Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3779. Wien, Donnerstag, den 4. März 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3779. Wien, Donnerstag, den 4. März 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04.03.1875
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Concerte. (Concert von Richard Wagner. — Gesellschafts-Concert. — Brahms’ „Deutsches Requiem“.)

Ed. H. In der „Großen Musik-Aufführung“, welche Richard Wagner zum Vortheil seines Bayreuther Theaters persönlich dirigirte, hörten wir außer dem bekannten „Kaiser marsch“ drei Bruchstücke aus der „Götterdämmerung“. Ein bedenkliches Unternehmen, dergleichen Fragmente, nicht nur herausgerissen aus einem uns gänzlich unbekannten Zusam menhang, sondern überdies entkleidet ihrer scenischen An schaulichkeit, im Concert aufzuführen. Es widerspricht oben drein schnurstracks dem oft proclamirten obersten Grundsatz der Wagner’schen Kunstphilosophie. Nach Heine’s Ver sicherung gibt es jedoch zwei Verlegenheiten, in welchen keine Philosophie hilft: Liebe und Geld. Die Liebe — wahr scheinlich selbst bei Wagner keine unendliche Melodie — dürfte ihn kaum mehr plagen; hingegen scheint der „Nibe lungen“ Geldnoth unendlich, und so muß wol der Pontifex maximus durch persönliche Intervention herbeischaffen, was an Peterspfennigen zu wenig eingeht. Wir sind nicht so kindisch, Wagner diese ästhetische Inconsequenz zum Vorwurf zu machen; er hat Recht, das Eisen der Volksgunst zu schmieden, so lange es glüht. Und welch einladende Tem peratur gerade Wien in diesem Punkte erreicht hat, beweist das enorme finanzielle Erträgniß des jüngsten Wagner-Concerts.

Die „Götterdämmerung“ bildet bekanntlich das letzte Stück des durch vier Abende spielenden Musikdramas „Der Ring des Nibelungen“. Ein so außerordentliches Unterneh men wie dieses Bayreuther, das sich ja auf den Standpunkt des Niedagewesenen stellt, weist eigentlich jeden vorhandenen Maßstab der Beurtheilung zurück. Da jedoch die Form der dramatischen Trilogie sowol in der altgriechischen als in der modernen deutschen Literatur vorkommt, so drängt sich die Analogie unwillkürlich auf und für uns zugleich das treffende Wort Grillparzer’s, womit er (in der Selbst biographie) seine Gestaltung des „Medea“-Stoffes tadelt.

„Die Trilogie oder überhaupt die Behandlung eines dra matischen Stoffes in mehreren Theilen,“ sagt Grillparzer, „ist für sich eine schlechte Form. Das Drama ist immer Gegenwart, es muß Alles, was zur Handlung gehört, in sich enthalten.“ Fehlerhaft nennt er deßhalb auch die Form von Schiller’s „Wallenstein“, unbeschadet der Vortrefflichkeit dieses Meisterwerks. Wird sich das nicht an Wagner’s „Nibe lungenring“ in noch höherem Grade erwahren? Wie, nach Grillparzer, „Wallenstein’s Lager“ völlig überflüssig ist und Die Piccolomini“ nur etwas sind, weil „Wallenstein’s Toddarauf folgt, so ist das „Rheingold“ überflüssig, und die zwei folgenden Stücke („Walküre“ und „Siegfried“) mit ihrem entsetzlich dürftigen Inhalt sind nur etwas, weil die reich bewegte Handlung der „Götterdämmerung“ darauf folgt. Ich spreche hier nur von dem Dramatischen, abgesehen von der Musik, die sich ja in der „Walküre“ hoch über „Rhein gold“ und „Siegfried“ erhebt. Auf die unerträgliche Dehnung und Stoffarmuth der vorangehenden Theile muß die „Götter dämmerung“, welche an Handlung fast doppelt so reich ist, als alles Frühere zusammengenommen, dem Zuschauer wie ein Labsal erscheinen, falls nach dem aufreibenden Genuß der ersten drei Abende überhaupt noch Jemand ein anderes Verlangen haben sollte, als sich hinlegen und sterben. Wenn man bedenkt, daß die Hörer durch vier lange Abende nur dem angespanntesten declamatorischen Pathos und dem be rauschendsten Orchesterpomp preisgegeben sind, ohne mehr stimmige Ensembles und Chöre, ja in den beiden ersten Acten des „Siegfried“ sogar ohne Frauenstimmen, dann wird man unsere Besorgniß nicht leichtfertig schelten.

