Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3873. Wien, Dienstag, den 8. Juni 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Nr. 3873. Wien, Dienstag, den 8. Juni 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 08.06.1875
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Musikalische Briefe aus Paris. VI. Die Große Oper. Paris, Ende Mai 1875.

Ed. H. Ein Urtheil über die Große Oper habe ich mir für den Abschied verspart; ich wollte abwarten, bis ich von ihrer Pracht etwas weniger geblendet, von ihren Aufführun gen etwas mehr erbaut sein würde. Zu sehr häufigem Be such fand ich trotzdem wenig Anreiz. Man konnte ja volle fünf Monate in Paris zubringen und hatte in netto fünf Abenden das ganze Repertoire des neuen Opernhauses erle digt. Seit seiner Eröffnung am 5. Januar 1875 (genau am Jahrestag des Bombardements von Paris) hat es bis Ende Mai nur fünf Opern zur Aufführung gebracht: „Die Jüdin“, Tell“, „Hamlet“, „Die Favorite“ und ganz zuletzt die Hugenotten“. Selbstständige, den Abend ausfüllende Ballette gibt man nicht mehr, nur Donizetti’s „Favorite“ erhält ob ihrer kurzen Dauer zwei Acte eines älteren Ballets („La Source“) angehängt. Die „majestätische Langsamkeit“, welche die Pariser Große Oper von altersher als unauslöschliches Merkmal wie eine Priesterweihe an sich trägt, wird jetzt durch die Mühen eines neuen scenischen Betriebes noch vermehrt. Unser Wiener Hofopernhaus hat in den ersten fünf Monaten seines Bestandes dreimal so viel Opern gebracht, als das Pariser, obendrein mit einem Personal, welches täglich (ab wechselnd im alten und im neuen Hause) beschäftigt war. Die Pariser Oper bietet nur vier Vorstellungen wöchentlich, wo von drei im Abonnement. Daß man sich nicht mindestens zu einer fünften entschließt, nimmt Wunder, da der Andrang zu den Vorstellungen ein außerordentlicher und das Haus meistens schon acht Tage vorher ausverkauft ist. Diese Vor merkungen garantiren dem Logen- oder Fauteuil-Bewerber nur einen bestimmten Abend, nicht eine bestimmte Oper. Es ist eben das neue Haus selbst und nicht die Opernvorstel lung, worauf jetzt alle Neugierde sich concentrirt. Herr

Halanzier mag geben, was er will, allenfalls eine glänzend beleuchtete Zwischenact-Musik, und sein Theater füllt sich bis an die Decke. Das sind goldene Tage für einen Director. Eine tägliche Einnahme von 19,000 Francs, bei aufgehobe nem Abonnement 21- bis 22.000, dazu eine jährliche Staats subvention von nahezu einer Million Francs! Doch hat die französische Regierung mit Eröffnung des neuen Hauses die weise Maßregel eingeführt, diese Subvention einer beweg lichen Scala zu unterwerfen; der Staatsbeitrag nimmt ab, sobald die Einnahmen des Directors eine gewisse Summe überschreiten.

Die Architektur des neuen Opernhauses und dessen innere Ausschmückung durch Fresken, Statuen, Mosaiken ist oft und ausführlich beschrieben. Hier kann diese Schilderung um so leichter wegbleiben, als ich über diese Fächer kein maßgebendes Urtheil abzugeben und nur ganz allgemein einen individuellen Eindruck mitzutheilen vermag. Das neue Theater ist ein Prachtbau, dessen sich die Pariser mit be rechtigtem Stolze freuen dürfen. Vierzehn Jahre währte der Bau, also doppelt so lange als der des Wiener Opernhauses. Der Glanz der inneren Einrichtung übertrifft die Wirkung des Gebäudes selbst, dessen Hauptfaçade etwas gedrückt und gedrängt erscheint, jedoch bei wiederholter Betrachtung uns immer schönere Details enthüllt. Gestört haben mich nur die beiden riesigen goldenen Genien auf der Attica, welche einen Arm und beide Flügel senkrecht gegen Himmel auf spreizen und mit ihren unruhigen Linien, weithin sichtbar, das Auge überallhin verfolgen. Beim Eintritt in das Thea ter fällt uns gleich einer seiner Hauptvorzüge ins Auge: der große Raum aller den Saal umgebenden Localitäten; zunächst die weite Eintrittshalle (grande vestibule) mit den sitzenden Statuen berühmter Tondichter, der imposante, säulengetragene Wartesaal, der Zugang zum Controls- Bureau, dessen mit breiter Amtskette geschmückte Beamte mit der Würde eines Gerichtshofes zu Rath sitzen über Aus- und Eingehende. Wie bei uns, so bildet auch in Paris das herrliche Stiegenhaus mit den breiten Logentreppen den Glanzpunkt des ganzen Baues: dem zunächst das Foyer.

