Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3847. Wien, Mittwoch, den 12. Mai 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3847. Wien, Mittwoch, den 12. Mai 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 12.05.1875
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Musikalische Briefe aus Paris. II. (Opéra Comique. — Verdi’s Requiem. — Die Oper „Carmen“.) Paris, im Mai 1875.

Ed. H. Noch früher als ins neue Opernhaus eilte ich zu meinem alten Liebling, der Opéra Comique. Aeußerlich fand ich Alles unverändert, nur zu sehr. Die Fauteuils sind seit meinem ersten Besuch (1860) gewiß nicht neu überzogen worden, das rothe Tuch hängt schmutzig und zerrissen herab. Wie fast in allen Pariser Theatern, sind diese Sitze nicht zum Aufschlagen und die Reihen sehr eng aneinandergerückt. Da gibt es denn ein Uebereinandersteigen der Späterkommen den über die bereits Ansässigen, und in den Zwischenacten ein Voltigiren, Kneten und Wälzen ohne Ende. Wie wir in Wien durch den unvergleichlichen Comfort des neuen Opern hauses verwöhnt worden sind, so dürften die Pariser gleicher weise durch ihre so bequem eingerichtete Große Oper bald empfindlicher werden gegen die barbarische Einpferchung in den übrigen Theatern. Noch immer strecken in der Opéra Comique die sechs Contrabässe ihre Giraffenhälse dicht vor der ersten Sitzreihe in die Luft und hindern uns die Aus sicht auf die Bühne: eine Freiheit, die sich in Wien doch nur die neumodischen, an Wallenstein’s Lager erinnernden Damenhüte herausnehmen. Letztere geniren hier nicht, denn Damen werden in Paris nicht zugelassen in den Parterre raum, was mit Rücksicht auf die erwähnte Kletterei ganz vernünftig ist. Für Musiker sei noch bemerkt, daß auch die Zusammensetzung des Orchesters die alte geblieben ist: nur Naturhörner und Zugposaunen, die Ventile sind noch nicht erfunden für die französischen Orchester. Blos die Große Oper benützt jetzt neben zwei Naturhörnern zwei Ventil hörner. Ist die Komische Oper äußerlich unverändert ge blieben seit Decennien, so ist sie es doch leider nicht in ihrem künstlerischen Gehalt. Ich fand sie entschieden gesunken so wol in Betreff des Repertoires als der Sänger und schließ lich der Theilnahme des Publicums. Dasselbe gilt von allen Pariser Theatern, in welchen Musik gemacht wird, in Be zug auf diese Musik. Von der Großen Oper angefangen

(über welche ich Ihnen demnächst berichte) bis zu den klei nen Musentempeln, welche Offenbach und Strauß spielen, überall dieselbe betrübende Wahrnehmung. Sie wird von allen Pariser Musikern und Kunstfreunden unbedingt getheilt, mit denen ich davon gesprochen.

Die Opéra Comique gibt, ihrem alten Princip getreu, die Woche hindurch ihre Novitäten und Sonntags „le repertoire“, das heißt ältere Opern. Die Novitäten, welche seit vierzehn Tagen sich in die Abende der Opéra Comique theilen, sind: eine vieractige Oper: „Carmen“, von G. Bizet, und — Verdi’sRequiem. Seltsame Zusammenstel lung! Praktische Erwägungen haben sie veranlaßt. Das Requiem“ hat, trotz wiederholter Aufführungen im vorigen Winter, sich jetzt noch so zugkräftig erwiesen, daß es in den letzten vierzehn Tagen siebenmal bei stark besuchtem Hause gegeben werden konnte. Chor und Orchester sind von der Opéra Comique, das Soloquartett bilden die italienischen (oder richtiger aus Italien kommenden) Sängerinnen Stolz und Waldmann, der Tenor Masini, der Bassist Medini; Verdi dirigirt persönlich mit großer Würde und Entschiedenheit. Der Director der Komischen Oper („Päch ter“ nach unserem Begriff), Mr. Delocle, macht nicht nur positiv ein gutes Geschäft mit diesen Requiem-Abenden, sondern auch negativ, indem er drei Opernvorstellungen in der Woche erspart. Sein Theater theilt nämlich jetzt mit manchem Wiener Theater das Schicksal schwachen Besuches und soll (was bisher nie geschehen war) für zwei volle Monate geschlossen werden. Während dieser Monate, Juni und Juli, will das Personale der Opéra Comique in Wien gastiren. Diese Maßregel erfährt mannichfache Opposition in der Pariser Presse, wie im Publicum; man findet sie eines ersten Pariser Theaters nicht würdig. Trotzdem dürften die finanziellen Gründe den Ausschlag geben, und wir können nur wünschen, daß die französische Gesellschaft in Wien eine bessere Ernte erziele, als die heißen Monate in der Regel gewähren. Auch Verdi kommt schon zu etwas später Jahreszeit nach Wien, doch wird ihm das Publicum gewiß nicht fehlen für zwei bis drei Aufführungen seines Requiems. Das Werk ist effectvoll und interessant, es ist vor Allem (wie „Aïda“) merkwürdig als Markstein in der Entwicklungs geschichte Verdi’s. Mag man es nun höher oder tiefer stel len, mehr oder weniger daraus wegwünschen, der Ausruf:

