Boieldieu.
Ed. H. Rouen, die Vaterstadt des Componisten der
„Weißen Frau“, hat soeben das hundertjährige Jubiläum
seiner Geburt gefeiert. Es ist die erste nationale Gedenkfeier
größeren Styls, die je in Frankreich zu Ehren eines Ton
dichters stattfand. Einen Componisten von der Popularität
Boieldieu’s haben die Franzosen früher auch nicht besessen.
Man muß bis auf Grétry zurückgehen (der übrigens
Belgier von Geburt war), um etwas dieser Popularität
Nahekommendes anzutreffen. In der französischen Opern
geschichte steht die „Weiße Frau“ geradezu einzig da: hat
sie doch binnen fünfzig Jahren in Paris über 1300 Wieder
holungen erlebt! Jules Janin, Augenzeuge der ersten
Vorstellung, konnte fünfunddreißig Jahre später mit voller
Berechtigung den Ausspruch thun, daß im ganzen Gebiet
des Lustspiels und der Oper kein Erfolg mit dem der
„Weißen Frau“ an Dauer und Allgemeinheit sich vergleichen
lasse. Aus Anlaß des Jubiläums, das, eigentlich erst im
December fällig, dem Festkleid der Natur zuliebe jetzt schon
vorgefeiert wurde, sind mehrere Gelegenheitsschriften er
schienen, darunter die erste vollständige und quellenmäßige
Biographie des berühmten Componisten. Der Verfasser,
Herr Arthur Pougin, erscheint in dieser Arbeit durchaus
als gewissenhafter Forscher, stellenweise auch als glücklicher
Entdecker. Der ästhetisch-kritische Theil seines Buches ist un
bedeutend und wirft kein neues Licht auf die künstlerische
Eigenart und Bedeutung Boieldieu’s. Allein es bringt ver
läßliche Daten, veröffentlicht zum erstenmal mehrere Docu
mente und Briefe Boieldieu’s und berichtigt eine Reihe von
Irrthümern, welche namentlich aus Fétis’ Lexikon sich allent
halben verbreitet haben.
Francois Adrien Boieldieu
So und nicht anders schrieb der Componist selbst seinen
Namen, dessen unrichtige Orthographie Boïeldieu oder Boyeldieu
überaus häufig angetroffen wird, selbst auf Titelblättern seiner
Compositionen und auf der Gedenktafel seines Geburtshauses. Der
Diphtong ist wie in den Wörtern royaume, loyauté etc. auszuspre
chen, und der Name dreisylbig: „Boa-jel-dieu“, nicht wie man in
Deutschland gewöhnlich hört, „Boal-dieu“.
ist am 16. December
1775 in der alten Hauptstadt der Normandie, Rouen, ge
boren, wo bekanntlich auch die Wiege Corneille’s und
Fontenelle’s stand. Der Vater bekleidete das Amt eines
erzbischöflichen Secretärs, die Mutter hielt das gesuchteste
Modewaarengeschäft in Rouen. Ziemlich wohlhabend und
kunstliebend, gönnten die Eltern der Musikpassion des Kna
ben ungehinderte Entfaltung und gaben ihn dem angesehen
sten Musiker in Rouen, dem Dom-Organisten Broche, in
die Lehre. So schien denn Alles aufs beste vorgesehen, dem
jungen „Boiel“, wie man ihn kurzweg nannte, glückliche und
fruchtbringende Jahre zu sichern. Leider war Meister Broche
ein Trunkenbold, voll Jähzorn und Gewaltthätigkeit. Der
kleine, sanfte Adrien zitterte vor ihm und mußte sich die
äußerste Härte, selbst Mißhandlungen, gefallen lassen, über
welche daheim zu klagen er niemals wagte. So kam es, daß
der Knabe trotz Talents und guten Willens nur wenig lernte
während dieses mehrjährigen Unterrichtes. Er war dem ge
fürchteten Broche in Kost und Wohnung übergeben, also ganz
in dessen Gewalt. Eines Tages fiel ihm ein dicker Tropfen
Tinte auf die Claviatur, und in der Angst vor der unaus
bleiblichen Züchtigung entfloh er. Boieldieu wollte geradewegs
nach Paris, dem Wunderland seiner Träume, seiner Sehn
sucht. Aber wie dahin gelangen? Der Weg so weit, die Bar
schaft so klein! Gleichviel, mit fünfzehn Jahren überlegt man
nicht lange. Er wandert zu Fuß, müde und hungrig ver
bringt er die erste Nacht inmitten einer Schafheerde, deren
Hirt sein ärmliches Lager und ein Stück Brot mit ihm theilt.
