Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3889. Wien, Donnerstag, den 24. Juni 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Nr. 3889. Wien, Donnerstag, den 24. Juni 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.06.1875
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Verdi in Wien. (Das Requiem. „Aïda“.)

Ed. H. Das italienische Nachspiel unserer Musiksaison ist verklungen. Lorbeergekrönt hat Verdi mit seinen Sängern Wien verlassen, und tiefe Stille liegt wieder auf unserem Opernhause. Nach friedlichen Siegen ein Waffenstillstand für zwei Monate. Viermal dirigirte Verdi sein Requiem, zwei mal seine „Aïda“ im Hofoperntheater, jedesmal triumphirend über die Ungunst heißer Sommerszeit und hoher Eintrittspreise. Das Publicum empfing das Requiem mit ungetheilter Be geisterung, unsere gebildetsten Kenner und Liebhaber, worunter ein stattliches Contingent geschworner Verdi-Gegner, stimm ten rückhaltlos in den allgemeinen Beifall ein. Es ist eine Freude, solch allgemeine herzliche Hingabe an einen künstle rischen Eindruck zu beobachten, eine Freude, die uns dies mal noch erhöht ward durch das einstimmig anerkennende Urtheil der Wiener Journalistik. Verdi, selbst im Opern fach so schlecht angeschrieben in deutschen Landen, mußte als Kirchen-Componist auf schneidigste Opposition gefaßt sein, umsomehr, als es zu den Lieblingspassionen teutonischer Kritik gehört, dem Publicum seine Freuden nachträglich durch ein gnadeloses Mäkeln an Nebendingen und Kleinig keiten zu verleiden. In unserer Zeit der lauen Achtungs erfolge ist aber ein rechter Herzenserfolg so selten, daß auch der Kritiker ihn — so glauben wir — gerne mitfeiern mag, sollten auch einige Ungehörigkeiten bei dem Fest unterlaufen und einige Enthusiasten allzu schwärmerisch toastiren. Verdi’s Requiem ist ein schönes, tüchtiges Werk, eine warme, aus dem Herzen strömende Musik von würdigem Ernst, sorg fältiger Ausführung und seltener Klangschönheit. Ein Werk, das seinem Schöpfer Ehre macht, dem man solch künstlerische Vertiefung und Concentration nicht zuge traut hätte. Manches, was aus Anlaß der „Aïdaüber diese unerwartete Läuterung der Verdi’schen Muse ge sagt wurde, paßt auch hieher, nur möchte ich gleich be merken, daß mir „Aïda“ in Erfindung und Ausführung viel bedeutender erscheint, als das Requiem. Verdi ist eben geborner Theater-Componist, seine Musik von Haus aus dramatisch; wenn er in einem Requiem beweist, was er

auf fremdem Boden vermag, so bleibt er doch weit stärker auf seinem eigenen. Er kann auch im Requiem den dramati schen Componisten nicht verleugnen; Trauer und Bitte, Ent setzen und hoffende Zuversicht, sie sprechen hier eine leiden schaftlichere und individuellere Sprache, als wir sie in der Kirche zu hören gewohnt sind. Die „Kirchlichkeit“ des Verdischen Requiems ist es zunächst, was Anfechtung erfährt. Und doch gibt es wenig Forderungen, über welche zu richten so bedenklich, so unsicher wäre, wie diese. Die subjective Reli giosität des Künstlers muß man von vornherein aus dem Spiele lassen; die Kritik ist keine Inquisition. Zudem bietet die Gläubigkeit des Tondichters keineswegs Gewähr für die religiöse Würde seines Werkes und umgekehrt. Kann man die Frömmigkeit Haydn’s und Mozart’s anzweifeln? Gewiß nicht. Und dennoch dünkt uns ein großer Theil ihrer Kirchen musik sehr, sehr weltlich. Verglichen mit dem Jahrmarkts jubel so manches „Gloria“, mit den Opernschnörkeln so manches „Benedictus“ und „Agnus“ dieser Meister, klingt Verdi’s Requiem noch heilig. Aehnlich verhält es sich mit der Kirchenmusik vieler berühmter älterer Italiener, deren „Classicität“ auf Treu’ und Glauben angenommen und, mit jedem Decennium weniger geprüft, weitergegeben wird. Pergolese, Lotti, Jomelli, Salieri und so viele andere Celebritäten Italiens, deren großes Talent und deren Kunst fertigkeit wir hochschätzen — was für zopfigen Zierrath und weichliche Opernmelodien haben sie nicht bona fide in ihre Kirchen-Compositionen aufgenommen! Wir müßten, um auf die ungetrübte, unverweltlichte Reinheit katholischer Kirchenmusik zu gelangen, bis auf Palestrina zurückgehen oder vielmehr — da ja auch Palestrina vom streng kirch lichen Standpunkt manchen Vorwurf erfahren — bis auf den nackten gregorianischen Kirchengesang. Die Hauptsache bleibt, daß der Componist mit der Ehrfurcht vor seiner Aufgabe die Treue gegen sich selbst bewahre. Dieses Zeugniß der Ehrlichkeit muß man Verdi zugestehen; kein Satz seines Requiems, der leichtfertig, erlogen oder frivol wäre. Er ver fährt ungleich ernster, strenger, als Rossini in seinem Stabat mater“, so wenig die Verwandtschaft dieser zwei Werke zu leugnen ist. Beide Tondichter haben sich eben bis in ihre alten Tage ausschließlich im Opernstyl bewegt; daß Rossini’s eigentliches Feld stets die komische Oper gewesen, Verdi’s hingegen die ernste, pathetische, gedeiht dem Letzteren

