Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3849. Wien, Freitag, den 14. Mai 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3849. Wien, Freitag, den 14. Mai 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.05.1875
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Musikalische Briefe aus Paris. III. (Opéra Comique. — Aeltere Opern von Grétry, Isouard und Boieldieu. — Der Nachwuchs.) Paris, im Mai 1875.

Ed. H. Von hohem Interesse waren mir, trotz der mittelmäßigen Aufführung, die alten Opern: „Richard Coeur-de-Lion“ von Grétry und „Joconde“ von Isouard, welche an einem und demselben Abend (sechs Acte!) gegeben wurden. Man dürfte sie kaum mehr an derswo als in Paris noch zu hören bekommen. Die Opéra Comique bewahrt ihren alten Meistern eine lobenswerthe nationale Pietät und widmet ihnen in der Regel den Sonn tag, spielt sie also nur selten, läßt sie aber niemals ganz in Vergessenheit gerathen. In der Pariser Großen Oper fehlt dieser conservative Zug, sie erinnert sich nicht einmal mehr Spontini’s und geht hinter Rossini’s „Tell“ und Meyerbeer’s „Robert“, also das Jahr 1830, nicht zurück. Wie in der französischen Nation der Drang nach Neuem mit der Pietät für das Alte Hand in Hand geht, zeigt am besten das Théâtre Français, welches wöchentlich zwei, auch drei Lustspiele von Molière zum lebhaftesten Ergötzen des dicht gedrängten Publicums darstellt. Und Molière schrieb doch zu einer Zeit, da wir Deutschen noch keine Literatur hatten oder wenigstens keine, die man heutzutage anders als aus Literatur-Geschichten kennen lernt. Tragödien von Racine und Voltaire, Lustspiele von Sédaine, Marivaux, Beau marchais erscheinen zeitweilig noch immer auf der Bühne des Téâtre Français, auch des Odeon. Für die Tonkunst gibt es keine Bildergalerien, keine Museen, wie für die Schätze der alten Maler- und Bildhauerkunst. Die Sonn tage der Opéra Comique vertreten hier, nach den modernen Genüssen der Woche, die Stelle eines solchen Museums. Im Jahre 1867 gab es in Paris noch zwei andere lyrische

Bühnen, welche eine Specialität in der Wiederbelebung älterer Opern, auch anderer Nationen, suchten. Vor Allem das Théâtre Lyrique, in welchem ich den „Freischütz“, „Abu Hassan“, „Die Entführung aus dem Serail“ sah, und Les Fantaisies Parisiennes, ein kleines Theater auf dem italie nischen Boulevard, welches ältere Singspiele, wie „Le Sorciervon Philidor, „L’arbre enchanté“ von Gluck, Mo zart’sGans von Kairo“, Boieldieu’sCalife de Bagdad“ (eine Dame verlangte jüngst in der Musikhandlung „Le canif de Balzac“) mit Glück hervorsuchte. Diese beiden Theater sind zu Grunde gegangen, durch Bankerott das eine, das andere durch Feuer und Granaten. Es existirt zwar an der Stelle des letzteren ein neues Théâtre Lyrique-Dramatique, das aber keine Opern gibt und in sehr geringem Ansehen steht. Kein Zweifel, daß der Franzose, im Theater wenig stens, mit seiner künstlerischen Vergangenheit inniger zusam menhängt, als der Deutsche. Der Franzose von heute fühlt sich den Singspielen von Grétry und Monsigny ungleich näher verwandt, als wir unseren späteren Componisten Dittersdorf, Weyl, Winter, Gyrowetz. Das macht, weil die ältere Opéra Comique der Franzosen von Haus aus ungleich nationaler auftrat, weil sie französischer war, als die unsere deutsch. Von Grétry’s zahlreichen Opern sind der „Blaubartund „Richard Löwenherz“ diejenigen, welche in Deutschland sich am längsten erhalten hatten; seit 30—40 Jahren sind sie so ziemlich verschwunden. Sie würden der gegenwärtigen Generation, in Wien zumal, als etwas vollständig Veralte tes erscheinen, an das wir nicht mehr anzuknüpfen wissen. Anders in Paris, wo diesen Werken nicht nur die Pietät zu Hilfe kommt (sie allein reicht niemals aus), sondern die lebendig erhaltene Tradition sowol der Sänger als des Publicums. Auch im Leben der Bühnendichtung gibt es eine Art Verjährung, wie im bürgerlichen Rechte, sogar der Zeit raum von 30 Jahren spielt da eine ähnliche Rolle. Die Opéra Comique befleißt sich, diese Verjährung oft und regelmäßig zu unterbrechen und das Publicum dadurch im geistigen Besitze zu erhalten. Solche Continuität