Dieses ist viel größer und glänzender als das Wiener, so hoch, daß man sich vergeblich den Hals verrenkt, um in den Deckengemälden von Baudry den Zusammenhang der vielen durch- und übereinanderpurzelnden Figuren zu finden. Man meint zu erblinden zwischen diesen goldstrahlenden Wänden, hundertflammigen Lustern und riesigen Spiegeln, welche all den Glanz und das Gewimmel ins Unabsehbare fortsetzen. Uebersättigt von dieser glitzernden Pracht, lenken wir aus dem großen Foyer in das „Avant-Foyer“. Mytholo gische Wandgemälde, in kostbarer Mosaik ausgeführt, schmücken dasselbe; es ist, als hätte ein Stück von der byzantinischen Pracht der Marcuskirche sich hieher verirrt. Mosaik ist die specielle Schwärmerei Garnier’s, des Architekten der Pariser Oper; er mußte Arbeiter aus Vene dig kommen lassen, da sich in Frankreich Niemand auf diese Kunst versteht. Wunderschön ausgeführt, erscheinen die Mosaikbilder an dieser Stelle doch wie eine unmotivirte Im provisation. Ueberhaupt ist für meine Empfindung das Alles zu luxurirend, zu goldschwer, zu farbenlaut, zu anmaßend mit Einem Worte, gerade für ein Schauspielhaus, dessen äußere Räumlichkeiten bei aller Schönheit und Bequemlich keit doch nicht zur Hauptsache werden und alle Aufmerksam keit auf sich ablenken sollen. Es scheint mir diese Art von Ausschmückung weit hinauszugehen über künstlerische Schön heit, sie athmet mehr die Prahlerei der Verschwendung, und wir denken zuerst an den Millionär, dann an den Künstler. Das Stiegenhaus des Wiener Operntheaters mit seinem weißen Marmor und seinen schönen architektonischen Verhält nissen, unser Foyer mit seiner heiteren Eleganz und seinen so poetisch componirten Fresken wirken nicht so blendend, aber edler, vornehmer. Die Wandgemälde unseres unvergeß lichen Schwind illustriren bekanntlich Scenen aus der berühmtesten Opern, die in Wien Epoche gemacht haben. Etwas der Art, irgend ein Historisches, vermisse ich schwer in der malerischen Ausschmückung der Pariser Oper. Da herrscht nur Mythologie, nichts als Mythologie. Von den Musen (die auf acht Stück reducirt sind, weil man auf die Cassette für die neunte vergessen) bis zu den großen

Deckengemälden: „Die Harmonie und die Melodie“, „Apol lo’s Sieg über Marsyas“ etc., lauter allegorische und mytho logische Figuren! Es wäre ihnen noch Raum genug ge blieben, wenn man wenigstens Einen Saal, Ein Foyer den großen bedeutungsvollen Personen und Ereignissen gewid met hätte, mit welchen die Geschichte der französischen Oper reicher als jede andere verknüpft ist. Schwere, goldstarrende Pracht charakterisirt auch den Zuschauerraum, zumeist den die Bühne einrahmenden Theil mit den Prosceniums-Logen. Alle diese massiven goldenen Reliefs, goldenen Lyren, gol denen tubablasenden Genien u. s. w. wirken zugleich nieder drückend und zerstreuend. Die Zeit dürfte daran Manches mildern, einmal durch die Macht der Gewohnheit in den Zuschauern, sodann durch das allmälige Verblassen des Glanzes selbst.

