Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3794. Wien, Freitag, den 19. März 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3794. Wien, Freitag, den 19. März 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 19.03.1875
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Concerte.

Ed. H. „Am obern Langbathsee liegt jetzt noch tiefer Schnee“ — so beginnt ein neuer Chor von Engels berg, dessen ebenso reizende als rührende Melodie mich seit dem letzten Sonntag mit holder Zudringlichkeit verfolgt. Von allen Novitäten, welche unser Männergesang-Verein an jenem Sonntag brachte, war dies die einzig erquickende; ein bescheidenes Blümchen, aber von echtem frühlingsfrischen Duft, als Chorsatz ein Muster für künstlerische Gestaltung österreichisch nationaler Anklänge. Ein anderer Chor von Engelsberg, „Vom Königssee“, gaukelt mit leichtem Scherz auf der Oberfläche. Der Akademische Gesangverein machte kürzlich Furore mit einer dritten Novität desselben Compo nisten, „Annabell Lee“. Das Gedicht von Edgar Poe er innert in seinem rührenden volksthümlichen Ton an Robert Burns, und diesen Ton hat Engelsberg in seiner Musik mit feinster Anempfindung getroffen. „Annabell Lee“ und der Langbathsee“ zählen zu den besten Chören dieses melodien reichen, immer liebenswürdigen und herzlichen Componisten. Von ihm abgesehen, bot das jüngste Concert des Männer gesang-Vereins wenig Ansprechendes. Kreuzer’sFrüh lingsnahen“ und Schubert’sNachthelle“ sind stark ab gesungen; weniger „Grab und Mond“, ein in der Form ungemein melodisches, aber inhaltlich etwas unklares Gedicht von J. G. Seidl, das Schubert mit einer wahrhaft nieder drückenden Begräbnißstimmung erfüllt hat. Lachner’sJung Volker“ weiß dem charakteristischen flotten Humor des Gedichtes musikalisch nicht beizukommen und füllt nur dessen Formen mit guter Capellmeister-Musik. Einen geradezu traurigen Ein druck machen drei Jagdlieder (aus Laube’sJagdbre vier“) von Robert Schumann. Sie stammen aus Schumann’s letzter Zeit und verrathen einen vollständigen Verfall dieser früher so reichen, blühenden Phantasie. Der

erste und dritte dieser Jagdchöre neigen zum gewöhnlichen Liedertafelstyl, ohne die sinnliche Frische und Popularität ähnlicher Alltagsmusiken zu erreichen. Eigenthümlicher, na mentlich harmonisch interessanter klingt der zweite Chor: Früh steht der Jäger auf.“ Aber welches Vergreifen des Gedichtes! Die fröhlich lauernde Erwartung des früh Morgens ausziehenden Waidmanns taucht Schumann in eine unbegreiflich schauerliche Leichenfarbe; man glaubt, der Jäger werde früh Morgens gehenkt. Mit einer fast ironi schen Nüchternheit und Impotenz hat Liszt ein „Lied der Begeisterung“, von Cornel Abranyi, componirt. „Was nützt mir Freundschaft, was Freiheit, was Lust — Wenn getrennt von der Begeisterung die Brust?“ Solche Postbüchel-Poesie muß allerdings jeden Tondichter eher entgeistern als begei stern. J. Hellmesberger (Vater) trug ein „Air“, von Sebastian Bach, so meisterhaft vor, daß wir ihm sein Arran gement der Gounod’schen „Cäcilien-Hymne“ für Violine, Clavier und Männerchor (letzterer betheiligt sich ganz zum Schluß mit einigem Blöcken ohne Worte) gerne nachsehen. Merkwürdigerweise kam in diesem Concert keine einzige Nummer zur Wiederholung; offenbar beeilten sich die Chor meister Weinwurm und Kremser, den Musikvereinssaal schnell zu räumen, welchen bereits die zu Wagner’s Nach mittags-Concert anrückenden Götterdämmerer drohend um standen.

Ein vollauf besuchtes, sehr aristokratisch garnirtes Con cert gab der k. k. Kammersänger Gustav Walter. Das plötzliche Auftauchen unseres Hofoperntenors unter den Con certgebern erregte mannichfaches Erstaunen; wir können es nur freudig begrüßen und billigen. Ist doch Walter auch auf der Bühne vorwiegend Lyriker und ohne Frage bedeu tender als Liedersänger, denn als dramatischer Künstler. Er handelte also artig und klug zugleich, indem er sein bestes Licht nicht länger unter den Scheffel eines exclusiven Privatcirkels stellte, sondern damit einmal ins große Publicum hineinleuchtete. Mit der ihm eigenen Zartheit und Empfindung sang Herr Wal