Das Wagner-Concert brachte zuerst das Orchester vorspiel zur „Götterdämmerung“ (die drei Nornen auf dem Walkürenfels das Seil des Schicksals flechtend) — ein düsteres Nachtstück, das Wagner’s ungemeines Talent für musikalische Decorations-Malerei neuerdings bekundet. Der Abschied zwischen Siegfried und Brunhilde schließt sich an. Betrachtet man einzelne Phrasen dieses großen Duetts für sich, losgelöst, so findet man sie voll Prägnanz und Leiden schaft; im Zusammenhange gleicht aber dieser sich fortwäh rend zur Ekstase aufstachelnde Declamations-Gesang einer

Reihe von ausdrucksvollen Interjectionen, die keine zusam menhängende Rede bilden. Anfangs lebhaft angeregt, verfällt der Hörer immer mehr einer Müdigkeit, die schließlich in völlige Theilnahmslosigkeit übergeht; er vermag mit bestem Willen nicht mehr aufmerksam zu folgen und wird zerstreut. Wohlthuend wirkt nach dem Duett das Orchesternachspiel mit der Hornfanfare des davonreitenden Siegfried; das Stück hat am meisten musikalischen Reiz und Zusammenhang, namentlich durch den hübschen canonischen und contrapunkti schen Zierrath, der jenen lustigen Hornruf umrankt. Das nächste Bruchstück war „Siegfried’s Tod“. Was der Ster bende mit erstaunlicher Lungenkraft singt, erscheint fast über flüssig in dem blendenden Gewoge des Orchesters, das hier mit vier Harfen, Posaunen, Pauken und einschneidendsten hohen Geigentönen den acutesten Nervenreiz hervor ruft. Bedeutender und ergreifender als Siegfried’s Sterbegesang ist der Trauermarsch, der nun um den Helden angestimmt wird; hier ist mehr als bloßer Pomp. Das Con cert schloß mit dem dritten und größten Fragment: Brun hildens Monolog an der Leiche Siegfried’s. Sie schickt die Raben heim und schleudert die Fackel in den Scheiterhaufen. Wie das Krächzen und Auffliegen der Raben durch gestopfte Trompetentöne und schwirrende Figuration aller Geigen ver sinnlicht ist, dann das Prasseln des Feuers durch raffinir teste Behandlung der Blech- und Schlag-Instrumente, das gehört zu den auserlesensten Kunststücken des in solchen Ma lereien unübertrefflichen Meisters. Brunhildens Gesang stei gert sich zur äußersten Exaltation; immer in der höchsten Tonlage und gewaltsamsten Anstrengung muß ihre Stimme den Orcan des aufgewühlten Orchesters übertönen. Einen Augenblick lang schweigt das Orchester zu einer zarten Stelle Brunhildens, und wir sind gerührt wie von einer über irdischen Offenbarung. Ich mußte an Kaulbach denken welcher bei der ersten Aufführung der „Meistersinger“ in München den ganzen Abend schweigend dasaß, bis im dritten Acte die zwei langausgehaltenen C-dur-Accorde vor Wal ther’s Preislied kamen. „Das ist schön!“ rief er warm und ernsthaft aus. Und nun, nach Brunhildens Tod, folgt die Götterdämmerung, das Weltenende; krachend entfesselt Wag

ner alle Dämonen des Orchesters und zwingt uns dergestalt nieder, daß wir kaum mehr die Technik zu bewundern ver mögen, mit der das Alles gemacht ist.

