Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3859. Wien, Dienstag, den 25. Mai 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Nr. 3859. Wien, Dienstag, den 25. Mai 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 25.05.1875
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Musikalische Briefe aus Paris. V. (Johann Strauß. — Die Musik in den Operetten-Theatern. — Opéra Comique. — L’amour africain“, von Paladilhe. — Deutsche Musik in Paris.) Paris, im Mai 1875.

Ed. H. Anerkannte Königin unter den Pariser Ope retten ist zur Stunde „La reine Indigo“. Daß unser Jo hann Strauß mit dieser Operette hier Furore macht, ist eine unanfechtbare Thatsache; noch immer sind alle Logen und Fauteuils vergriffen in dem kleinen Renaissance-Theater, welches seit drei Wochen „Indigo“ spielt und nichts als Indigo“. In dem heiteren, leichtbewegten Temperament dieser Musik findet der Pariser ein seinem Naturell ver wandtes Element; hat er doch unstreitig etwas vom Wiener Blut. Zugleich aber prickelt in den Walzermotiven, welche die Pulsader dieser Operette bilden, der Reiz von etwas fremdartig Nationalem. „Comme cela est viennois!“ hört man die vergnügten Pariser unermüdlich ausrufen. Die glückliche Vereinigung eines blutsverwandten Elementes mit einem exotischen erklärt den Enthusiasmus der Franzosen für Strauß’ Musik. Ein Wiener kann in einem hiesigen Salon oder Musikzimmer nichts Vortheilhafteres thun, als den Leuten Strauß’sche Walzer vorspielen. Ich hege eine lebhafte Vorliebe für die Tanzmusik unseres Strauß, bei sehr mäßiger Bewunderung für seinen „Indigo“, der übrigens in dramatischer Hinsicht von „Fledermaus“ und „Cagliostrobereits übertroffen ist. Allein in der Fremde siegt das Ge fühl patriotischer Genugthuung über manches kritische Be denken, und so habe ich denn bei der Première von „In digo“ so wienerisch mit applaudirt wie ein Pariser, also gleich sam vierhändig. Und es schmälert den Triumph des Com ponisten keineswegs, daß seine gewinnende persönliche Liebens würdigkeit und Bescheidenheit das Publicum dieser ersten Vorstellung noch günstiger gestimmt hatte. Für die Kritik darf nur das Werk existiren, nicht der Autor, gewiß. Aber nur ein Kritiker, dem alles Menschliche fremd geworden,

wird sich nicht darüber freuen, wenn ein von Talent und Erfolg gekrönter Componist zugleich ein lieber Kerl ist. Ein Vorzug der Strauß’schen Musik sticht übrigens hier mehr als bei uns hervor: der Reichthum und die Natürlichkeit der melodiösen Erfindung, im Gegensatz zu dem sterilen Esprit und den gesuchten Wendungen der jüngeren franzö sischen Tondichter. Die Fluth der Strauß’schen Melodie strömt in einem engen Bette, aber sie füllt es bis an den Rand; ein klarer, frischer Gebirgsbach, an dessen Ufern Pri meln und Vergißmeinnicht sich drängen. In den Pariser Componisten überragt der dramatische Geist, die feine, ge übte Hand, in Strauß das musikalische Talent von Gottes Gnaden.