Der Saal läßt an Bequemlichkeit kaum etwas zu wün schen übrig. Die Fauteuils sind breit, die Bankreihen weit genug von einander abstehend, der Zugang bequem. Ein großer Teppich bedeckt den ganzen Boden, macht die Tritte der rastlos Kommenden und Gehenden unhörbar und gibt dem Parquet das elegante Aussehen eines Salons. Die Ventila tion hält keinen Vergleich aus mit der unschätzbaren Ein richtung im Wiener Operntheater. Inmitten so vielen Com forts und Luxus bleiben zwei Uebelstände der Pariser Oper unbegreiflich: die Garderobe und das Buffet. Das Ideal einer Garderobe für die Theaterbesucher ist noch nicht ver wirklicht. Gedränge, Zugluft und Unordnung scheinen die Pathengeschenke jedes solchen Institutes zu sein, sogar in dem theuersten Theater der Welt, der italienischen Oper in London. Die geräumigste und geschützteste Garderobe, die es wol überhaupt gibt, besitzt das Wiener Opernhaus. In Paris nun bestehen die Garderoben für das Parquet in drei bis vier kleinen Verschlägen, vor deren Barrière nur immer drei Herren zugleich stehen und bedient werden kön nen. Noch schauerhafter, ja durch den Contrast mit dem anstoßenden glänzenden Foyer fast gespenstisch ist das Buffet, ein trauriger, schlecht beleuchteter Gang mit grauen, nackten

Wänden und so gut wie keiner Einrichtung. Die Vermuthung, daß diese einer alten Kaserne oder Strafanstalt würdige Credenz eine provisorische sei, drängt sich von selbst auf; in der That fehlt nur das Gold, um das ursprünglich projec tirte elegante Buffet herzustellen. Man gibt jedoch wenig Hoffnung, daß diese Barake vor Jahr und Tag beseitigt werde, die man gerade hier um keinen Preis auch nur eine Woche lang hätte dulden sollen.

Die drei wuchtigen Schläge auf den Holzblock er schallen, das Signal zum Aufziehen des Vorhanges; im Grunde ein antediluvianisches Surrogat für das Glocken zeichen, aber seiner ehrwürdigen Tradition halber festgehalten in ganz Frankreich. Diese drei Schläge und die in großen Ziffern über der Bühne prangende Jahreszahl 1669 sind — abgesehen von einigen Tondichter-Büsten — das Ein zige, was an den zweihundertjährigen Bestand der „Aca démie nationale de Musique“ erinnert. Der Vorhang (ein „Vorhang“ im strengen Sinne, Purpur mit weißer Spitzen bordure, ohne Figuren) geht in die Höhe. Man gibt die Hugenotten“. Mit Befriedigung bemerken wir, daß die Fiedelbogen der Geiger uns nirgends die Aussicht auf die Bühne durchkreuzen und daß die Instrumente den Gesang nicht decken: das Orchester liegt tiefer als bei uns; mit Recht. Die Akustik ist gut, wenngleich nicht so vortrefflich, wie in dem abgebrannten Opernhause der Rue Le Pelletier, in welchem die Holzconstruction vorwaltete. Dem Gesang er weist sie sich günstiger als dem Orchester, von welchem man mehr Kraft und Glanz erwartet. Die Schuld liegt nicht in der tieferen Lage des Orchesters, sondern in seiner für so großen Raum ungenügenden Besetzung. Zehn bis vierzehn Geigen mehr, und der Uebelstand dürfte verschwinden. Und nun zur Aufführung selbst. Es darf ungescheut ausgesprochen werden, daß die musikalischen Leistungen der Pariser Oper in keinem Verhältniß stehen zu der Pracht und Großartig keit des neuen Baues. Diese Singvögel sind eines solchen Gold- und Juwelenkäfigs nicht werth. Auf der Bühne fand ich vortrefflich und bedeutend fast nur alles Aeußerliche; die