Kritische Anmaßung wäre es, also herausgerissene Sce nen aus einer Concert-Aufführung und nach einmaligem Hören beurtheilen zu wollen. Nur ganz allgemein und subjectiv läßt sich solch ein erster Eindruck schildern. Die Bruchstücke aus der „Götterdämmerung“ machten mir einen ungewöhn lichen, geistig anregenden und sinnlich blendenden Eindruck, aber keinen tiefen und nachhaltigen. Diese Musik wirkt im günstigsten Falle berückend wie ein Zauber, aber nicht be glückend wie ein Kunstwerk. Auf der Bühne rückt das Alles natürlich in ein ganz anderes Licht, in eine andere Perspec tive; die Musik, die sich uns im Concertsaale als Haupt sache, ja als alleinige gegenüberstellt, wird im Theater, nach Wagner’s Absicht, nur Ein Effectmittel unter vielen. Aus diesem Gesichtspunkte müssen wir der Composition eine unvergleichliche Gegenständlichkeit und blendende Farbengluth nachrühmen. Man braucht nur das Textbuch zu lesen, um Wagner’s malerisches Auge und seinen genialen Sinn für den Theater-Effect zu bewundern. Wie ist das Alles nicht nur ausgedacht, sondern leibhaftig angeschaut ! Wie Siegfried durch die Flammen gegen den Rhein reitet, nach dem Ab schied von Brunhilde, wie diese bei Siegfried’s Leichenfeier sich auf das Roß schwingt und in den brennenden Scheiterhaufen sprengt — das sind Bilder, denen nichts Aehnliches auf der Bühne vorangegangen ist. Dieser Mission entsprechend ist Wagner’s Musik vorzugsweise malend, decorativ, das Orchester in seinem höchsten Klangraffinement die Hauptsache; die Sing stimmen wechseln zwischen monotoner Declamation und Ex plosionen maßloser Leidenschaft. Diese stammelnde Brunst inmitten des Gewoges von betäubenden und nervenaufrei zenden Instrumental-Effecten vermag man nur kurze Zeit ohne Erschlaffung anzuhören. Die meisten Hörer fühlten sich schon von den drei Bruchstücken der „Götterdämme rung“ mehr oder minder ermattet; wer vermöchte vier Abende hinter einander diesen Sturm des Außersichseins auszuhalten? Die Diction der „Götterdämmerung“ ist weniger gewaltsam und ungeschickt als im „Rheingold“, obwol in ihrer alterthümelnden Ziererei noch immer ver

schroben genug. Wendungen wie „Ich geize ihn“, „Mich hungert sein“, „Schweigt eures Jammers jauchzenden Schwall“ (Accusativ) und andere streifen ans Komische. Den musikalischen Styl der „Götterdämmerung“ kennt man aus den früheren Theilen, er ist vollständig in Manier erstarrt. Wagner ist Manierist, ein geistvoller und genialer, aber doch ein Manierist. Seine Manier des Declamirens, Modulirens, Harmonisirens nöthigt er jeglichem Stoff auf. In diesem Styl vermöchte er wol ohne viel Kopfzerbrechen und ohne übermäßige Begeisterung noch zehn Opern zu componiren. Obwol in dieser Musik die leidenschaftlichste Exaltation sich noch nicht zu genügen scheint wird es uns doch schwer, überall an ihre Wahrheit und innere Nö thigung zu glauben. Sie erinnert an manche Poesien von Victor Hugo, Ausgeburten innerer Kälte, welche sich glühend und begeistert stellen. Die Musik zur „Götter dämmerung“ charakterisirt ihren Autor neuerdings als eine glänzende Specialität, eine Specialität mehr neben als in der Musik. Es ist undenkbar, daß diese Methode, wie Wagner meint, fortan die alleingiltige des Opernstyls sein werde, „das Kunstwerk der Zukunft“ schlechtweg. Ist eine Kunst in der Periode äußersten Luxurirens angelangt, dann befindet sie sich im Niedergang, nicht im Aufsteigen. Wag ner’s Opernstyl bewegt sich nur mehr in Superlativen; kein Superlativ hat aber eine Zukunft, er ist das Ende, nicht der Anfang. Richard Wagner hat sich, vom „Lohengrin“ ab wärts, einen neuen Weg gebahnt, mit Lebensgefahr, aber dieser Weg ist nur für ihn; wer ihm nachgehen will, bricht den Hals, und das Publicum wird diesem Unfall gleichgiltig zusehen.

Von der glänzenden äußeren Physiognomie des Wagner- Concertes mit seinen Lorbeerkränzen, Huldigungen und Ab schiedsreden hat ein anderer Referent bereits erzählt. Der Beifall war allerdings sehr stürmisch und anhaltend, aber er kam nicht augenblicklich; er flog nicht wie der Blitz aus der entzündeten Pulvertonne, sondern wurde erst nach einigen Secunden als prächtiges Feuerwerk abgebrannt. Dieser Unter schied zwischen dem jüngsten und den früheren Wagner- Concerten („Walküre“, „Feuerzauber“) wurde gleichmäßig und unabhängig von verschiedenen Zuhörern beobachtet. Die

Aufführung dieser die höchsten Anforderungen stellenden Compositionen gelang, unter Wagner’s eminenter Leitung, ganz bewunderungswürdig. Eine in jedem Sinne heroische Leistung war die Brunhilde der Frau Materna, welche auf diesem Felde kaum eine Rivalin finden dürfte. Der Tenorist Glatz (vom Pester Theater) stand als Siegfried entschieden hinter ihr zurück. Seine Stimme klingt jung und kräftig, aber etwas dumpf in der Tiefe und Mittellage, auch entbehrt sie noch zur Stunde des feineren Schliffes.