zum Vortheil in seinem Requiem. An süßem Reiz der Melodien ist Rossini’s „Stabat“ dem Verdi’schen Requiem überlegen, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, wo eigentlich von einem Unterliegen zu sprechen wäre. Verdi hat, an die bessere neapolitanische Kirchenmusik anknüpfend, weder die reicheren Kunstmittel seiner Zeit, noch das leb haftere Feuer seines Naturells verleugnet; er hat wie so mancher fromme Maler auf dem Heiligenbild sein eigenes Porträt angebracht. Auch die religiöse Andacht wechselt in ihrem Ausdruck; sie hat ihre Länder, ihre Zeiten. Was uns in Verdi’s Requiem zu leidenschaftlich, zu sinnlich erscheinen mag, ist eben aus der Gefühlsweise seines Volkes heraus empfunden, und der Italiener hat doch ein gutes Recht, zu fragen, ob er denn mit dem lieben Gott nicht Italienisch reden dürfe?

Spricht aus einem modernen Kirchenstück ehrliche Ueber zeugung und ernste Schönheit, dann mögen wir uns zufrie dengeben; die Frage nach der specifisch kirchlichen Quali fication wird täglich immer bedenklicher und haltloser. Es ist Zeit, sich einmal darüber klar zu werden. Angesichts von geistlichen Compositionen denken wir heutzutage doch vor Allem an das Kunstwerk; was die Kirche als solche daran zu loben oder zu tadeln finde, ist uns sehr gleichgil tig. Das Interesse der Kirche wird immer auf die Unter ordnung des künstlerischen Ausdruckes unter den dogmati schen abzielen und von dem Künstler verlangen, daß er durch die selbstständige Schönheit seines Werkes nicht die Aufmerksamkeit der Gemeinde allzusehr ablenke von dem kirchlichen Vorgang. Wir Kinder der Zeit erblicken hinge gen in dem „Stabat mater“, dem Requiem, selbst im Meß text eine Dichtung, allerdings eine durch Inhalt und Tra dition geheiligte Dichtung, welche der Componist als Stoff für seine Kunst verwendet. Was er daraus schafft, gilt uns für ein Werk freier Kunst, welches das Recht seiner Existenz in sich selbst, in seiner künstlerischen Größe und Schönheit trägt, nicht in seiner kirchlichen Zweckmäßigkeit. Wir denken mit Einem Worte bei solchen Schöpfungen unserer modernen Meister an den Musiksaal, nicht an die Kirche, und diese Meister denken ebenso. Das war ganz anders in früheren Zeiten. Haydn und Mozart kam es niemals in den Sinn, daß ihre Messen anderswo als im Gotteshause aufzuführen seien. Sie schrieben ihre Kirchenmusik für den Gebrauch der