Niemand wird behaupten, Strauß habe seinen Pariser Erfolg der Umarbeitung des Librettos oder der Trefflichkeit der Aufführung zu danken. Der unglaublich alberne Text, von Haus aus der Krebsschaden dieser ersten Strauß’schen Operette, ist in Paris vereinfacht, aber kaum verbessert wor den. Mit der Umgestaltung des Königs Indigo in eine ver witwete, mannstolle Königin (eine Gerolstein in ihrer tief sten Erniedrigung) hat man zwar einen Wust schrecklicher „politischer“ Witze beseitigt, dafür aber viele andere schmutzige Wäsche eingeschmuggelt. Unsäglich komisch für den Oesterrei cher ist die hiesige Einführung des Walzer-Terzetts im er sten Acte („Ja, so singt man“ etc.). Um die schwermüthige Fantasca zu erheitern, rufen zwei Herrchen vom Indigohofe wiederholt „Laïtou!“ — ein „Tiroler Wort“, das ihr die Heimat zurückrufen soll. Und sie singt nun von dem „doux pays, ou le Danube passe“. Nun, in dem Tirol, durch welches die Donau fließt, mag man auch das Wort Laïtou verstehen. Als Verfasser des französischen Textbuches sind die Herren Jaime und Victor Wilder genannt. Von Ersterem rührt wahrscheinlich die abgeschmackte Intrigue, von Letzterem die gute Uebersetzung der Gesangsstücke her. Victor Wilder hat in einer Reihe von Arbeiten seine Ge schicklichkeit bewiesen, deutsche Operntexte in getreuem An schmiegen an die Musik ins Französische zu übertragen. Der erste Donauwalzer, welcher hier in das letzte Finale einge

legt und responsorienartig — von zwei zu zwei Tacten ge theilt zwischen Chor und Solostimmen — gesungen wird wiegt sich allerliebst auf den Worten:

Danube d’azur — (Quels sont ces chants ?) Plus clair qu’un ciel pur — (Ces doux accents?) O fleuve adoré! — (Rasant la mer,) fleuve sacré! — (Planant dans l’air.) etc.

Die Darsteller spielen frisch, mit kecker Laune, singen aber ganz mittelmäßig. Von Mademoiselle Zulma Bouffar kann man wirklich nur den französischen Ausdruck brauchen, „qu’elle dit bien ses couplets“, denn von Gesang ist da wenig zu merken. Sie hat „chic“ (zweite Vergleichungs stufe „chien“) und mag die meisten Buffosängerinnen hier überragen; aber ihre Fantasca mit der Leistung der Geistinger auch nur vergleichen zu wollen, wäre ein Frevel. Für die von den hiesigen Journalen ausposaunte Dedication der „Indigo“-Partitur „an die unvergleichliche und unüber treffliche Fantasca-Sängerin Zulma Bouffar“ sind Herrn Johann Strauß dereinst einige Jahre Fegfeuer gewiß. Die Königin Indigo gibt Madame Alphonsine, eine vortreff liche komische Alte im Style unserer Braunecker-Schäfer; den Eunuchen Romadur Monsieur Bauthier, ein gewandter Komiker. Beide übertreiben jedoch das Bedenkliche ihrer Rollen unbarmherzig, insbesondere in der scandalösen Schlaf scene mit den wollüstigen Zuckungen im Walzer-Rhythmus. Unmöglich wäre in Wien diese Art von Komik, der ich kei nen anderen Reiz abgewinnen konnte, als den Brechreiz.

Von dem Tenoristen, welcher den Jonio sang, wollen wir gar nicht sprechen. Dieser heisere Canarienvogel schien nach den ersten Tönen immer selbst zu erschrecken über die Dünne seines Stimmchens. Schweigen wir auch von den essigsauren Frauenchören und dem armseligen Orchester des Renaissance-Theaters: vier Violinen (für Strauß auf dessen Flehen um zwei vermehrt), eine Flöte, eine Oboë, ein Fa gott, keine Harfe! Daß die Pariser an die musikalische Aus führung ihrer Operetten bescheidenste Anforderungen stellen, wußten wir längst, wie tief aber diese Ansprüche sich noch gesenkt haben seit acht Jahren, das erregt Erstaunen.

Offenbach und Lecocq sprechen mit einer wehmüthigen Begeisterung von der musikalischen Tüchtigkeit und Fülle, mit der ihre Operetten in Wien auftreten; Johann Strauß dürfte ähnliche Vergleiche anstellen. In Offenbach’s „Vie parisienne“ wetteifern hier die drei Sängerinnen der Va riétés an Stimmlosigkeit und Falschsingen; selbst dem so specifisch französischen Brief-Rondo der Metella war die Sängerin nicht gewachsen. Das einzige originelle und glän zende Talent, das seit den Blüthentagen von Hortense Schneider in diesem Genre hier aufgetaucht, Madame Judic, bekam ich nicht zu hören. Sie wird eben in Peters burg gefeiert wie eine Patti, und dürfte von dort ebenso verhätschelt und verdorben wie bereichert zurückkehren.

