Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3819. Wien, Mittwoch, den 14. April 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3819. Wien, Mittwoch, den 14. April 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.04.1875
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Musik. (Adelina Patti. — Dessoff.)

Ed. H. „La Patti nous est revenue, plus Patti que jamais!“ So begrüßte jüngst W. v. Lenz, der ewig junge Doyen der Patti-Schwärmer, die Ankunft Adelina’s in Petersburg. Dergleichen stylistische Putzwaare, die einem französischen Feuilletonisten so reichlich zu Gebote und so kleidsam zu Gesicht steht, ist kaum übersetzbar, und wäre sie es, sie würde im Deutschen einen etwas thörichten Eindruck machen. Ein Wiener Kritiker, der mit jedem jungen Jahre die Patti wiederkehren sieht, empfindet bei aller Freude im Herzen doch zugleich eine seltsame Verlegenheit im Federkiel. Was läßt sich denn noch Neues sagen über die Patti? Was gibt es überhaupt Unergiebigeres für den Kritiker, als die absolute Vollendung? Anders wenn wir die Künst lerin alljährlich in neuen Rollen zu hören bekämen. Mit gespannter Erwartung zu verfolgen, wie ein glänzendes Talent eine neue dramatische Aufgabe erfaßt und durchführt, gehört ja zu den schönsten Festen unseres Berufs. Die bekannteste Individualität wird uns neu in jeder neuen Rolle. Man wiederholte aber auch in dieser Saison bisher nur das ältere, längst bekannte Repertoire der Patti. Das Monopol des Hofoperntheaters einerseits, die Beschränkung eines kurzen, von einem nur kleinen Personale bestrittenen Gastspieles andererseits versagen unserer Komischen Oper die Aufführung jener größeren musikalischen Dramen, welche die Patti neuester Zeit mit besonderer Vorliebe und Wir kung singt, wie „Romeo und Julie“, „Hugenotten,“ „Nord stern,“ „Mireille“. Auch ältere Lieblingsopern dieser Sän gerin, wie „Gazza ladra“, „Die Krondiamanten“ und an dere, wollen in Wien nicht zu Stande kommen — leider, denn jede neue Rolle der Patti, sei es auch in geringeren Wer ken, erschiene uns wie ein Festgeschenk. Also „Lucia“, Sonnambula“ etc. Die Opern selbst sind bis zur Langweile abgespielt, ohne Frage. Aber was die Patti darin leistet, entzückt es uns heute weniger, als vor zwei oder drei oder vor zwölf Jahren? Gewiß nicht. Und

für die gleiche Freude ziemt sich auch der gleiche Dank. Wir sollen und dürfen nicht müde werden, diesen geradezu einzi gen Verein von reizendsten Naturgaben und außerordent licher Kunstvollendung zu preisen, dem Publicum und ganz besonders unseren Sängern zuzurufen: Geht hin und genießt, geht hin und lernt ! Wenn Adelina in Wien immer wieder dasselbe singt, warum sollten wir nicht auch wieder dasselbe schreiben, und wäre es nur, daß sich nichts mehr über sie schreiben läßt? Die fast kindlich anmuthige Erscheinung, der bezaubernde Silberklang der Stimme, die mühelose Leichtig keit der Bravour — das Alles ist ihr unberührt geblieben von der Zeit. Was uns aber neben und über diesen Vor zügen der Patti jedesmal neu entzückt, ist ihr unvergleich licher musikalischer Schönheitssinn. Nicht immer erblüht die Virtuosität aus einer tief und wahrhaft musikalischen Natur, und der Virtuose, der länger als ein Decennium von Triumph zu Triumphen eilt, büßt in der Regel die Einfalt der musikalischen Empfindung ein. Er wird raffinirt, gekün stelt und trachtet durch gesuchte Effecte, überscharfen Accent und gehäuften Schmuck die verlorene Unschuld des Schö nen zu ersetzen. Wie oft haben wir diese Verzerrung an den glänzendsten Bühnentalenten erlebt, deren „Reisen um die Welt in achtzig Tagen“ sie um den stillen künstlerischen Erwerb von Jahren brachten! Bei Adelina Patti keine Spur eines solchen Einflusses. Wer hat sie je auf einem unmo tivirten Effect betreten? Wer hat sie, auch im höchsten Affecte, die Linie des Musikalisch-Schönen überschreiten sehen? Sie singt immer rein, immer im Tact, sie respectirt die Note des Componisten, sie tremolirt weder, noch über treibt sie. Das fast verloren gegangene Geheimniß guter ita lienischer Sänger: den Ton weit und stark auszuschicken, ohne zu schreien, sie besitzt es vollständig. Ebenso ist ihrem Spiele die volle Einfachheit und liebenswürdige Natur treu geblieben; die Uebersättigung an alten Rollen hat sie nie mals dem falschen Geist des Geistreichen und Neuen um jeden Preis in die Arme getrieben. Einfache Partien wie Sonnambula singt und spielt sie durchaus einfach, und raffinirten Rollen wie Dinorah weiß sie noch einen Hauch von Wahrheit und Herzlichkeit einzuathmen, welcher uns fast mehr überzeugt, als der Componist verdient hat.