Kirche. Erst Beethoven, mit dem auch auf diesem Punkte eine neue Zeit hereinbricht, hat — 1824 — drei Sätze seiner Missa solennis“ zuerst im Kärntnerthor-Theater aufführen lassen. Er hatte zwar die Messe, wie bekannt, ursprünglich für eine große kirchliche Feier bestimmt, aber der musika lische Reichthum der Composition wuchs ihm so mächtig über den kirchlichen Rahmen hinaus, daß er damit selbst seine Zuflucht zum Concertsaal nahm. Und so wie Beethoven’s Festmesse, haben auch die leicht aufzuzählenden Kirchen-Compo sitionen, welche wir von namhaften modernen Meistern be sitzen, ihre Heimat im Concertsaal gefunden: Rossini’s Stabat“, Liszt’sGraner Messe“, die Requiems von R. Schumann, Brahms, Lachner und Verdi. Auf zwanzig Concert-Productionen dieser Werke kommt vielleicht Eine Kirchenaufführung, und diese gilt dann ausdrücklich als Concert in der Kirche, das sich zunächst an die Musik freunde wendet, nicht an die Beter. In dem Maße als die Kirche ihre führende Macht im Leben eingebüßt und ihre Autorität auf einen immer kleineren Kreis von Geistern eingeschränkt hat, entwickelte sich auch in den Künstlern, vielleicht halb unbewußt, die Ueberzeugung, daß sie mit ihren geistlichen Compositionen die ästhetische Andacht, nicht die kirchliche erwecken wollen. Die Kirche, die sich der Tonkunst als wichtigsten Cultusmittels jederzeit bedient hatte, konnte es natürlich nur zufrieden sein, daß ihre Gläubigen ästhetische und kirchliche Andacht verwechselten. Aber die Kunst arbeitete immer spärlicher für die Kirche. Die Zeit ist vorüber, da jeder große Componist der Kirche bedurfte, um für voll zu gelten. Heute täuscht man sich nicht mehr darüber, daß weder die Kirche für ihre gottesdienstlichen Zwecke genialer Tondichter bedarf, noch umgekehrt. Man gesteht sich ein, daß für die Kirche das Alte ausreicht und das praktisch Tüchtige, ja Gewöhnliche oder Alltägliche den selben, wo nicht besseren Dienst leiste, als Neues. Speciell für die Kirche und nur für die Kirche componirt heutzutage der musikalische Lehr- und Nährstand, die Chorregenten, Domcapellmeister und sonstigen geschulten Routiniers, deren kleines Talent die große Oeffentlichkeit nicht verträgt. Unsere großen Tondichter componiren wol hin und wieder ein Stück aus der Kirche, aber im Grunde nicht für die Kirche.

Auch Verdi hat sein Requiem, nachdem es einmal zu Ehren des berühmten Dichters der „Promessi sposi“,

Alessandro Manzoni, im Mailänder Dome seine Schuldig keit gethan, auf Reisen genommen, um es in den Concert sälen von Paris, London und Wien derjenigen Gemeinde vorzuführen, welcher es in Wahrheit gewidmet war; der musikalischen. Die besten Partien des Werkes sind jene, in welchen Verdi seinem Gefühl und Talent am wenigsten Zwang auferlegt hat; am schwächsten gerieth alles dasjenige, was sich der strengen Observanz gewisser kirchlicher Tradi tionen anbequemt: das Contrapunktische und vor Allem die Fugen. Es standen ihrer ursprünglich drei in dem Requiem; die erste, auf die Worte „Liber scriptus“, hat der Com ponist, sehr zum Vortheil des Ganzen, nachträglich cassirt und durch ein sehr wirksames Solo für Mezzosopran er setzt. Die zwei anderen Fugen: „Sanctus“, doppel chörig, und „Libera me“ (Schlußfuge), stehen von den übrigen Sätzen des Requiems schon durch die sehr unbedeutende, wohlfeile Erfindung ihrer Themen ab, sodann durch das Steife und Trockene der Ausführung. Sie kommen nie in einen frischen, freien Fluß, erreichen nirgends einen mächtigen Höhenpunkt. Es ist kein Wunder, wenn ein italie nischer Operncomponist, der bis zu seinem sechzigsten Jahre an keine Fuge gedacht, solcher Aufgabe gegenüber einige Aengstlichkeit empfindet und etwa von vier zu vier Tacten in seinem Schema nachsieht, „was jetzt kommt“. Etwas von solchem Zwang athmen die meisten modernen Fugen im Gegensatz zu jenen von Bach und Händel, die fast immer schon in der Erfindung der Themen eine geniale Freiheit offenbaren und in der Durchführung eine überzeugende Ge walt und Natürlichkeit. Jenen Meistern war der fugirte Styl eine vollkommen natürliche Sprache (ähnlich wie manchen älteren Dichtern und Dichterschulen die schwierigsten antiken Versmaße), sie konnten mit souveräner Freiheit darin denken und dichten. Wer von Haus aus polyphon denkt und erfin det, hat gut fugiren. Später ist die Fuge immer mehr zum bloßen Formalismus eingeschrumpft, aber ihn auszufüllen gilt in der Kirchenmusik noch immer als unerläßliche Pflicht des Componisten. An sich hat die Fugenform nicht das Min deste zu schaffen mit dem Ausdruck religiöser Andacht (wie das Jahn in seiner Mozart-Biographie sehr hübsch ausgeführt hat), trotzdem machen unsere Componisten keine Kirchenmusik ohne Fuge; das klingt oft recht widerwillig, wie ein Citat aus CiceroDe officiis. Selbst Mendelssohn, der die Künste

