Musikalische Briefe aus
Paris. III.
(Opéra Comique. — Aeltere Opern von
Grétry,
Isouard und
Boieldieu. — Der
Nachwuchs.)
Paris, im Mai
1875.
Ed. H. Von hohem Interesse waren mir, trotz der
mittelmäßigen Aufführung, die alten Opern: „Richard
Coeur-de-Lion“ von Grétry und „Joconde“ von
Isouard, welche an einem und demselben Abend (sechs
Acte!) gegeben wurden. Man dürfte sie kaum mehr an
derswo als in Paris noch zu hören bekommen. Die Opéra
Comique bewahrt ihren alten Meistern eine lobenswerthe
nationale Pietät und widmet ihnen in der Regel den Sonn
tag, spielt sie also nur selten, läßt sie aber niemals ganz
in Vergessenheit gerathen. In der Pariser Großen Oper
fehlt dieser conservative Zug, sie erinnert sich nicht einmal
mehr Spontini’s und geht hinter Rossini’s „Tell“ und
Meyerbeer’s „Robert“, also das Jahr 1830, nicht zurück.
Wie in der französischen Nation der Drang nach Neuem mit
der Pietät für das Alte Hand in Hand geht, zeigt am besten
das Théâtre Français, welches wöchentlich zwei, auch drei
Lustspiele von Molière zum lebhaftesten Ergötzen des dicht
gedrängten Publicums darstellt. Und Molière schrieb doch zu
einer Zeit, da wir Deutschen noch keine Literatur hatten oder
wenigstens keine, die man heutzutage anders als aus
Literatur-Geschichten kennen lernt. Tragödien von Racine
und Voltaire, Lustspiele von Sédaine, Marivaux, Beau
marchais erscheinen zeitweilig noch immer auf der Bühne
des Téâtre Français, auch des Odeon. Für die Tonkunst
gibt es keine Bildergalerien, keine Museen, wie für die
Schätze der alten Maler- und Bildhauerkunst. Die Sonn
tage der Opéra Comique vertreten hier, nach den modernen
Genüssen der Woche, die Stelle eines solchen Museums.
Im Jahre 1867 gab es in Paris noch zwei andere lyrische
Bühnen, welche eine Specialität in der Wiederbelebung
älterer Opern, auch anderer Nationen, suchten. Vor Allem
das Théâtre Lyrique, in welchem ich den „Freischütz“, „Abu
Hassan“, „Die Entführung aus dem Serail“ sah, und Les
Fantaisies Parisiennes, ein kleines Theater auf dem italie
nischen Boulevard, welches ältere Singspiele, wie „Le Sorcier“
von Philidor, „L’arbre enchanté“ von Gluck, Mo
zart’s „Gans von Kairo“, Boieldieu’s „Calife de
Bagdad“ (eine Dame verlangte jüngst in der Musikhandlung
„Le canif de Balzac“) mit Glück hervorsuchte. Diese beiden
Theater sind zu Grunde gegangen, durch Bankerott das eine, das
andere durch Feuer und Granaten. Es existirt zwar an der
Stelle des letzteren ein neues Théâtre Lyrique-Dramatique,
das aber keine Opern gibt und in sehr geringem Ansehen
steht. Kein Zweifel, daß der Franzose, im Theater wenig
stens, mit seiner künstlerischen Vergangenheit inniger zusam
menhängt, als der Deutsche. Der Franzose von heute fühlt
sich den Singspielen von Grétry und Monsigny ungleich näher
verwandt, als wir unseren späteren Componisten Dittersdorf,
Weyl, Winter, Gyrowetz. Das macht, weil die ältere Opéra
Comique der Franzosen von Haus aus ungleich nationaler
auftrat, weil sie französischer war, als die unsere deutsch.
Von Grétry’s zahlreichen Opern sind der „Blaubart“
und „Richard Löwenherz“ diejenigen, welche in Deutschland
sich am längsten erhalten hatten; seit 30—40 Jahren sind
sie so ziemlich verschwunden. Sie würden der gegenwärtigen
Generation, in Wien zumal, als etwas vollständig Veralte
tes erscheinen, an das wir nicht mehr anzuknüpfen wissen.