des künstlerischen Eindruckes ist wichtiger, als man bei uns meint. Der Franzose, welcher heute zum Richard Löwenherz“ seine Töchter führt, hat ihn vor zwanzig Jahren mit seiner Frau und vor vierzig mit seiner Mutter gehört. Bei uns fehlt dieser Zusammenhang, und unserem Publicum würde es kaum anders ergehen als mir, dem bei lebhaftester Verehrung für GrétryRichard Löwenherz“ doch gar zu einfach und knapp erschien in musi kalischer Hinsicht. Nur ein sehr kleines, bescheidenes Theater mit vorwiegend „gemüthlichem“ Publicum dürfte es in Deutsch land noch damit wagen. Ganz anders erscheint Grétry’s Werth und Bedeutung vom geschichtlichen Standpunkte. Das Publicum mißt einen älteren Autor doch nur an seinen Nach folgern, wobei er häufig zu kurz kommt — der Historiker mißt ihn an seinen Vorgängern. Und welch großen Fortschritt bezeichnet da Grétry! Durch die Gunst eines langen Lebens und glänzender Erfolge hat Grétry diesen Fortschritt ge sichert und fruchtbar gemacht für seine Nachfolger, welche daran anknüpfen konnten, anknüpfen mußten. In seinen Memoiren sagt Grétry, sein Streben sei, die melodiöse Schön heit der Italiener mit dem dramatischen Geist der Franzosen zu verschmelzen, sein höchstes Ideal, der PergoleseFrank reichs zu werden. Unser Dittersdorf wünschte seinerseits „ein deutscher Grétry zu werden“. In diesen zwei Geständ nissen liegt wie im Keim die ganze Entwicklungsgeschichte der älteren komischen Oper. Pergolese, Grétry, Dittersdorf: Italien zuerst als Quelle, Frankreich zunächst daraus schöpfend und den Eimer weiterreichend an Deutschland. Grétry, Phi lidor, Monsigny, Dalayrac beherrschten im vorigen Jahrhun dert das Repertoire aller deutschen Bühnen, und selbst wo die Musik unserer Singspiele von Deutschen herrührte, das Libretto war damals in neun von zehn Fällen eine Bearbei tung nach dem Französischen.

Wenn man Grétry’s Memoiren liest, glaubt man oft Gluck sprechen zu hören, so klar ist sein Bewußtsein, so streng seine Anforderung in Bezug auf die Wahrheit des dramatischen Ausdrucks. Wie Gluck, so verwendete Grétry

die äußerste Sorgfalt auf die Correctheit der Declamation. Von späteren Franzosen hat namentlich Auber sich große Leichtfertigkeit in diesem Punkt erlaubt, und es ist ein Ver dienst Gounod’s, wieder ein Beispiel correcter französischer Declamation zu geben. Grétry’s Analysen seiner eigenen Oper gehören zu den lehrreichsten dieser Art; bis in den einzelnen Tact, die einzelne Note gibt er Rechenschaft, warum er eine Stelle so und nicht anders componirt habe. Als er bei Erscheinen seines „Richard Löwenherz“, 1785, ob der ausgezeichnet musikalischen Eignung des Textbuches beglück wünscht wurde, ließ er diesen Vorzug nur bezüglich der be rühmten Romanze gelten, durch welche der treue Blondel den König rettet. Die ganze Oper sollte nach Grétry’s streng dramatischer Anschauung nur declamirt und blos jene Romanze gesungen werden. Er gesteht, daß er gegen diese seine Ueberzeugung dem musikalischen Bedürfniß des Publicums Concessionen gemacht habe, hält aber dennoch die Unterschei dung fest, die er mit den geistreich lakonischen Worten prä cisirt: „Il y a chanter pour parler, et chanter pour chanter.“ Die Romanze Blondel’s kommt im Verlauf der Oper neun mal vor, ganz oder stückweise (ein „Leitmotiv“, hundert Jahre vor R. Wagner!), jedesmal anders, blos gespielt oder ge sungen, von einer oder von mehreren Stimmen, mit einfachster oder mit reicher Begleitung u. s. w. Jede dieser Verände rungen rechtfertigt Grétry mit dem Scharfsinn eines Advo caten. In seinen Anforderungen an die Ausdrucksfähigkeit der Musik ging Grétry offenbar zu weit, sie wurde ihm fast zur fixen Idee und verleitete ihn, jeden Gemüthszustand, auch „l’optimisme“, „l’entêtement“ und dergleichen musika lisch photographiren zu wollen. Zum Glück trug seine musi kalische Natur in der Praxis den Sieg davon über seine geistreichen theoretischen Schrullen. Was uns heute noch in Grétry’s Memoiren fesselt, ist nicht blos der klare, an Kunstverstand seine Zeitgenossen überragende Denker, sondern ebensosehr der lebensfrische, liebenswürdige Mensch. Seine musikalischen Verdienste erschienen den Zeitgenossen verklärt durch den Zauber seiner Persönlichkeit, endlich durch den traurigen Ausgang seines vielbewegten Lebens. Seine drei