„Das hätten wir von Verdi nie erwartet!“ wird nirgends ausbleiben. Es enthält Stücke von ungewöhnlicher Klangschön heit, von ergreifendem Ausdrucke, von grandiosem Effecte; dabei gehört es vollständig ihm an, ist unverkennbarer Verdi, wenn auch weit entfernt von dem des „Ernani“. Das Studium der älteren römischen Kirchenmusik und der deut schen Meister leuchtet hindurch, aber nur als Schimmer, nicht als Vorbild. Es berührte mich doch eigenthümlich, als ich hier auf Verdi’s Pianino das „Deutsche Requiem“ von Brahms erblickte (Pariser Ausgabe mit französischem Text); kein anderes Notenheft. Eine Aeußerung darüber konnte ich dem Maestro nicht entlocken, er hatte das Werk „eben erst bekommen“. Die Liebe und Ausdauer, mit wel cher Verdi an seinem Requiem gearbeitet, sind nicht ver loren; aber offen gestanden, wir hätten sie doch auch lieber auf eine Oper verwendet gesehen. Das Theater hat diesen Componisten lieber und nöthiger als die Kirche. Diese braucht im Grunde gar keine Novitäten. Moderne Compo nisten, dramatische zumal, welche ausnahmsweise ein geist liches Werk liefern, denken dabei auch wirklich weniger an die Kirche, als an den Concertsaal. Verdi wollte mit seinem Requiem offenbar mehr den Menschen zeigen, was er kann, als dem lieben Gott, was er glaubt. Das bisher ganz un gewöhnliche Unternehmen, die Hauptstädte Europas mit einem Requiem zu bereisen, verstärkt den Eindruck des Weltlichen an dieser Composition. Eine eingehende Bespre chung derselben darf ich mir für Wien versparen, wo Verdi demnächst das Requiem aufführt mit denselben Solosängern und einem besseren Chor als dem der Opéra Comique, welchem es, bei der eigenthümlich vorschlagenden Schärfe der französischen Frauenstimmen, an Klangschönheit fehlt. Gelungen war die hiesige Anordnung von Chor und Orchester auf der Bühne. Die Choristinnen erschienen sämmtlich in faltenreich herabwallenden weißen Gewändern und langen schwarzen Schleiern. Es war wie eine Procession von Nonnen und stimmte vortrefflich zu dem Inhalte der Production.