Anders in Paris, wo diesen Werken nicht nur die Pietät zu
Hilfe kommt (sie allein reicht niemals aus), sondern die
lebendig erhaltene Tradition sowol der Sänger als des
Publicums. Auch im Leben der Bühnendichtung gibt es eine
Art Verjährung, wie im bürgerlichen Rechte, sogar der Zeit
raum von 30 Jahren spielt da eine ähnliche Rolle. Die
Opéra Comique befleißt sich, diese Verjährung oft und
regelmäßig zu unterbrechen und das Publicum dadurch
im geistigen Besitze zu erhalten. Solche Continuität
des künstlerischen Eindruckes ist wichtiger, als man
bei uns meint. Der Franzose, welcher heute zum
„Richard Löwenherz“ seine Töchter führt, hat ihn
vor zwanzig Jahren mit seiner Frau und vor vierzig mit
seiner Mutter gehört. Bei uns fehlt dieser Zusammenhang,
und unserem Publicum würde es kaum anders ergehen als
mir, dem bei lebhaftester Verehrung für Grétry „Richard
Löwenherz“ doch gar zu einfach und knapp erschien in musi
kalischer Hinsicht. Nur ein sehr kleines, bescheidenes Theater
mit vorwiegend „gemüthlichem“ Publicum dürfte es in Deutsch
land noch damit wagen. Ganz anders erscheint Grétry’s
Werth und Bedeutung vom geschichtlichen Standpunkte. Das
Publicum mißt einen älteren Autor doch nur an seinen Nach
folgern, wobei er häufig zu kurz kommt — der Historiker
mißt ihn an seinen Vorgängern. Und welch großen Fortschritt
bezeichnet da Grétry! Durch die Gunst eines langen Lebens
und glänzender Erfolge hat Grétry diesen Fortschritt ge
sichert und fruchtbar gemacht für seine Nachfolger, welche
daran anknüpfen konnten, anknüpfen mußten. In seinen
Memoiren sagt Grétry, sein Streben sei, die melodiöse Schön
heit der Italiener mit dem dramatischen Geist der Franzosen
zu verschmelzen, sein höchstes Ideal, der PergoleseFrank
reichs zu werden. Unser Dittersdorf wünschte seinerseits
„ein deutscher Grétry zu werden“. In diesen zwei Geständ
nissen liegt wie im Keim die ganze Entwicklungsgeschichte
der älteren komischen Oper. Pergolese, Grétry, Dittersdorf:
Italien zuerst als Quelle, Frankreich zunächst daraus schöpfend
und den Eimer weiterreichend an Deutschland. Grétry, Phi
lidor, Monsigny, Dalayrac beherrschten im vorigen Jahrhun
dert das Repertoire aller deutschen Bühnen, und selbst wo
die Musik unserer Singspiele von Deutschen herrührte, das
Libretto war damals in neun von zehn Fällen eine Bearbei
tung nach dem Französischen.
Wenn man Grétry’s Memoiren liest, glaubt man oft
Gluck sprechen zu hören, so klar ist sein Bewußtsein, so
streng seine Anforderung in Bezug auf die Wahrheit des
dramatischen Ausdrucks. Wie Gluck, so verwendete Grétry
die äußerste Sorgfalt auf die Correctheit der Declamation.
Von späteren Franzosen hat namentlich Auber sich große
Leichtfertigkeit in diesem Punkt erlaubt, und es ist ein Ver
dienst Gounod’s, wieder ein Beispiel correcter französischer
Declamation zu geben. Grétry’s Analysen seiner eigenen
Oper gehören zu den lehrreichsten dieser Art; bis in den
einzelnen Tact, die einzelne Note gibt er Rechenschaft, warum
er eine Stelle so und nicht anders componirt habe. Als er
bei Erscheinen seines „Richard Löwenherz“, 1785, ob der
ausgezeichnet musikalischen Eignung des Textbuches beglück
wünscht wurde, ließ er diesen Vorzug nur bezüglich der be
rühmten Romanze gelten, durch welche der treue Blondel
den König rettet. Die ganze Oper sollte nach Grétry’s streng
dramatischer Anschauung nur declamirt und blos jene
Romanze gesungen werden. Er gesteht, daß er gegen diese seine
Ueberzeugung dem musikalischen Bedürfniß des Publicums
Concessionen gemacht habe, hält aber dennoch die Unterschei
dung fest, die er mit den geistreich lakonischen Worten prä
cisirt: „Il y a chanter pour parler, et chanter pour chanter.“
Die Romanze Blondel’s kommt im Verlauf der Oper neun
mal vor, ganz oder stückweise (ein „Leitmotiv“, hundert Jahre
vor R. Wagner!), jedesmal anders, blos gespielt oder ge
sungen, von einer oder von mehreren Stimmen, mit einfachster
oder mit reicher Begleitung u. s. w. Jede dieser Verände
rungen rechtfertigt Grétry mit dem Scharfsinn eines Advo
caten. In seinen Anforderungen an die Ausdrucksfähigkeit der
Musik ging Grétry offenbar zu weit, sie wurde ihm fast
zur fixen Idee und verleitete ihn, jeden Gemüthszustand,
auch „l’optimisme“, „l’entêtement“ und dergleichen musika
lisch photographiren zu wollen. Zum Glück trug seine musi
kalische Natur in der Praxis den Sieg davon über seine
geistreichen theoretischen Schrullen. Was uns heute noch in
Grétry’s Memoiren fesselt, ist nicht blos der klare, an
Kunstverstand seine Zeitgenossen überragende Denker, sondern
ebensosehr der lebensfrische, liebenswürdige Mensch. Seine
musikalischen Verdienste erschienen den Zeitgenossen verklärt
durch den Zauber seiner Persönlichkeit, endlich durch den
traurigen Ausgang seines vielbewegten Lebens. Seine drei
Töchter, blühende, hochbegabte Mädchen, starben rasch nach
einander; durch die Revolution verlor er sein kleines Ver
mögen, sein Einkommen. Alt, einsam und verarmt stand der
Mann da. Aber der Eine Trost verblieb ihm, daß seine
Melodien im Volke lebten. Blondel’s Romanze aus „Richard
Löwenherz“ ward das Bundeslied der französischen Edel
leute, welche Louis XVI. aus den Banden der Constitution
retten wollten und damit nur seinen Untergang beschleu
nigten. Und als Napoleon’s Soldaten aus dem furchtbaren
russischen Feldzug nach Frankreich heimkehrten, da stimmten
sie auf dem traurigen Rückmarsch Grétry’s Melodie an:
„Où pent-on être mieux, qu’au sein de sa famille!“
Grétry starb im Herbst 1815, vierundsiebzig Jahre alt, in
der Eremitage zu Montmorency, demselben stillen, ländlichen
Asyl, das vor ihm J. J. Rousseau bewohnt und geliebt hatte.