Töchter, blühende, hochbegabte Mädchen, starben rasch nach einander; durch die Revolution verlor er sein kleines Ver mögen, sein Einkommen. Alt, einsam und verarmt stand der Mann da. Aber der Eine Trost verblieb ihm, daß seine Melodien im Volke lebten. Blondel’s Romanze aus „Richard Löwenherz“ ward das Bundeslied der französischen Edel leute, welche Louis XVI. aus den Banden der Constitution retten wollten und damit nur seinen Untergang beschleu nigten. Und als Napoleon’s Soldaten aus dem furchtbaren russischen Feldzug nach Frankreich heimkehrten, da stimmten sie auf dem traurigen Rückmarsch Grétry’s Melodie an: Où pent-on être mieux, qu’au sein de sa famille!Grétry starb im Herbst 1815, vierundsiebzig Jahre alt, in der Eremitage zu Montmorency, demselben stillen, ländlichen Asyl, das vor ihm J. J. Rousseau bewohnt und geliebt hatte.

Grétry’s Geist und Styl wirkt heute noch fort in Frank reich. Kein anderer Zweig der Bühnendichtung weist eine solche Continuität des Styls, eine so geschlossene Fortent wicklung auf, wie die Opéra Comique der Franzosen. Von Grétry zu Isouard und Boieldieu, zu Auber, Adam u. s. f. Die Aufführung des „Joconde“ von Isouard am selben Abend mit Grétry’s „Richard“ gewann durch dieses Ver hältniß ein doppeltes Interesse. Das Textbuch zu „Jocondeist vortrefflich, und ein liebenswürdig chevaleresker Zug durch weht die Musik. Mehrere Ensemble-Nummern im zweiten und dritten Act machen heute noch die schönste Wirkung, frei lich zumeist durch das Verdienst des Dichters, der hier ganz allerliebste Situationen geschaffen hat. In den ersten komi schen Opern der Franzosen war die Musik gleich Null, sie wuchs mit der Zeit an Ausdehnung und Bedeutung, aber das große Gewicht, das man den Textbüchern beilegte, blieb ihnen bis heute unbenommen. Es freut mich jedesmal, wenn ich im Foyer der Opéra Comique neben den Büsten der großen Componisten auch jene ihrer Textdichter erblicke, von Sedaine und Etienne bis auf Eugène Scribe. In Deutsch land hat seinerzeit Isouard’s musikalisch geringfügigere „Cen drillon“ die stärksten Sympathien gefunden; die gemüthvolle Herzlichkeit des Aschenbrödel-Märchens, dem sich die schlichte

liedmäßige Musik vortrefflich anschmiegt, war den Deutschen blutsverwandter als die lockeren Abenteuer des Trouba dours Joconde und seines fürstlichen Kameraden. Diese zwei Opern bilden den fast isolirten Höhenpunkt in Isouard’s Schaffen, wir können sein Talent und seine Meisterschaft heute unmöglich mehr so hoch anschlagen. Sein im selben Jahre 1775 geborener Rivale Boieldieu hat ihn weit überflügelt. Die „Weiße Dame“, die Boieldieu in seinem fünfzigsten Jahre, nahe dem Ende seiner Laufbahn, geschrieben, ist noch heute die feinste Blüthe französischen Musikgeistes, die weiße Rose der Opéra Comique. Was Boieldieu als jun ger Mann componirte, dünkt uns jetzt dürr und veraltet — aber im Spätherbst seines Lebens, wie reich und blü hend hat sich da sein Talent entwickelt! Boieldieu ist alt geboren und jung gestorben. Das ganze musikalische Frank reich rüstet sich jetzt zur Feier von Boieldieu’s hundertstem Geburtstage, die in seiner Vaterstadt Rouen demnächst fest lich begangen wird. Eigentlich fiele dieses Jubiläum auf den 16. December; man hat es für den Juni vorausgenommen, um es heiterer und allgemeiner zu machen. Vier Tage wird das Fest dauern. Adrien Boieldieu, der Neffe des großen Componisten, liefert eine Messe solennelle dazu, Ambroise Thomas eine Cantate, welche unter freiem Himmel von einer starken Militärmusik und einer Unmasse von Sängern aufgeführt wird. Möge das schöne Fest nach Wunsch und Gebühr gelingen und aus den mitwirkenden jungen Musi kern ein künftiger Boieldieu auftauchen!

Die Opéra Comique schmachtet nach einem originellen, fruchtbaren Talente, das halbwegs den verwaisten Platz Auber’s einzunehmen vermöchte. Bis jetzt will dieser Messias sich nirgends ankündigen. Das Talent der Componisten, die Kunst der Sänger, die Theilnahme des Publicums — Alles scheint dem Versiegen nahe. Erst gestern ist eine neue komische Oper von Paladilhe (dem Componisten der be kannten Mandolinata „L’amour africain“) hier durchgefal len. Was die übrigen Componisten uns für Aussichten er öffnen an den großen und kleinen lyrischen Bühnen von Paris, sollen Sie aus meinem nächsten Briefe entnehmen.