ter vier von Schubert’s „Müllerliedern“, zwei der köstlichsten Lieder von Schumann („Nußbaum“ und „Märzveilchen“), endlich als interessante Novität Gounod’s etwas flache, aber dankbar und elegant gesetzte „Maid von Athen“ (nach Byron’s Gedicht). Besonderen Dank zollen wir Herrn Wal ter für die Wahl jener drei neuen Lieder aus Op. 36 von Brahms, auf deren Schönheit wir jüngst an dieser Stelle aufmerksam machten. Herr Anton Door sorgte durch eine Reihe von Claviervorträgen für die nöthige Abwechslung in diesem Liederconcerte. Schubert’sD-dur-Sonate (Op. 53) machte nur schwachen Eindruck auf das große Auditorium. Sie ist von sprudelnder Jugendfrische, aber sehr ungleich in den Ideen wie in der Ausführung; Eigenthümliches, Tief poetisches steht hier neben alltäglichen, theilweise veralteten Redensarten; viele geniale Blitze verlöschen nur zu schnell in der breit zerflatternden Form, während manches unwichtige Motiv wieder mit zäher Hartnäckigkeit ausgesponnen wird. An kleinen Charakterstücken von Theodor Kirchner gab Herr Door nicht weniger als zwölf auf Einem Sitz — jeden falls zu viel. Die ersten Clavier-Compositionen Kirchner’s erreg ten bekanntlich viel Aufsehen durch ihren poetischen Duft und ihren an Schumann erinnernden Klangreiz; sie zählen zu dem Besten dieser Art, vor Allem die „Zehn Clavier stücke“, Op. 2, und Manches aus den Albumblättern, Op. 7. In neuester Zeit auffallend fruchtbar geworden, hat Kirch ner doch kaum eine weitere Entwicklung seines Talents er fahren. Nicht nur erweist sich (wie sein Streichquartett dar thut) sein zarter Miniaturenpinsel als zu schwach für Aus führung größerer Gemälde — eine Aehnlichkeit mit seinen Stylverwandten Henselt und Stephen Heller — auch auf seinem eigensten Feld, der intimen Stimmungsmalerei, hat sich Kirchner seither nicht übertroffen, kaum eingeholt. Herr Door, mit Recht hochgeschätzt als vortrefflicher Ton künstler und Lehrer, war an dem Walter-Abend offenbar schlecht disponirt. Eine nervöse Aufregung, wie sie manch mal sich seiner bemächtigt, ließ ihn auf Kosten der Deut

lichkeit wie der Reinheit viele Tempi überstürzen, z. B. das Allegro der Schubert’schen Sonate, und trieb ihn außer dem zu einem unschönen Forciren des Anschlages, das man chen poetischen Gedanken (wie das wundervolle Vorspiel zu Brahms’ „Frühlingstrost“) förmlich zermalmte.

In Herrn Alfred Grünfeld lernten wir einen sehr bedeutenden jungen Virtuosen kennen, einen Pianisten von schönem Anschlag, glänzender Bravour und ausdauernder Kraft. Im Octavenspiel erinnert er an Dreyschock. Sein Programm hätte interessanter zusammengestellt sein können, doch brachte es eine gelungene Novität in dem Duo für Clavier und Cello von Joseph Derffel. Wir sehen dem nächsten Concerte Grünfeld’s mit nicht gewöhnlichen Erwar tungen entgegen.

Anton Rubinstein mag nach Wien kommen, wann und so oft es ihm beliebt, ein gedrängt voller Saal ist ihm sicher. Auch am Dienstag Abends sah er sich hierin nicht getäuscht. Gespannt und in angenehmer Erregung eilen wir jederzeit in Rubinstein’s Concerte, jeder Vortrag des be rühmten Virtuosen interessirt uns lebhaft durch die erstaun liche Bravour seines Spieles und durch die bedeutende, kraftstrotzende Persönlichkeit des Spielers. Aber ganz gleich giltig bleibt es doch selbst bei Rubinstein nicht, was er vorträgt; das empfanden wir in seiner letzten Production. Selten hat er in einem so langen Concerte uns relativ so wenig Freude gemacht. Ein neues Clavierconcert in Es — er spielte nur eigene Compositionen — machte den Anfang. Die virtuose Technik feiert darin wahre Orgien, die Anforde rungen an Schnelligkeit, an Bravour und Ausdauer scheinen die Grenzen des Möglichen zu erreichen in diesen vollgriffigen Accor den im rasendsten Tempo, diesen stürmischen Octavengängen, diesen blitzartigen (selbst von Rubinstein manchmal fehl gegriffenen) Sprüngen. Ob man aber das Stück von irgend einem anderen guten Pianisten mit Vergnügen hören würde? Es ist gar so wenig Seele darin, und so viel Tumult. Der musikalische Gehalt dieser Composition wiegt gering, sie steht