In den Bouffes Parisiens spielt man allabendlich eine Revue, „Les hannetons“. Diese „Revues“, eine regelmäßig wiederkehrende und echt nationale Erfindung, wie die Weih nachts-Feerien in London, behandeln, meist travestirend, die auffallendsten Stadtereignisse der abgelaufenen Saison. Ein sehr loser Faden verbindet die Reihe komischer Scenen; aber die Mehrzahl derselben ist überaus wirksam gemacht, mit jenem Uebermuth lustiger Erfindung, den wir so oft an den französischen Comödiendichtern anstaunen. Gleich die Einlei tung ist ein glücklicher Einfall; die ersten Maikäfer kommen, den in Pelzstiefeln am Kamin fröstelnden Frühling nach Paris abzuholen. Die vier Mädchen, welche in schwarz-weißen Reise kleidern und befiederten Strohhütchen, mit einem kleinen Re genschirm und umgeschnalltem Plaid erscheinen, sind mit echt französischem Geschmack und Esprit ausstaffirt. Eine Scene parodirt das Glatteis vom vorigen Winter. Wie die Dame, welche ihren Anbeter zum Rendezvous auf die Straße be stellte, hin und her gleitet, stolpert, endlich hinfällt, desglei chen der Galan mitten in seinen Liebeserklärungen, endlich der rachedürstend herbeieilende Ehemann, schließlich sogar der Gendarm, welcher dem Spectakel ein Ende machen will — das Alles wird mit überwältigender Komik gespielt. Natür lich kommt auch das neue Opernhaus auf die Bühne, und was sonst noch! Die Musik ist aus lauter älteren beliebten Stücken von Offenbach gefällig zusammengestoppelt. Zwei

schöne Schauspielerinnen, Théo und Péschard, von denen Letztere auch ein wenig singen kann, haben die Hauptrollen und überraschen durch zahlreiche Verkleidungen.

Seit meinem letzten Berichte habe ich Paladilhe’s No vität „L’amour africain“ gehört, die in der Opéra Comique vor halbleerem Hause einem baldigen Ende entgegensickert. Eine so unglaubliche, so fundamentale Verirrung wie dieses Werk ist selten in der Operngeschichte, und ein bemerkens werthes Ausnahmsbeispiel, wie selbst das eminent theater kundige Volk der Franzosen einmal etwas völlig Undrama tisches und Widermusikalisches auf die Bühne bringen kann. Zwei berühmte Schriftstellernamen sind zunächst schuld daran. Prosper Mérimée, in dessen „Théâtre de Clara Gazul“ sich der Stoff vorfindet, und Legouvé, der hochangesehene Akademiker, welcher ein Opernbuch daraus gemacht. Die wenige Druckseiten füllende „Faynète“ von Prosper Mérimée spielt im Orient zwischen zwei Freunden und einer Sklavin. Zeïn, der Wüstensohn, der einst dem Türken Nouman das Leben gerettet, verlangt zum Danke dafür dessen schöne Sklavin; auf ihre Weigerung hin ersticht er zuerst das Mädchen, dann den Freund, und will sich eben auch selbst erstechen, als sein Diener mit der Meldung ein tritt: „Monsieur est servi!“, worauf alle Drei aufspringen und sich lustig mit einander zum Souper begeben. Der Vorhang fällt. Mérimée selbst hat gewiß nicht im Traume an eine Bühnenaufführung dieses wunderlichen Einfalls gedacht. Daß ein alter Theater-Praktiker wie Legouvé, der Dichter von „Adrienne Lecouvreur“, allen Ernstes ein Opern-Libretto daraus macht, ist die erste Unbegreiflichkeit; die zweite, daß ein Com ponist, ein Pariser zumal dieses Unding componirt; die Willfährigkeit des Theater-Directors, es aufzuführen, die dritte; die himmlische Selbstverleugnung der Sänger die vierte; die Langmuth des bis zu Ende ausharrenden Pu blicums die fünfte. Legouvé hat zu der oben erzählten Scene als Einleitung einen ersten Act hinzugedichtet: Ein sommerfrischelnder Graf sammt Gemalin treffen auf ihrem Landgut mit drei aus Rom heimkehrenden Künstlern zusam