gelehrter Musik mit größerer Meisterschaft, jedenfalls mit mehr Klarheit und Anmuth handhabte, als die meisten Modernen, scheint immer etwas von dem specifischen Ge wichte seines Talentes zu verlieren, wenn er ausgeführte Fugen schreibt. Ueber seine fünfstimmige B-dur-Fuge im Paulus“ äußerte Mendelssohn selbst zu M. Hauptmann, er habe sie geschrieben, „weil die Leute in Oratorien immer eine ordentliche Fuge hören wollen und glauben, der Com ponist könne es nicht, wenn er keine bringt“. Aus ähnli chem Grunde hat sicherlich auch Verdi die Fugen in seinem Requiem geschrieben, nur sind sie nicht so gut ausgefallen wie die Mendelssohn’schen. Diese kleinen Sandstrecken in Verdi’s Requiem liegen glücklicherweise inmitten eines blü henden Gartens. Gleich der A-moll-Satz zu Anfang (Requiem aeternam) ist ungemein schön in dem Ausdrucke ruhiger, gefaßter Trauer, und wie ein milder Sonnenstrahl fällt das A-dur-Motiv „et lux“ ein. Das „Dies irae“, effectvoll mit ziemlich grellen Farben gemalt, erinnert an die bekannten Fresken im Campo Santo zu Pisa, welche alle Schrecken des jüngsten Gerichtes, des Fegefeuers und der Hölle mit so erbarmungsloser Anschaulichkeit darstellen. Das „Tuba mirum“ durch einander antwortende, an die vier Ecken des Orchesters postirte Trompeten- und Posaunenrufe zu versinnlichen, ist eine Idee, die Verdi dem Requiem von Berlioz verdankt. Ihm gebührt jedoch das Verdienst, sie nicht nur selbstständig behandelt, sondern durch maßvolle Reducirung erst möglich gemacht zu haben; denn BerliozRequiem, durch die Ungeheuerlichkeit der aufgewendeten Mittel selbst zur ewigen Ruhe verurtheilt, verwendet zu diesem Effecte vier verschiedene Orchester von Blech-Instrumen ten und acht Paar Pauken! Von dem rollenden Donner des „Rex tremendae majestatis“ hebt sich die innig fle hende Melodie „Salve me“ ungemein schön ab; es folgt das durch den bezaubernden Zusammenklang der beiden Frauenstimmen so einschmeichelnde Duo „Recordare“, ein Strom von Wohllaut, wenn auch knapp an dem Gestade der Oper fließend — dann schlagen wieder die Flammen des „Dies irae“ lodernd in die Höhe. Ein Tenorsolo in Es-dur („Qui Mariam absolvisti“) erinnert durch seinen Wechsel zwischen der großen und übermäßigen Quinte in der Begleitung an ähnliche Wendungen in der „Aïda“; dieser unschuldige Anklang ist aber auch die einzige Reminiscenz

