Empfindung dieser Elegie und
hält sie doch mit starkem Geist zusammen, daß sie nicht
überströme. In solchen Stimmungen zieht sein Gesang
wie ein weißer Schwan über den stillen Wasserspiegel.
Es war im fünften Philharmonie-Concerte, wo das Spohr’sche
Violin-Concert zur Aufführung kam. Wir danken es Joachim,
daß Spohr, der bei all seiner Einseitigkeit ein echter und
eigenthümlicher Meister bleibt, doch nicht gänzlich vergessen
wird. Joachim’s Ton klang unvergleichlich süß, wenngleich
nicht so groß und majestätisch wie vor einem Decennium,
wo ihn die bessere Akustik des Redoutensaales begünstigte.
Auch einige kleine Unreinheiten in den Bravourstellen des
ersten Satzes machten sich bemerkbar, ohne daß sie uns
ernstlich gestört hätten. Mit besonderer Freude lasen wir im
Programm ein „Notturno“ von Joachim angezeigt; ist doch
der einzige Vorwurf, den wir ihm je machten, sein seltenes
Hervortreten als Componist. Joachim scheint schwer zu pro
duciren, wenigstens schwer befriedigt, und doch seufzen Spie
ler und Hörer nach neuen Violin-Compositionen, wie das
„Ungarische Concert“. Ein warmer Verehrer dieser glänzen
den Tondichtung, bin ich doch ziemlich kalt geblieben bei
Joachim’s neuem „Notturno“. Es fehlen ihm die plastisch
hervortretenden, die entscheidenden Melodien; selbst die Stim
mung des Ganzen will sich dem Hörer nicht recht mitthei
len. Das Stück klingt wie die improvisirte Rede eines geist
reichen Mannes, der nichts Banales sagen will und doch
momentan etwas mißlaunig und zerstreut ist. Sicher würde
das Notturno durch eine zweite Aufführung gewinnen, wir
aber noch mehr durch einige neue Werke von Joachim. In
demselben Concerte sang Frau Amalie Joachim die be
kannte Rache-Arie der Dejanira aus Händel’s „Herakles“,
eine der dramatisch prägnantesten und leidenschaftlichsten die
ses Meisters, stylvoll und technisch meisterhaft. Die (nur zu oft
gehörte) „Euryanthe“-Ouvertüre von Weber und Schumann’s
reizende „Sinfonetta“ (Ouvertüre, Scherzo und Finale) bil
deten die orchestralen Pfeiler dieses glänzenden Concertes.
Einen intimeren Charakter trug das Abendconcert,
welches Joachim mit seiner Gattin, von Brahms
unterstützt, im kleinen Musikvereinssaale gab. Das Zu
sammenwirken der so engverbundenen drei Freunde verlieh
diesem Musikabend einen ganz eigenen, familienhaften Reiz.
Das Programm war reichlich, fast zu reichlich ausgestattet;
am leichtesten hätten wir daraus die Bach’sche E-dur-Sonate
für Violine und Clavier entbehrt. Als Anfangsnummer
zumal haben ähnliche strenge Compositionen den Nachtheil,
das Publicum nicht in die rechte Stimmung kommen zu
lassen; in die Mitte genommen, zwischen anderen Stücken,
wirken sie besser. Obendrein spielte Joachim noch ein an
deres Bach’sches Violinsolo und zwei Compositionen älterer
Meister, Tartini und Leclair. Die mächtigen poly
phonen Gestalten der Bach’schen Musik klangen wie in Stein
gehauen, jeder Ton bestimmt und kraftvoll, scheinbar für die
Ewigkeit gespielt. Doppelt reizend wirkte darauf das mun
tere, volksthümliche Treiben in Leclair’s „Tambourin“. Den
stürmischesten Beifall erregten die „Ungarischen Tänze“ von
Brahms, von Joachim für die Geige übertragen. Brahms
hat diese Melodien aus dem Zigeuner-Orchester, dessen
Hauptfactor ja die Geige ist, geistvoll und eigenthümlich für
das Clavier bearbeitet; von diesem wieder für die Violine
umgearbeitet, klingen sie wie eine Rückübersetzung ins Ori
ginal, und eine solche bleibt in der Regel immer unvoll
ständig. So effectvoll die „Ungarischen Tänze“ unter
Joachim’s Bogen klangen, wir ziehen doch den Brahms’schen
Claviersatz vor. Einen unvergleichlichen Genuß gewährte
Beethoven’s C-dur-Quartett (Op. 59), das Joachim, als
Primspieler, mit der ganzen Fülle seines Geistes und Ge
müthes durchdrang. Hellmesberger stand ihm als
Violaspieler ebenbürtig zur Seite und wurde von Hell
mesberger Sohn und Röver vortrefflich unterstützt.