In „Lucia“ und „Sonnambula“ mußte man sich an die Patti ganz allein halten; die Herren waren ihren Auf gaben nicht gewachsen, Aufgaben, in welchen uns heutzutage schon langweilig erscheint, wer nicht ausgezeichnet ist. Besser gestaltete sich der Total-Eindruck der Oper „Dinorah“, deren Männer-Rollen in jedem Betracht hinreichend hinter Dinorah zurückstehen, um den vollen Glanz dieser ganz unvergleichlichen Leistung der Patti nicht zu trüben. Signor Rota, welcher am ersten Abend den Enrico in der „Luciaals einen sehr heiseren Tyrannen hingestellt und dadurch unserem Mitleid näher gebracht hatte, war als Hoël besser bei Stimme und sang diese affectirte Partie möglichst schlicht und bescheiden. Die jugendliche und hinreichend kräftige Tenorstimme des Signors Gayarre hat einen unedlen Timbre, wird leicht kreischend, paßt somit schlecht für die ideale Lyrik eines Elvino oder Edgardo. Besser verträgt sich der tölpische Bauernjunge Correntin mit dem scharfen Zinkenton dieser Naturburschenstimme. Leider ließ er auch hier diese Stimme rücksichtslos ausströmen und deckte die Patti in dem Glockenterzett, dessen Schlußsatz er durch seine kukuksmäßig herausgeschrienen kleinen Terzen um das schöne Ebenmaß des Klanges brachte. Schade, daß so viele Sänger, welche das Glück haben, monatlang mit der Patti zu singen, in diesem Hauptpunkte nichts von ihr lernen — heuer so wenig wie in den vorigen Jahren. Einen Vorzug be merkten wir übrigens an allen italienischen Sängern bis zum geringsten herab: die deutliche Aussprache. Hier könnten wieder unsere deutschen Sänger viel lernen.

Die beiden in ihrem Ensemble gelungensten Vorstellun gen der italienischen Operngesellschaft waren diejenigen, in denen der Tenorist Capoul mitwirkte: „La Traviata“ und Don Pasquale“. Ich kenne Capoul noch von der Pariser Opéra Comique her, wo er (1867) in Spielopern wie Mignon“, „Der Zweikampf“, „Marie“ und anderen durch ele gante Haltung, graziösen Vortrag und glückliche Behandlung des Wortes vielen Beifall fand. Die Vorzüge, welche diesen Spieltenor so werthvoll machten für die französische komische Oper, kann er allerdings in der italienischen Oper nicht im gleichen Maße entfalten; für manche Aufgaben seiner jetzigen Laufbahn fehlt es seiner Stimme auch an Fülle und