an jene Oper, die mir in Verdi’s Requiem auffiel. Beide Werke stehen so selbstständig und eigenthümlich neben einan der, wie es eben zwei Compositionen desselben Autors ver mögen. Es sei noch das vierstimmige Offertorium „Domine Jesu“, mit dem einfachen und doch rhythmisch so beleben den Mittelsatze „Quam olim Abrahae“, als ein Satz von schön gegliederter Architektur und ungemeinem Klangzauber hervorgehoben; dann das „Agnus Dei“, dessen etwas psal modische Sopran-Melodie durch das Mitsingen der Altstimme in der tieferen Octave ein sehr stimmungsvolles Halbdunkel ge winnt; endlich das rührende, sanfte Ausklingen des ganzen Werkes auf die immer leiser hingehauchten Worte „Libera me“!

Verdi’s Requiem enthält neben großen Schönheiten auch manche schwache Stelle, sogar einiges Unschöne (wie die mit sonderbarer Absichtlichkeit angebrachten Parallel- Quinten in dem Baßsolo „Confutatis“); allein der überwie gend günstige Eindruck des Ganzen trägt uns darüber hin weg. Dieses Requiem bleibt doch ein echtes und schönes Stück italienischer Kunst. In der Physiologie dieser Kunst und im Charakter des Katholicismus ist ein gewisses Ueber wiegen der Sinnlichkeit und des glänzenden südlichen Pathos begründet. Genug, daß in Verdi’s Requiem nicht, wie in so vielen, mitunter hochgefeierten italienischen Kirchenmusiken, der Geist in der Fülle blühenden Fleisches erstickt. Italien darf sich dieses Werkes rühmen, und wir dürfen uns dessen aufrichtig mitfreuen, ohne darum in Uebertreibungen zu verfallen, wie die, es sei dieses Requiem „die bedeutendste Tondichtung des Jahrhunderts“. Nicht einmal die bedeu tendste Kirchenmusik dieses Decenniums! Denn so kindlich wird wol Niemand sein, Verdi’s Manzoni-Messe mit dem Deutschen Requiem“ von Brahms auf Eine Höhe zu stellen. Zum Glücke nöthigt uns nichts zu solcher Vergleichung, und wir können jedem in seinem eigenen Style ehrlich und be deutend Schaffenden seine Ehre geben.

Es ist in allen Berichten mit Recht hervorgehoben, welch großen Antheil an dem Erfolge des Requiems die vor treffliche Ausführung hatte. Das bewunderungswürdige Orchester und der vortreffliche Chor des Hofoperntheaters (letzterer verstärkt durch die jugendfrischen Stimmen unseres Akademischen Gesangvereins) leisteten ihr Bestes in der Be gleitung eines Gesangsquartetts, das in unvergleichlicher

Ausführung dieses Werkes bereits europäische Berühmtheit erlangt hat. Es sind dies die Sängerinnen Stolz und Waldmann (Beide Oesterreicherinnen), die Sänger Ma sini und Medini; im Ensemble sind sie Ein Herz und Eine Kehle. Nur in Einem Punkte fand ich deren Leistungen nicht vorwurfsfrei: ihr Vortrag war häufig zu theatralisch. Gewisse Schluchzer, Bebungen und leidenschaftliche Accente passen (selbst im Concertsaale) nicht für kirchliche Musik, nicht zu dem Texte des Requiems. Wenn eine Sängerin Jesum Christum anruft, so darf man nicht meinen, sie schmachte nach ihrem Geliebten. Ich erinnere nur an das herzbrechend sentimentale Schluchzen, mit welchem Fräulein Waldmann die einfachen Worte: „Liber scriptus proferetur“ vortrug. Auch der Tenorist Masini gefiel sich einigemale in dem unvermittelten Aussetzen eines Pianissimo auf ein Forte u. dgl. Man wird vielleicht einwenden, daß Verdi’s Musik dazu verleite. Dann wäre es Pflicht der Sänger, durch strengeren Vortrag die Melodie zu festigen, anstatt sie durch theatralische Sentimentalität noch zu lockern und zu verweltlichen. Indessen ließ gerade diese Vortrags weise vermuthen, daß Verdi’s Sänger erst auf der Bühne ihr ganzes Talent entfalten, ihren vollen Effect erzielen würden. Und wirklich erlebten wir das in der italienischen Vorstellung der „Aïda“, welche unter Verdi’s Direction den Aufführungen des Requiems folgte. Es war einer der genußreichsten Abende, welche wir dem Hofoperntheater ver danken. Drei neue Factoren wirkten zu diesem Resultate zu sammen: zuerst die Besetzung der Hauptrollen durch die ge nannten Gäste, sodann die italienische Sprache, endlich die persönliche Einwirkung Verdi’s vom Dirigentenpulte aus. Unter den Sängern verdient Fräulein Waldmann als Amneris den ersten Preis. In entzückendem Wohllaute strömte ihre weiche, üppige Stimme dahin, überall vergeistigt und belebt durch den sprechendsten dramatischen Aus druck und ein ebenso vornehmes als leidenschaftliches Spiel. Wie sang sie in der ersten Scene die bei den vom Componisten nur recitativisch behandelten Worte: „Desiderii, speranze!“ In solchen Einzelheiten verräth sich das dramatische Blut. Fräulein Stolz (Aïda) schien — wenigstens in der von mir gehörten zweiten Aufführung — nicht im vollen Besitz ihrer schönen Stimme,