Zwischen den Instrumentalstücken erklang eine Anzahl
Lieder, ebenso vorzüglich ausgewählt wie gesungen von Frau
Joachim; zuerst Schubert’s „Suleika“ und Schu
mann’s „Sturmnacht“, sodann drei Lieder von Brahms:
„Ewige Liebe“, überaus stimmungsvoll und tief empfunden;
„Sandmännchen“, ein reizendes Kinderlied, dem man den
starken Anklang an Margarethens Lied in der „Weißen
Frau“ gern nachsieht; endlich „Auf dem See“, das, musika
lisch minder hervorragend, für die Hauptstelle des Gedichtes:
„Glück und Frieden magst du saugen“ nicht den vollen
natürlichen Ausdruck findet. In derselben Sammlung (Op. 59)
findet sich eine wundervolle Composition des schönen Gedichtes
von Mörike: „Rosenzeit, wie schnell vorbei.“ Bei diesem
Anlasse kann ich mir eine Erwähnung des neuesten Lieder
heftes von Brahms (Op. 63, bei Peters) nicht versagen,
dessen erstes Stück: „Frühlingstrost“, vielleicht das schönste
Lied ist, das Brahms geschrieben, und jedenfalls eines der
herrlichsten seit Schubert. Im Liede erscheint mir im Allge
meinen Brahms’ Talent nicht in seiner vollen Entfal
tung, ich möchte sagen, nicht in seiner wahren Heimat. Er
braucht große Formen, um seine eminente Combinations
kunst zu entwickeln. Durch den Reiz und die Wahrheit einer
einfachen Melodie zu wirken, ist ihm nur ausnahmsweise
gegeben. Die Lieder von Brahms haben durchaus eine sinnige,
vornehme Auffassung, energische Declamation und geistreiche
Harmonisirung, doch nur ausnahmsweise jene ursprünglichen,
bescheideneren Eigenschaften, welche wir gerade im Liede nur
schwer entbehren. Vielleicht stehe ich noch zu altmodisch unter
dem Einflusse Schubert’s, der mir im Liede von Brahms
ebensowenig erreicht scheint, als er seinerseits diesen erreicht
in combinatorischer Kunst in großen Formen. Der neueste
Liederstyl, wie ihn hauptsächlich Brahms und Robert Franz
repräsentiren, klingt für meine Empfindung zu absichtlich, zu
überladen und von Reflexion durchkältet. Vornehmlich drei
charakteristische Elemente der modernsten deutschen Musik
verleihen dem Liede einen leidigen Ausdruck von Gesuchtheit
und Anstrengung: die Synkope, die Häufung von Vorhälten
und Dissonanzen, endlich die überwuchernde Clavierbegleitung,
deren schwierige Technik und fast absolute Selbstständigkeit
heutzutage das Selbst-Accompagniren nahezu unmöglich
macht. Das Alles kann sehr schön sein, ist es auch häufig,
aber liedmäßig ist es nicht mehr. Unter den Händen zahl
reicher Brahms-Nachahmer von zweifelhaftem Talent wird
es grauenhaft. Da ich nun, wie es ehrlich gestanden sein
wollte, nicht ohne Aengstlichkeit neue Liederhefte aufschlage, ist
meine Freude über einen kostbaren Fund um so reiner und
lebhafter. Und die genannten neuesten Lieder von Brahms,
zu welchen ich noch ganz besonders (aus Op. 63) „O wüßt’
ich doch den Weg zurück“ und „Ich sah als Knabe Blumen
blüh’n“ zähle, gehören zu den lyrischen Kostbarkeiten ersten
Ranges. Ich mache alle die Sänger, welche so beweglich nach
guten neuen Liedern seufzen und doch lieber die schlechten
singen, darauf aufmerksam.
Im Hofoperntheater hörten wir Pauline Lucca als
Mignon, eine geistvolle, höchst anziehende Leistung. Gleich
ihr erstes Auftreten charakterisirte trefflich das Fremdartige,
Schüchtern-Verwilderte dieses poetischen Wesens. Diese Auf
fassung hielt die Künstlerin fest durch die ganze Oper; nur
im letzten Act erschien sie schön gemildert und verklärt durch
die Liebe Wilhelm Meister’s. Die einzige Scene, wo der
Componist dem Theater-Effect zuliebe Mignon aus der Rolle
fallen läßt — die Styrienne im zweiten Act — mäßigte die
Lucca nach Möglichkeit und verzichtete auf das kokette Zün
geln und Minaudiren, womit andere Darstellerinnen in diesen
Scenen Effect machen. Sie singt die Styrienne nach einer
späteren glücklich erweiterten und bereicherten Umarbeitung
des Componisten; nur die ganz charakterwidrigen Coloratur-
Passagen am Schlusse sollte Mignon weglassen. Eine andere
Variante, welche Frau Lucca von der Berliner Bühne
hieher verpflanzt hat, vermögen wir nicht zu billigen: den
tragischen Schluß, welchen der Componist aus Rücksicht für
die Goethe-Pietät in Deutschland nachgeliefert hat. Nach
dieser „Version allemande“ bleibt das ganze Finale (mit
dem Wiedererscheinen Philinens und Friedrich’s) weg, Mig
non sinkt, nachdem sie ihren Vater und ihr Heimatsland
erkannt hat, leblos nieder. Schon bei Gelegenheit der ersten
Aufführung der „Mignon“ suchte ich nachzuweisen, wie
schlecht dieser vom Zaun gerissene tragische Ausgang zu der
ganzen Anlage und Stimmung der Oper passe. Der wirk
liche Eindruck hat mich in dieser Ansicht nur bekräftigt.