Decorationen, Costüme, Ballette, Aufzüge. Die einzelnen Sänger können bis auf einen oder zwei nicht den Anspruch erheben, Künstler ersten Ranges zu heißen und würdig der Großen Oper von Paris, welche doch zum Besitz des Aller besten berechtigt und verpflichtet wäre. Zwei Aeußerungen, die ohne jede Reserve gegen mich gemacht wurden, bezeugen nachdrücklicher, als es meine Schilderung vermöchte, den musikalischen Rückgang des berühmten Instituts: Gounod will seinen „Polyeuct“, Verdi seine „Aïda“ der Pariser Oper nicht überlassen, so lange diese auf ihr jetziges Per sonale beschränkt ist. Der Tenorist Villaret sang den Raoul. Villaret, der bejahrte, dicke Philister, dessen einzige Mimik in einem unausgesetzt dummpfiffigen Lächeln und dessen Action in zwei stereotypen Armbewegungen besteht. Seine Stimme hat noch Kraft, aber keinen Schmelz, keine Frische mehr; Gesangskunst besaß er niemals, und schon der ersten Romanze („Plus blanche“), die man nicht schreien kann, ist er nicht gewachsen. In einer Rolle wie Raoul wirkt der bloße Anblick dieses Menschen komisch. Ich mußte immer wieder auf Roger hinüberblicken, der im Parterre mit einer wahrhaft elegischen Miene diesen Raoul betrachtete. Was mochte in dem Gemüth dieses geistvollen, liebenswür digen Künstlers vorgehen, der in derselben Rolle jedes Herz gerührt und entzückt hatte! Die Valentine sang Fräulein Gabriele Krauß mit der hohlen, tremolirenden Stimme, die wir in Wien zur Genüge kennen. Gut musikalisch, ver ständig und routinirt, wie sie ist, kommt sie auch als Va lentine anständig fort, ohne jedoch auch nur in Einer Scene die Zuhörer hinzureißen. In der That verhielt sich das Publicum, das hier freilich das Applaudiren meistens der Claque überläßt, aber für Lieblinge, wie Faure, Miolan und Andere, doch aus seiner Reserve herausgeht, ziemlich passiv gegenüber der Krauß. Selbst die Pariser Kritik, im Allge meinen sehr wohlwollend und ganz speciell für Fräulein Krauß, erging sich in ängstlich beschönigenden Windungen über ihre Valentine. Für Paris besteht das Hauptverdienst dieser Sängerin ohne Zweifel in der Sicherheit und Correct

heit, mit der sie das Französische handhabt. Madame Miolan-Carvalho, eine Dame zwischen vierzig und fünfzig Jahren, mit glücklich conservirten Resten von Stimme und Schönheit, sang die Königin. Sie singt auch Gretchen, Julia, Ophelia, ist somit als ein wahrer Rettungsengel von der Opéra Comique in die bedrängte Große Oper hinüber geflogen. Madame Miolan weiß mit ihren Mitteln trefflich hauszuhalten, und wenn ihren Leistungen die Tiefe und Gewalt der Leidenschaft abgeht, so bestechen sie doch durch den Reiz einer stets maßvollen, eleganten Kunst. Das Pariser Publicum bewahrt seinen Künstlern eine zärtliche Pietät, die Erinnerung an die schönsten Tage der Miolan scheint ihm wie ein Resonator ihre Töne von heute zu verstärken. Gerade in Paris ist demnach die Ver ehrung dieser Sängerin eine begreifliche und berechtigte. Wie die Miolan als Künstlerin alle Damen an der Großen Oper überragt, so der gefeierte Bariton Faure die Herren. Sein freies, elegantes Spiel verräth noch immer seine Her kunft von der Opéra Comique. In edler Bildung des Tones und vollendeter Verschmelzung desselben mit dem deutlich articulirten Wort, in allen Künsten der Vocalisation und der ausdrucksvollen Cantilene ist Faure unübertrefflich. Nur wo eherne Gewalt und Energie der Stimme den Ausschlag geben, bleibt Faure hinter den Wirkungen zurück, die unser Beck an solchen Stellen erzielt. Faure’s Don Juan hört genau dort auf, wo Beck’s Don Juan anfängt: in der Tafelscene des zweiten Finales. Rollen wie Nevers in den Hugenotten“ gestaltet Faure, ohne unbescheidenes Vordrän gen, zu bedeutenden Mittelpunkten der Handlung. Den Marcell singt noch immer ganz tüchtig der alte Belval, der Draxler von Paris. In „Hamlet“ von Ambroise Thomas spielt Faure die Titelrolle mit Geist und feiner Empfindung, Madame Miolan die Ophelia mit ruhiger Grazie. Ihnen secundiren sehr unwürdig Madame Guey mard, eine stimmlose und gar nicht talentvolle Veteranin, als Königin Gertrud, ein ganz mittelmäßiger König Clau dius (Ponsard) und ein trauriges Tenörchen (Bosquin) als Laertes.