Grétry’s Geist und Styl wirkt heute noch fort in Frank
reich. Kein anderer Zweig der Bühnendichtung weist eine
solche Continuität des Styls, eine so geschlossene Fortent
wicklung auf, wie die Opéra Comique der Franzosen. Von
Grétry zu Isouard und Boieldieu, zu Auber, Adam u. s. f.
Die Aufführung des „Joconde“ von Isouard am selben
Abend mit Grétry’s „Richard“ gewann durch dieses Ver
hältniß ein doppeltes Interesse. Das Textbuch zu „Joconde“
ist vortrefflich, und ein liebenswürdig chevaleresker Zug durch
weht die Musik. Mehrere Ensemble-Nummern im zweiten
und dritten Act machen heute noch die schönste Wirkung, frei
lich zumeist durch das Verdienst des Dichters, der hier ganz
allerliebste Situationen geschaffen hat. In den ersten komi
schen Opern der Franzosen war die Musik gleich Null, sie
wuchs mit der Zeit an Ausdehnung und Bedeutung, aber
das große Gewicht, das man den Textbüchern beilegte, blieb
ihnen bis heute unbenommen. Es freut mich jedesmal, wenn
ich im Foyer der Opéra Comique neben den Büsten der
großen Componisten auch jene ihrer Textdichter erblicke, von
Sedaine und Etienne bis auf Eugène Scribe. In Deutsch
land hat seinerzeit Isouard’s musikalisch geringfügigere „Cen
drillon“ die stärksten Sympathien gefunden; die gemüthvolle
Herzlichkeit des Aschenbrödel-Märchens, dem sich die schlichte
liedmäßige Musik vortrefflich anschmiegt, war den Deutschen
blutsverwandter als die lockeren Abenteuer des Trouba
dours Joconde und seines fürstlichen Kameraden. Diese
zwei Opern bilden den fast isolirten Höhenpunkt in Isouard’s
Schaffen, wir können sein Talent und seine Meisterschaft
heute unmöglich mehr so hoch anschlagen. Sein im selben
Jahre 1775 geborener Rivale Boieldieu hat ihn weit
überflügelt. Die „Weiße Dame“, die Boieldieu in seinem
fünfzigsten Jahre, nahe dem Ende seiner Laufbahn, geschrieben,
ist noch heute die feinste Blüthe französischen Musikgeistes,
die weiße Rose der Opéra Comique. Was Boieldieu als jun
ger Mann componirte, dünkt uns jetzt dürr und veraltet
— aber im Spätherbst seines Lebens, wie reich und blü
hend hat sich da sein Talent entwickelt! Boieldieu ist alt
geboren und jung gestorben. Das ganze musikalische Frank
reich rüstet sich jetzt zur Feier von Boieldieu’s hundertstem
Geburtstage, die in seiner Vaterstadt Rouen demnächst fest
lich begangen wird. Eigentlich fiele dieses Jubiläum auf den
16. December; man hat es für den Juni vorausgenommen,
um es heiterer und allgemeiner zu machen. Vier Tage wird
das Fest dauern. Adrien Boieldieu, der Neffe des großen
Componisten, liefert eine Messe solennelle dazu, Ambroise
Thomas eine Cantate, welche unter freiem Himmel von
einer starken Militärmusik und einer Unmasse von Sängern
aufgeführt wird. Möge das schöne Fest nach Wunsch und
Gebühr gelingen und aus den mitwirkenden jungen Musi
kern ein künftiger Boieldieu auftauchen!
Die Opéra Comique schmachtet nach einem originellen,
fruchtbaren Talente, das halbwegs den verwaisten Platz
Auber’s einzunehmen vermöchte. Bis jetzt will dieser Messias
sich nirgends ankündigen. Das Talent der Componisten, die
Kunst der Sänger, die Theilnahme des Publicums — Alles
scheint dem Versiegen nahe. Erst gestern ist eine neue
komische Oper von Paladilhe (dem Componisten der be
kannten Mandolinata „L’amour africain“) hier durchgefal
len. Was die übrigen Componisten uns für Aussichten er
öffnen an den großen und kleinen lyrischen Bühnen von
Paris, sollen Sie aus meinem nächsten Briefe entnehmen.