so daß sie in dieser Hinsicht, bis auf ihre herrlichen tiefen Töne, hinter Frau Wilt zurückstand. An dramatischem Geist und Leben wurde hingegen unsere deutsche Aïda bedeutend überragt von der Stolz. Der Tenorist Masini, als Schauspieler mittelmäßig, bezauberte das Publicum durch süßen Schmelz der Stimme und seelenvollen Vortrag. Herr Medini (Ramphis) bewährte sich als sehr tüchtiger Sänger; seinem ausgiebigen, aber hohlklingenden Baß blieb freilich die Wirkung versagt, welche Rokitansky’s Stimme in dieser Partie erreicht. Von unseren einheimischen Künstlern theilte Herr Bignio als Amonasro die Ehren der fremden Gäste. Und wenn sie auch Alle etwas weniger gut gesungen hätten — sie sangen italienisch! Wie sehr Aïda“ durch den italienischen Originaltext gewinnt, ist kaum zu sagen. Mehr als jede andere italienische Oper, denn die deutsche Uebersetzung der „Aïda“ gehört zu den schlechtesten, die wir kennen. Man traut seinem Auge nicht, wenn man in diesem Libretto auf Dinge wie die folgenden stößt: „Holde Aïda, himmelentflam mend, zauberndes Wesen von Blumen und Licht, du bist die Kö nigin meiner Gedanken, gibst meinem Leben einzig Gewicht . . . . Jene Blässe voll Verstörung ist geheime, fiebernde Gluth . . . . Haß nur und Rache nur nehmen mich ein . . . . Ich mit meiner Gluth, der warmen, steige in das Grab hinein . . . . Als Gattin dessen, den so sehr du liebest, wird unermeßlicher Jubel dich umweh’n.“ Auf das Wort „Herzens“ reimt unser Poet „des Schmerzens“. Und solches Kauderwälsch muß man in Deutschland singen und — anhören! Was aber die Leistungen der einzelnen Sänger erst zu ihrer vollen Wirkung hob und die italienische Vorstellung vor unseren deutschen „Aïda“-Abenden auszeichnete, ist die vollendete Exactheit, das dramatische und musikalische Zusammenwirken, die zündende Begeisterung, welche das ganze Ensemble beherrschte und von der ersten Sängerin bis zum letzten Choristen sich elektrisch fortzupflanzen schien. Das ist Verdi’s Verdienst, welcher die Oper (mit vielfach modificirten Tempi) neu eingeübt hatte und mit einer für den Sänger unschätzbaren, für den Zuschauer wohl thuenden ruhigen Energie dirigirte, ein Muster besonnener, zusammengefaßter Kraft. Allem, was da sang, spielte und zuhörte, sah man die Freude an; aber die größte Freude empfand wol an diesen Abenden Verdi selbst, dem wir sie von Herzen gönnen, sammt einer langen, freundlichen Er innerung daran.