men und beschließen, auf ihrem Haustheater die Mérimée’sche Scene, die Einer von ihnen componirt hat, aufzuführen. In diesem ersten Act stehen fortwährend die fünf Personen (in modernem Sommeranzug) neben einander auf der Bühne; je eine singt immer etwas vor, die vier anderen Unglück lichen hören zu; es geschieht absolut gar nichts. Mit wach sendem Erstaunen sieht man diesen langweiligen Act sich ab spielen, dem als zweiter jene orientalische Tragödie folgt, mit demselben barocken Schluß: „Das Souper ist aufge tragen!“ Das Uebermaß der Langweile müßte in Gelächter umschlagen, wäre die Musik nur nicht so entsetzlich ernst und pathetisch. Nouman, der gerade die Sklavin auf dem Markte gekauft hat, wie etwa Türken ein hübsches Stück Menschen fleisch kaufen, ergeht sich in einem schwärmerischen Liebesduett mit ihr, sentimental wie Lohengrin und Elsa! Auf die Frage seines Haushofmeisters, wodurch ihm denn Zeïn das Leben gerettet habe, beehrt ihn dieser mit einer langen Arie über die Unannehmlichkeit des Verdurstens in der Wüste. Der Andere hört ihm gelassen zu. Nun kommt Zeïn und singt dem Türken eine Biographie seines Pferdes vor, mit Schlachtgetümmel und Heldenthaten, Alles in heroischem Styl. Dabei rennt er wie ein wilder Esel auf der Bühne auf und nieder, während wieder der Andere, die Hände über dem Bauch gefaltet, resignirt zuhört. In keiner einzigen Scene entspringt die Musik spontan aus der Situation; überall wird sie plump aufgeklebt. Dabei keine Spur von Humor oder Leichtigkeit, nicht eine heitere Nummer in dieser ganzen „komischen Oper“! Die Partitur ist mit äußerstem Fleiß ausgearbeitet, sie perlt von Schweißtropfen. Rein musikalisch betrachtet sind manche Einzelheiten, wie ein Quintett im ersten Act, recht hübsch. Gern würde man sie als einen tröstlichen Beweis für das Talent des Compo nisten anführen, hätte er nur dieses Libretto nicht componirt. Es ist, als sollte man Jemandem den Beruf zum Natur forscher zuerkennen, der absolut nicht begreifen kann, daß die Erde sich bewegt. Legouvé’s „L’amour africain“ ist ja nicht ein „schlechtes Textbuch“, wie so viele andere, die auch ihren Componisten in der Noth gefunden haben, es ist gar kein

Textbuch, sondern das gerade Widerspiel davon, die ab solute Negation eines musikalischen Bühnenstückes. Ein Com ponist, welcher das nicht fühlt, mag ein recht tüchtiger Musiker sein, aber er begreift nicht, daß die Erde sich bewegt.