Gehen wir von dieser geistlichen Novität der Opéra Comique zu der weltlichen über: „Carmen“, von Georges Bizet, welche hier einen nicht gewöhnlichen und ziemlich andauernden Erfolg behauptet. Carmen (ein in Spanien häufiger Taufname, wörtlich Garten bedeutend, im Diminu tiv Carmentia, Gärtchen) ist die Heldin einer spannenden,

an psychologischen Feinheiten reichen Novelle von Prosper Méri mée. Das gewandte, unermüdlich thätige Dioskurenpaar Meilhac und Halévy hat diese Erzählung zu einem Libretto von unleugbarem Reize und Interesse bearbeitet. Der In halt ist in zwei Worten folgender: Ein junger Brigadier, José, soll eine Zigeunerin wegen einer blutigen Rauferei ins Gefängniß escortiren. Von ihrer koketten, wilden Schön heit berückt, läßt er sie entschlüpfen. Für dieses Vergehen degradirt und eingesperrt, eilt er nach überstandener Strafe gleich zu der leichtfertigen Carmen, wird ihr Liebhaber und auf ihr Drängen Schleichhändler. Immer wieder von ihr betrogen und verrathen, folgt er ihr doch treulich auf ihren gefahrvollen Schmugglerzügen. Endlich übermannt ihn die Eifersucht gegen einen von Carmen begünstigten Torreador. Er will seine Ehre, sein Lebensglück nicht vergebens hin geopfert haben; sie soll ihrem Torreador, soll ihrer Schmugglerbande entsagen und mit ihm fliehen. Da sie sich weigert und José höhnisch abweist, ersticht er sie. Die Handlung entfaltet sich in vier Tableaux von national spa nischer Färbung: eine Straße in Sevilla mit einer Haupt wache, an der die Posten einander ablösen; eine abgelegene Schänke für Schleichhändler und Dirnen; eine Bergschlucht, in welcher die Zigeunerbande Halt macht; endlich ein Platz in Cordova mit dem Circus der Stiergefechte als Hinter grund. Auf diesen Platz eilt Carmen als Zeugin des Triumphes ihres Torreador, hier durchbohrt sie der rächende Stahl des unglückseligen José. Man kann sich leicht vorstel len, welche dankbaren Situationen diese vier Acte einem dramatischen Componisten bieten. Aber gewagt bleibt es immerhin, einen Charakter wie Carmen auf die Bühne zu bringen, eine Art zerlumpter, verwilderter Manon Lescaut, ohne den versöhnend empfindsamen Zug der Letzteren. Zu mal auf die Bühne der Opéra Comique, welche Scenen wie das Messerduell der beiden Nebenbuhler und einen so tragischen Ausgang nie zuvor gesehen — ein neuer, stärkster Beleg, wie die Bezeichnung „Komische Oper“ nur mehr eine rein traditionelle und technische geworden, für irgend ein Singspiel mit gesprochenem Dialog. Wenn man von diesem Schlußtableau, der Ermordung Carmen’s, aufblickt und ober dem Vorhang in goldenen Lettern die Devise liest: Ridendo castigat mores“, so empfindet man den Contrast beinahe wie einen elektrischen Schlag. Er wird kaum gemildert durch den Gedanken, wie dürftige Berechti

gung jener Spruch und wie wenig die Musik die moralische Macht und Mission habe, irgend etwas zu „züchtigen“.