Wenn Mignon nach dem Liebesduett im dritten Act mit
aller Lungenkraft noch eine Strophe von „Kennst du das Land?“
absingt und hierauf plötzlich todt zu Boden fällt, so entsteht
im Zuschauer nur eine Art Verwunderung, was ihr denn
eigentlich geschehen sei? Frau Lucca sang die Rolle höchst
ausdrucksvoll und spielte die bewegtesten Scenen (nament
lich die Eifersuchtsscene und den Abschied von Wilhelm im
zweiten Acte) mit ergreifender Wahrheit. Leider war es
mir nicht vergönnt, Frau Lucca als Recha in der „Jüdin“
zu sehen, eine Leistung, die ganz besonders gerühmt wird.
„Mignon“ ist als eine der besten Vorstellungen des Hof
operntheaters bekannt; insbesondere erfreuen sich Beck’s
vortrefflicher Lothario und Walter’s gemüthlicher Wil
helm Meister längst der allgemeinen Anerkennung. Die
Philine gab zum erstenmal Fräulein Tagliana, in Er
scheinung, Spiel und Gesang durchaus erfreulich und ihre
Vorgängerin, Frau Koch, entschieden überragend. Sie mil
derte das Lorettenhafte dieses Charakters durch vornehme
Grazie und bewältigte vollkommen die großen Schwierigkei
ten des Bravourgesanges, in welchem besonders ihr reines
Staccato und ihre vom dreigestrichenen Es gleichmäßig her
abperlende Scala Anerkennung verdienten. Am Schluß
ihrer Bravour-Polacca begegnete ihr das Mißgeschick, auf
einem freiwillig angebrachten dreigestrichenen F auszugleiten,
was bekanntlich auch den berühmtesten Künstlerinnen, nament
lich in so schwindelnder Höhe, manchmal passirt. Um den
Total-Eindruck der Rolle beim Publicum war es damit ge
schehen; umsoweniger darf die Kritik jenem verunglückten F eine
ganze Leistung opfern, der so viel Gutes nachzurühmen war.
Im Theater an der Wien hat Offenbach’s
neueste Operette: „Frau Herzog“ („Madame l’Archiduc“)
entschiedenes Glück gemacht. Die Handlung macht anfangs
Miene, sich recht hübsch zu exponiren, fällt aber mit dem
Erscheinen des Herzogs im zweiten Acte ins abgeschmackt
Possenhafte. Gegen diesen Souverän, welcher sich als ein
„Original“ rühmt, während er einfach ein Cretin ist, er
scheint der Fürst Casimir in der „Prinzessin von Trapezunt“
wie ein zweiter Titus. An witzigen Einfällen, politischen
namentlich, fehlt es übrigens nicht, namentlich ist die Er
nennung der vier Verschworenen zu Ministern und die Ver
wandlung der abgesetzten vier Minister in Verschworene von
drastischer Komik. Die Partitur trägt durchaus das unver
kennbar Offenbach’sche Cachet; daß sie nach einer mehr
als zwanzigjährigen beispiellosen Productivität dieses Com
ponisten nicht mehr den früheren Erfindungsreichthum auf
weist und manche Reminiscenz enthält, versteht sich wol von
selbst. In mehr als Einer Nummer blüht aber das eminente
Talent Offenbach’s ungeschwächt auf; dahin gehört das
Quartett der Verschworenen, die reizende Cantilene „Tais-
toil“ im zweiten Finale, das Liebesduett zwischen Marietta
und Fortunat, dann das vortreffliche Ensemble: „Pas de
scandale ici“ im dritten Acte und manches Andere. [???]
das ABC-Sextett wird — wenn man sich über das kin
dische dieses Alphabet-Absingens hinwegsetzt — als ein
äußerst geschickt componirtes Stück hervorzuheben sein. Fräu
lein Geistinger hebt es obendrein durch eine Vortrags
kunst, deren Feinheit und graziöse Laune in dieser Scene
kaum zu übertreffen ist. Die übrigen Darsteller stehen zwar
nicht auf gleicher Höhe, doch macht die ganze Aufführung
des splendid ausgestatteten närrischen Stückes einen überaus
heiteren Eindruck.