Kraft. Dennoch erfreuen auch hier seine Leistungen durch Feinheit und Anmuth der Form, wie durch Zartheit der Empfindung. Letztere ist echt bei Capoul, nur treibt ihr Uebermaß ihn oft zur Uebertreibung, insbeson dere durch Tremoliren und Schleppen des Tempos. Die Liebeserklärung am Schlusse des ersten Actes der Traviata“ zeigte das am auffallendsten. Im Finale des zweiten Actes war sein Spiel voll Feuer und Ausdruck, und im dritten Acte der „Traviata“ hatten wir ganz specielle Freude darüber, daß Capoul nicht à la Nicolini die erste Sylbe von „Parigi, o cara, lasciaremo!“ wie einen Kanonenschuß abfeuerte. An sinnlicher Frische und Unmittel barkeit steht Capoul hinter den besseren seiner italienischen Collegen zurück, dafür hat er den großen Vorzug, daß Wort, Ton und Geberde bei ihm Eins sind. Einige Ge ziertheit wird man mitunter an ihm bemerken, aber nie eine Rohheit. Auch der Ernesto im „Don Pasquale“, eine kleinere, meist stiefmütterlich besetzte Tenorpartie, fand in Herrn Capoul einen sehr gewinnenden Repräsentanten. Rota gab als Doctor Malatesta sein Bestes; er verwen det seine bedeckte und ziemlich reizlose Baritonstimme wenig stens mit Maß und Geschmack, auch mit anerkennenswerther Kehlengeläufigkeit. Als Don Pasquale begrüßten wir mit Freuden unseren altbewährten Liebling Zucchini, dem die Zeit zwar Einiges an Stimme, aber nichts an komischer Kraft genommen hat. Er ist prädestinirt für Buffopartien wie Don Pasquale oder Dulcamara. Nur ein alter Ita liener kann ein zugleich so intelligentes und so komi sches Gesicht haben. Und vollends die Gesichter, die er mit diesem Gesichte zu schneiden weiß! Dabei welche abenteuerliche Zungengeläufigkeit, welche musikalische Sicherheit und welch discretes, echt dramatisches Einfügen ins Ensemble! Die Vorstellung des „Don Pasquale“, dieser unwiderstehlich fröhlichen, von Laune und Wohlklang über strömenden Musik, gewährte einen seltenen Genuß. Wie die Traviata“ die bedeutendste ernste Partie der Patti ist, so steht ihre Norina obenan unter den heiteren. Da herrscht so viel Anmuth und kindliche Munterkeit, daß man dieser im Grunde recht gewissenlosen Kokette (Goldoni’s „Listige Witwe“) nicht gram werden kann. In der Scene, wo der

alte Pasquale über die erlittene Demüthigung wehklagt, brachte die Patti einen sehr hübschen, versöhnenden Zug an, der ihr allein gehört: die mitleidig theilnehmende Miene, mit welcher sie, unbemerkt von Don Pasquale, auf ihr Opfer herüberblickt. Sie schämt sich doch einen Moment, Pasquale dauert sie. Aber es gilt, rasch in den Besitz des geliebten Ernesto zu kommen, und so rafft sie sich denn gleich mit einem grausam entschlossenen Lächeln wieder auf, welches ungefähr sagen will: „Es muß sein! Crepa!“

Und nun von der Komischen Oper zu einem weh müthigen Lebewohl! Es war Dessoff’s Abschiedsconcert im großen Musikvereinssaale. Auf die „Euryanthe“-Ouvertüre, die Florestan-Arie (Walter), das Quintett aus „Così fan tutte“ (Ehnn, Materna, Müller, Mayerhofer, Rokitansky) folgte Beethoven’sNeunte Symphonie. Es war eine vollendete Aufführung, an welcher, dem schei denden Dirigenten zu Ehren, das gesammte Personal des Hofoperntheaters, Chor und Solosänger, sich betheiligte. Der Klang so vieler schöner Solostimmen (Ehnn, Dust mann, Dillner, Materna, Tagliana, Siegstädt, Tremel, Wanda etc.) hob die „Freudenhymne“ zu ungewöhnlicher Wirkung. Meisterhaft sang Rokitansky das einleitende Recitativ, und Dessoff dirigirte mit einer Kraft und Be geisterung, als wollte er uns den Abschied noch schwerer machen. Der stürmische Applaus und Zuruf, mit welchen Dessoff das ganze Concert hindurch ausgezeichnet wurde; die vielen Kränze, die fast wie ein kleiner Lorbeerhain das Dirigentenpult umgrün ten, schließlich die Ovationen und Ehrengeschenke nach been digtem Concert — dies Alles bildete wol die herzlichste und imposanteste Demonstration, die je ein Capellmeister in Wien erlebt hat. Hätte für Dessoff’s rühmliches, zur Stunde un ersetzliches Wirken auch in anderen Kreisen dasselbe aner kennende Verständniß gewaltet, wie in dem gesammten Publi cum, der Mann wäre für Wien erhalten geblieben. Hoffen wir, daß er eines Tages zurückkehrt. Wie heißt es doch in dem schönen Liede von Mendelssohn: „Wenn Menschen aus einandergeh’n, so sagen sie: Auf Wiederseh’n!“ Schade nur, daß das leichter gesagt als erlebt wird. Auch mit diesem Troste ist es ein traurig Ding, „wenn Menschen auseinander geh’n“!