Die Oper „Carmen“ bringt originelle Charaktere und wohlvorbereitete, wirksame Situationen auf die Bühne. Sie bietet in drei Rollen lohnende Aufgaben für das Talent der Darsteller. Wird die Novität im Wiener Hofoperntheater gegeben, wie es heißt, so dürften diese drei Charaktere (Carmen, José, der Torreador) in Frau Ehnn, Herrn Walter und Herrn Bignio gute Repräsentanten finden. Leicht möglich, daß „Carmen“ schon früher durch die französische Operngesellschaft dort gespielt wird. In beiden Fällen er wartet mich daheim die Pflicht, ausführlich über die Musik zu sprechen, und ich brauche dem Urtheil der Wiener heute nicht vorzugreifen. Von dem Componisten Georges Bizet sei nur erwähnt, daß er zwar ein junger Mann, aber kein Neuling in der Operncomposition ist, kein Tondichter von origineller und reicher Erfindung, aber ein geschickter Musiker, der pikant schreibt, nicht ohne Geist und nicht ohne Empfin dung, sorgfältig in der Instrumentirung und glücklich in der Benützung spanischer National-Melodien. Er ist im Leben ein Schwiegersohn Halévy’s und in der Kunst ein Adoptiv sohn von Ambroise Thomas. Die Partitur von „Car men“ enthält neben vielem Unbedeutenden (was leicht zu kürzen ist) manche gefällige, echt dramatische Nummer. Mit Rücksicht auf das interessante Textbuch und die dankbaren Rollen wäre Bizet’s Oper auch deutschen Bühnen zu em pfehlen — nicht als ein Meisterwerk, aber als eine jener erfolgreichen Opern, die man bei der gegenwärtigen Novi täten-Armuth unbedenklich aufführen darf, ja beinahe auf führen muß, will man überhaupt ab und zu Neues bringen. An den drei letzten Sonntagen spielte man in der Opéra Comique aus dem alten Repertoire „Joconde“ und Richard Löwenherz“ (an Einem Abend), dann die „Weiße Frau“ und „Mignon“. Die beiden letztgenannten Opern ließ ich beiseite; ich wollte mir die Erinnerung an frühere vor treffliche Aufführungen nicht trüben. Wie stark gelichtet ist der ehemalige Künstlerverein dieses Theaters, und wie schwach ersetzt sind die Verlornen! Von Roger nicht zu reden, diesem unvergeßlichen Helden der Opéra Comique, wie trefflich sang noch sein Nachfolger Montaubry den Fra Diavolo, den Postillon! Ganz stimmlos geworden, spielt jetzt derselbe Montaubry in Possen wie Offenbach’s Geneviève de Brabant“ kleinste Partien, wahre Statisten

rollen. Von den hellleuchtenden Sternen der Opéra Comique sind heute fast alle erloschen, bis auf die Galli-Marié, die geistvolle Schöpferin der Mignon-Rolle. Ihre Stimme habe ich nicht ganz unversehrt wiedergefunden, ihre Gestalt breiter, behäbiger, die Gesichtszüge derber. Doch wirken ihre Leistungen noch immer durch Geist und energische Frische. Als Carmen leiht sie selbst der Frechheit eine gewisse An muth, sei es auch nur die Anmuth des Leichtsinns. Couderc, der köstliche Komiker dieser Bühne, ist todt; Marie Cabel, die virtuose Philine, hat sich für immer zurückgezogen, Achard, ihr liebenswürdiger Wilhelm Meister, zeitweilig. Marie Rose, ein werthvoller Schatz an Stimme und Schönheit, singt nicht mehr, desgleichen Demoiselle Cico, die wenigstens schön war. Capoul ist zu den Ita lienern übergegangen und die Coloratur-Sängerin Miolan- Carvalho zur Großen Oper. Was an die Stelle dieser Künstler getreten, ist eben hinreichend, anständig, mitunter recht gefällig (wie der Tenorist Lhérie und der Bariton Bouhy in „Carmen“), aber Künstler ersten Ranges sind sie nicht. Die älteren Opern pflegen noch schwächer besetzt zu werden; man spart die ersten Kräfte für die Novitäten. So waren in Grétry’s „Richard Löwenherz“ und Isouard’s „Joconde“ nur die Rollen des Blondel (Melchissédec) und des Joconde (Barré) gut gegeben, alle übrigen ganz unbedeutend, die Damen an Stimmlosigkeit das Maß des Erlaubten überschreitend. Was dennoch an diesen Vorstellungen erfreulich berührt, nament lich im Vergleich mit der Großen Oper, ist das gute schau spielerische Ensemble, die Tradition des natürlichen, fließen den, sich nirgends vordrängenden Sprechens und Agirens. Es herrscht in der Opéra Comique im Ganzen wie im Ein zelnen doch mehr künstlerischer Geist, als in der Großen Oper, mehr Geist überhaupt. Das ist der gute Genius die ses Hauses, er hat es nicht verlassen und wird es hoffent lich niemals. Wenn Börne das „Publicum“ einmal eine Versammlung von Menschen nannte, in welcher jeder Ein zelne ein Schwachkopf sein kann. Alle zusammen aber Ver stand haben, so darf man Aehnliches, nur etwas artiger, auch von der französischen Opéra Comique behaupten. Ihre Sänger können, jeder für sich, wenig Stimme und wenig Gesangskunst besitzen — zusammen bilden sie doch ein ge rundetes, künstlerisch erfreuliches Ensemble.