Paladilhe, ein liebenswürdiger, in den besten Kreisen geschätzter junger Mann, wird zu thun haben, um sein durch ein kleines Lied so rasch gewonnenes Publicum von neuem zurückzuerobern. Der Componist der „Mandolinata“ hat sich die Mandoline der öffentlichen Gunst gründlich verstimmt. Für deutsche Hörer hat diese dramatische Mißgeburt einiges Interesse durch ihre sichtlichen Spuren Wagner’schen Ein flusses. In der Tonmalerei, der Instrumentirung, den An klängen an „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ zeigt sich dieser Einfluß (an sehr unrechter Stelle) zum erstenmale in der komischen Oper der Franzosen, nachdem er in der großen („Hamlet“, „Romeo und Julie“) sich schon seit einigen Jahren bemerkbar gemacht. Alle jüngeren französischen Com ponisten interessiren sich lebhaft für Richard Wagner, den sie allerdings selten über den „Lohengrin“ hinaus kennen. Das Pariser Publicum will freilich nichts von Wagner wissen, es hat seinen „Tannhäuser“ ausgepfiffen, ohne ihn anzuhören; es wollte ihn nicht hören, sondern nur verur theilen. Unter den jetzigen politischen Nachwehen und der gehässigen Erinnerung an Wagner’s persönliches Gebahren zeigt sich wenig Aussicht auf baldige Aufführung seiner Opern. Aber in Musikerkreisen beginnen seine Werke lebhaft zu gähren, und daß ich Lecocq, den Componisten der „Ma dame Angôt“, bei dem Studium des „Lohengrin“ antraf, ist ein interessantes Seitenstück zu dem Brahms’schen Requiem“ auf dem Clavierpult von Verdi. In Straß burg, wo ich eine recht gute deutsche Aufführung von Rossini’s Tell“ hörte, hält die französische Einwohnerschaft sich gänz lich fern vom Theater; nur als im letzten Winter mehr mals „Lohengrin“ gegeben wurde, kamen — wie mir mein Freund Professor Scherer mittheilte — auch die Franzosen in die Oper.

Ist es mehr der Reiz des Fremdartigen und das In teresse an einem tumultuarisch discutirten Streitobject, was

die Franzosen zu Richard Wagner lockt, so gewinnt hier im Gegentheil Johannes Brahms mit friedlicherer und an dauernder Gewalt die Freunde echter Musik. Mit Freuden sah ich in Paris seine Musik weit über mein Erwarten ge kannt und geliebt. Gounod spricht mit Begeisterung von dem Clavier-Concert, Ambroise Thomas von dem Requiem, Stephen Heller, der Componist so vieler geistvoller Clavierstücke, kennt und liebt jede Note von Brahms, und Saint-Saëns vermag den Einfluß dieses Componisten auf seinen Styl nicht zu leugnen. Am meisten wirkt viel leicht für Verbreitung der Brahms’schen Musik unsere ge feierte Landsmännin Frau Szarvady, den Wienern als Fräulein Wilhelmine Clauß in guter Erinnerung. Die Ungarischen Tänze“ (von ihr zuerst öffentlich gespielt) kann man nicht schöner hören, und jede Novität von Brahms findet in ihr eine begeisterte Interpretin. Man kennt die großen Verdienste dieser Künstlerin um deutsche Musik in Paris. Sie war die Erste, die hier Compositionen von Sebastian Bach und Robert Schumann öffentlich vortrug. In einem der letzten Conservatoriums-Concerte spielte sie die selten gehörten drei letzten Sonaten von Beethoven, und zwar mit so vollendetem, überzeugendem Ausdruck, daß die besten Kritiker gestanden, man habe erst durch den Vortrag von Wilhelmine Szarvady die ganze Schönheit dieser Com positionen kennen gelernt. Die Eroberungen von Brahms gehen bereits über seine Claviermusik hinaus. Der vorige Winter brachte sogar das „Deutsche Requiem“ in das Pro gramm von Pasdeloup’s populären Concerten. Pasde loup ist ein sehr energischer, um den musikalischen Fort schritt hochverdienter Mann, aber kein guter Musiker. Er hat das Deutsche Requiem so sehr verstümmelt, daß selbst die wohlwollende Pariser Kritik über die „fâcheuses mutilations“ dieser Aufführung klagte; trotzdem machte das Werk einen mächtigen Eindruck auf die Hörer. Kurz, wenn Brahms sich endlich einmal entschlösse, nach Paris zu kommen, er würde ohne Zweifel mit einem Triumphlied empfangen werden, zwar nicht mit dem „Triumphlied auf den Sieg der deutschen Waffen“, aber mit einem auf den Sieg der Brahms’schen Musik.