Ein anderes Personal hörte ich in der „Jüdin“ von Halévy. Mademoiselle Mauduit als Recha, die unbe deutendste, uninteressanteste Sängerin, die man sich vorstel len kann. Sie erscheint im ersten Act mit einer blonden hinaufgekämmten Frisur und einem breitgeflochtenen Zopf um die Stirne, ohne Turban oder Schleier. Die ganze Leistung war nicht einmal schlecht, sie war Null. Der Darsteller des Eleazar, Monsieur Salomon, gewinnt schnell die Sym pathien der Zuhörer, welche Tags vorher Herrn Villaret als Raoul ausgestanden haben. Ein kräftiger und hochgewachsener junger Mann mit weicher, sonorer, nur in der Höhe etwas bedeck ter und nicht leicht genug ansprechender Tenorstimme, die ebenso gesund klingt, wie sein einfacher, gerader Vortrag. Wir prophezeien diesem von der Natur so günstig ausgestatteten Anfänger eine schöne Carrière, falls er genug Fleiß und Intelligenz besitzt. Letztere Eigenschaft war freilich an seinem Eleazar nicht zu entdecken, er hatte keinen Begriff von der Rolle. Weder die nationalen Kennzeichen des Juden, noch sein rachedürstend fanatischer Charakter waren auch nur mit einer Miene angedeutet; Salomon spielte die ganze Partie majestätisch erhobenen Hauptes, salbungsvoll und versöhnungs mild, als wollte er die ganze Christenheit segnen, ein wahrer Apostel. Nie ist mir solcher schauspielerischer Unverstand vor gekommen. Madame Daram, ein ziemlich reizloses Persön chen, das auch den Pagen in den „Hugenotten“ gibt, sang die Eudoxia anständig, mit kleiner leichtbeweglicher Stimme. Prinz Leopold (Bosquin) war offenbar ein verkleideter säch sischer Schulmeister und von erheiterndster Wirkung. Die Opern vorstellungen in Wien lassen gewiß gar Manches zu wünschen übrig, aber wenn man in der Pariser Großen Oper an Stimmen wie die einer Ehnn, Materna, Wilt, eines Beck, Rokitansky, Müller, Labatt u. s. w. denkt, so zieht doch ein angenehm patriotisches Gefühl in unsere Brust. Doch wenden wir uns lieber zur Lichtseite der Pariser Oper! Das ist die Mise- en-scène im weitesten Sinne. Vorerst die Decorationen. Sie gehören nicht zu jener aufdringlichen Sorte, die nur Farben-Effecte und Glanz um jeden Preis anstrebt; es sind poetisch gedachte, charaktervolle Bilder. Wie schön und düster

stimmungsvoll ist nicht die Schneelandschaft mit der Terrasse im ersten Act des „Hamlet“, wie königlich heiter der Park von Chenonceaux im zweiten Act der „Hugenotten“, mit seiner monumentalen Treppe, auf welcher ein Bataillon von Pagen, Hofdamen und Hellebardieren sich malerisch auf staffelt! Wie reizend und grandios zugleich der freie Wiesen plan, auf welchem das Turnier im dritten Act der „Jüdinstattfindet, mit dem Ritterschloß und dem kräftigen Gebirgs zug im Hintergrunde! Dieser Decorationskunst entsprechen die reichen, malerischen, historisch treuen Costüme und das effectvolle Arrangement der Aufzüge und Gruppen. Der Einzug des Kaisers im ersten, das Turnier und Ballet im dritten Act der „Jüdin“ gehören zu den vollkommensten Scenerien dieser Art. Ein Bild von ungemein idyllischem Reiz eröffnet den vierten Act von „Hamlet“: der ländliche Tanz, welchen die volksthümlichen Lieder Ophelia’s so an muthig durchflechten. Die Ballette entwickeln geschmackvolle Pracht und große Präcision der Bewegungen. Einen Reich thum an weiblichen Schönheiten konnte ich darin nicht ent decken, obgleich (oder weil?) ich in der Prosceniums-Loge des Directors, die sich auf der Bühne selbst befindet, die Damen dicht vor Augen hatte. Ich sah sie noch näher in dem be rühmten „Foyer de la dans“, dem eleganten Saale, in welchem die Tänzerinnen in vollem Balletcostüm sich ver sammeln und die Huldigungen der Jeunesse (und Vieillesse) dorée entgegennehmen. Das ist ein Herrenrecht, das sich die Abonnenten der Oper um keinen Preis nehmen lassen und das nur im schwarzen Frack und weißer Cravate ausgeübt werden kann. Ein Juwel des neuen Opernhauses und viel leicht die werthvollste Reform desselben befindet sich — von den Theaterbesuchern ungekannt und ungewürdigt — im fünften Stockwerk des Hauses. Es ist die Bibliothek und das Archiv der Großen Oper, in den herrlichsten Räumlich keiten und in der musterhaftesten Ordnung aufgestellt. Hierin ist die neue Pariser Oper ein Vorbild für alle Theater der Welt, und ich werde den Leser gelegentlich bitten, mit mir diesen fünften Stock zu erklimmen.