an Reichthum und Originalität der Gedanken weit zurück hinter früheren Concerten Rubinstein’s. Hören wir das Es-dur-Concert von Rubinstein selbst, so staunen wir, wie Jemand das Alles mit nur zehn Fingern spielen könne — sehen wir es in Noten, Schwarz auf Weiß, so fragen wir, wie er manche Seite auch des Aufschreibens werth erachten konnte. Ein Clavierconcert darf der Virtuosität des Spielers vollste Entfaltung gönnen, ja es soll zugleich literarisch ein monumentales Zeugniß für die jeweilige Höhe der Clavier technik bilden. Allein wenn es nur eine höchstpersönliche Leistung repräsentirt, dann läuft es Gefahr, mit dieser glänzenden Persönlichkeit zugleich zu Grabe zu gehen. Immerhin wirkte diese im Ganzen unerquickliche Composition durch das colos sale Clavierspiel des Componisten. Dieser Reiz fiel hinweg bei der folgenden Nummer, einer neuen Orchester-Composi tion Rubinstein’s, welche er „Dramatische Symphonie“ be titelt. An was für einen dramatischen Vorgang Rubinstein gedacht haben mag bei dieser unabsehbar langen und unbe schreiblich gewaltsamen Symphonie, das wird wol Niemand auch nur annähernd errathen. Ein Programm als Orien tirungsplan, ja selbst eine einfache Aufschrift als Ariadne faden wäre erwünscht gewesen. Verschiedene nationale An klänge, zumeist ein Scherzo, lassen auf russische Begeben heiten schließen; vielleicht ist es die Geschichte des russischen Reiches von seinen Anfängen bis auf die neueste Zeit, was uns hier orchestermäßig erzählt wird. Wenigstens ist noch in keiner Symphonie so weites Steppengebiet durchmessen, so wildes Volk aufgewiegelt, so viel Blut vergossen worden. Wir sehen die hohen Gestalten russischer Helden und Herrscher vorüber sprengen, daneben kauern aber schmutzige Gesellen, die Brannt wein trinken und Unschlitt essen. Wir hören das chromatische Geheul der Wölfe im Ural, dazwischen das Geläute der Trauerglocken vom Kreml und den melancholischen Gesang des kaukasischen Hirten — ohne eine Ahnung, wie das Alles zusammenhängt. Mit Ausnahme des verhältnißmäßig ruhi gen, maßvolleren Adagios macht die ganze Symphonie

den Eindruck eines erbitterten Kampfes, in welchem Hunderte von Effecten sich gegenseitig aufreiben. Wer in diesem Kampf schließlich, um Gnade bittend, unter liegt, ist der Zuhörer. In der maßlosen Ausdehnung der Sätze, der pathetischen Ueberspannung des Aus druckes, in dem eigensinnigen Wiederholen und Ausspinnen kleiner Motive u. dgl. ist die Nachahmung Beethoven’s augenscheinlich. Auf geistreiche, effectvolle Einzelheiten stoßen wir in jedem Satze: das Ganze ist und bleibt monströs. Wir können hier nur den ersten allgemeinen Eindruck wieder geben, aufrichtig und unmaßgeblich, gestehen aber zugleich, daß wir uns nach einer zweiten Aufführung nicht allzu stark seh nen. Das Publicum theilte offenbar diese Empfindung, denn auf allen Gesichtern glänzte eine wahre Erlösungsfreude, als Rubinstein nach überstandener „Dramatischer Symphoniesich ans Piano setzte, um eine Reihe kleinerer Solostücke zu spielen. Es waren durchaus gefällige, elegante Kleinig keiten, nicht eben hervorragend, aber anziehend, durch reizende Clavier-Effecte. Am vortheilhaftesten hob sich die Barcarole“ heraus, sodann ein kurzes „Menuett“ und eine Serenade“ — Alles mit einer Schönheit und Schattirung des Anschlages, mit einer Zartheit und Kühnheit gespielt, wie sie nur bei Rubinstein zu finden. Die Schlußnummer goß wieder ein kaltes Sturzbad über die kaum erst erwärm ten Gemüther: „Variationen über ein amerikanisches Volks lied.“ Dieses Volkslied ist das plumpe, gemüthlose Yankee- doodle, der singende „Onkel Sam“, Rubinstein’s Variationen- Cyklus ein verblüffendes Hör- und Schaustück im amerikani schen Concertgeschmack. Hier sinkt die Schaustellung der wag halsigsten Virtuosität zum Akrobatenthum herab, und Rubinstein reicht seinem amerikanischen Vorreiter Leopold v. Meyer die Hand. Wir können den Eindruck des ersten Rubinstein’schen Concerts nicht unmittelbarer wiedergeben, als durch die Ver sicherung, daß wir uns mehr als je auf das zweite freuen, in welchem derselbe Virtuose ein anderes Programm spielen wird.