Das letzte Gesellschafts-Concert begann mit zwei sehr entbehrlichen Nummern: einem von B. Scholz matt instrumentirten Bach’schen Präludium und der bekannten Bravour-Arie aus Mozart’s Cantate „II Davidde peni tente“. So sehr auch Frau Wilt damit glänzt, wir bitten doch, dieses unerträglich zopfige Stück endlich aus dem Repertoire zu streichen, und zwar aus Pietät für Mozart, nicht aus Mangel daran. Um so dankbarer begrüßten wir die dritte, größte Nummer des Concerts: das „Deutsche Requiem“ von Brahms, das einen großartigen Erfolg feierte. Ich mußte der ersten, bruchstückweisen Aufführung dieses Werkes im Jahre 1867 gedenken und der Opposition, die es im Publicum wie in der Kritik fand. Damals war es namentlich der lange Orgelpunkt im dritten Satz, der, von einem Paukenwütherich erbarmungslos gehämmert, das Publicum verdroß und eine Anzahl grauer Fanatiker zu impertinentem Zischen begeisterte. „Brahms,“ so schrieb ich damals an gleicher Stelle, „braucht sich darob nicht zu grämen. In wenigen Jahren wird das Publicum sein Requiem mit ungetheilter Würdigung aufnehmen, und wer den selbst die Concertdiener vom Hörensagen hinlänglichen Respect dafür haben, um etwa aufzischende musikalische Vipern vor die Thür zu setzen.“ Das war sehr zuversichtlich gesprochen, aber der Erfolg hat mir Recht gegeben. Schon bei der ersten vollständigen Aufführung vor vier Jahren fand das „Deutsche Requiem“ eine liebevolle, un getrübte Aufnahme, am letzten Sonntag erlebte es eine enthusiastische. Selten habe ich ein so andächtig lauschendes, so tief ergriffenes Auditorium gesehen. Welch seltsames Zu sammentreffen, daß knapp nacheinander, in demselben Saale, Wagner’sGötterdämmerung“ und BrahmsDeutsches

Requiem gespielt wurden; die Hauptwerke der beiden her vorragendsten Tondichter der Gegenwart! Größere Gegen sätze in der Musik zweier Zeitgenossen gleicher Nation sind kaum denkbar. In BrahmsRequiem sehen wir mit den reinsten Kunstmitteln das höchste Ziel erreicht, Wärme und Tiefe des Gemüths bei vollendeter technischer Meisterschaft, nichts sinnlich blendend und doch Alles so tief ergreifend; keine neuen Orchester-Effecte, aber neue, große Gedanken und bei allem Reichthum, aller Originalität die edelste Natürlichkeit und Einfachheit. Bei Wagner jeder Satz in Manier getaucht, bei Brahms kein einziger. Wagner fängt auf den Trümmern aller früheren Musik die seinige ganz neu an; Brahms glaubt anständiger Vorfahren, wie Bach und Beethoven, sich nicht schämen zu sollen. Während die Musik bei Wagner die Innerlichkeit ihrer Herrschaft aufgegeben hat, um Malerei zu werden, bleibt sie bei Brahms die eigenste Sprache eines starken Gemüths und zeigt uns, wie eine Tondichtung alle Herzen er schüttern kann, ohne die Grundfesten der Musik zu erschüttern. Man darf es heute ruhig aussprechen, daß seit Bach’sH-moll-Messe und Beethoven’s Missa solennis nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiete sich neben BrahmsDeutsches Requiemzu stellen vermag. Ja, unserem Herzen steht letzteres noch näher, schon deßhalb, weil es jedes confessionelle Kleid, jede kirchliche Convenienz abstreift, statt des lateinischen Ritual textes deutsche Bibelworte wählt, und zwar so wählt, daß die eigenste Natur der Musik und damit zugleich das Ge müth des Hörers in intimere Mitwirkung gezogen wird. Der Glücklichste, der nie einen Verlust erfahren, wird das Deutsche Requiem“ mit jener inneren Seligkeit genießen, welche nur die Schönheit gewährt. Wer hingegen ein theu res Wesen betrauert, der vermesse sich nicht, bei den über waltigend rührenden Klängen der Sopran-Arie trockenen Auges zu bleiben. Aber er wird erfahren, wie verklärend und stärkend der reinste Trost aus dieser Musik fließt. Brahms soll das Requiem, selbst in tiefster Gemüthsbewegung, nach dem Tode seiner zärtlich geliebten Mutter geschrieben haben. Ein schöneres Denkmal hat kein Sohn seiner Mutter gesetzt — und sich selbst.