In Paris macht ihn anfangs der Anblick so vieler Herrlich
keiten alles Ungemach vergessen. Aber seine paar Francs sind
zu Ende, und die Wirthin, ein alter Drache, wirft ihn zur
Herberge heraus. Arm, fremd, verzweifelnd irrt er bis an
das Ufer der Seine; schon faßt er den Entschluß, sich zu
ertränken; da hört er seinen Namen rufen. Ein braver
Diener aus dem Elternhause war dem Flüchtlinge zu Pferde
nachgejagt und hatte ihn glücklich im Momente der höchsten
Noth gefunden. In dem Hause des Herrn Mollin (nach
mals Graf Mollin und Pair von Frankreich), dessen
Schwester später die zweite Frau des alten Boieldieu wurde,
fand der Kleine die liebevollste Aufnahme. Dies geschah im
Jahre 1790. Wir wissen nicht, wie und unter wessen Lei
tung Boieldieu seine Studien während der zwei folgenden
Jahre betrieb. Ohne Zweifel hat der Besuch der Oper, der
entzückende Eindruck der Werke von Grétry, Dalayrac,
Méhul das Meiste gethan, sein Talent zu wecken und ihm
selbst zum Bewußtsein zu bringen. Im Herbste 1793 tritt
Boieldieu zum erstenmale vor die Oeffentlichkeit, und zwar
in Rouen, mit einer zweiactigen Oper, „La fille coupable“,
welcher zwei Jahre später ebendaselbst die Oper „Rosalie
et Myrza“ folgte. Was die Textbücher dieser Erstlingsopern
betrifft, so wissen wir jetzt, daß es Boieldieu’s Vater selbst
war, der sie eigens für seinen Sohn geschrieben, um ihm
den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit zu ermöglichen. Ein
interessantes und in der Operngeschichte wol alleinstehendes
Verhältniß. Der günstige Erfolg dieses Debüts in Rouen
und der auf die Schreckensjahre etwas ruhiger gewordene
politische Zustand bewogen unseren Componisten zur Rückkehr
nach Paris. Durch den gefeierten Sänger Garat empfoh
len und im Hause des Componisten Jadin collegial auf
genommen, war der junge Boieldieu bald in der Pariser
Musikwelt bekannt. Mit Nahrungssorgen hatte er nicht zu
kämpfen, und die gewöhnliche Angabe, er habe als Clavier
stimmer und Notencopist seinen Unterhalt verdienen müssen,
beruht nach neuerer Forschung auf Irrthum.
Seine ersten Erfolge in Paris verdankte Boieldieu zahl
reichen Romanzen, welche Garat mit Vorliebe und unver
gleichlichem Geschmack vortrug. Die Schwärmerei für „Ro
manzen“ datirt, seltsam genug, aus den ersten Tagen der
Revolution; sie wuchs unter dem Directorium und Consulat,
bis sie endlich unter dem Kaiserreich zur völligen Manie
ausartete. Zur Zeit von Boieldieu’s Anfängen schrieb noch
die Elite der französischen Musiker (Cherubini, Dalayrac,
Berton etc.) Romanzen. Auch mit verschiedenen Clavierstücken
und Compositionen für die Harfe erzielte Boieldieu Erfolge
in den Salons. Jung, hübsch, geistreich, liebenswürdig, ver
einigte Boieldieu damals alle Erfordernisse, Glück zu machen,
und das Glück ließ auch nicht lange auf sich warten.
Boieldieu erreichte 1797 das heißersehnte Ziel, im Théâtre
Feydeau eine einactige Oper aufzuführen: „La Famille
suisse“, welche später den Stoff zu einer Lieblingsoper
der Deutschen („Die Schweizerfamilie“ von Castelli und
Weigl) geliefert hat. Die ersten größeren Opern Boieldieu’s,
welche in Paris zur Aufführung kamen, waren „Zoraïme
et Zulnare“ (1798) und „Benjowski“ (1800, das
Sujet identisch mit Kotzebue’s Schauspiel), beide dreiactig
und beide sehr beifällig aufgenommen. In diesen zwei Wer
ken nimmt Boieldieu’s Musik einen etwas kühneren Flug
und nähert sich dem ernsten, leidenschaftlichen Style der
großen Oper. Diesem hier keimenden Talent für starke dra
matische Situationen blieb weitere Entwicklung versagt, da
Boieldieu’s spätere Opernlibrettos durchweg nur den heite
ren Conversationston festhielten. Für die Große Oper hat
Boieldieu niemals gearbeitet. Ein wahres Zugstück wurde
„Der Khalif von Bagdad“ (1800) — es war da
mals die Blüthezeit der einactigen Operetten — der über
vierzig Jahre lang sich in der Opéra Comique erhielt
und auch in Deutschland zu großer Beliebtheit gelangte. Es
geschah während einer dieser Khalifen-Vorstellungen, daß
Cherubini im Foyer dem jungen Componisten begegnete,
ihn am Kragen faßte und mit seiner gewohnten Barschheit
anrief: „Unglücklicher! Schämst du dich nicht, solche Erfolge
zu haben und sie so wenig zu verdienen?“ Boieldieu blieb
sprachlos bei dieser Interpellation, aber er fühlte, daß sie
nicht unbegründet war. Er eilte zu Cherubini, um sich
dessen guten Rath zu erbitten. Durch zwei Jahre genoß er
die freundschaftliche Unterweisung des älteren Meisters und
nahm nun die Sache viel ernsthafter. In der kurzen Frist
von 1795 bis 1800 hatte er mit wenig Kunst acht Opern
geschrieben („la science n’y est entrée que pour bien
peu“, wie er sich ausdrückte); jetzt aber, seit er durch Che
rubini gründliche Kenntnisse erworben, fühlte er seine ganze
Vergangenheit wie einen Vorwurf. Boieldieu machte eine
Pause von mehreren Jahren und trat erst 1803 mit der
dreiactigen Oper „Ma tante Aurore“ vor das Publi
cum. Diese gehört zu den seltenen Opern, worin eine komi
sche Alte die Hauptperson spielt. Tante Aurore ist nämlich
durch vieles Romanlesen so verschroben, daß sie die Hand
ihrer Nichte nur einem Freier gewähren will, der auf ganz
romantischem Wege, durch unerhörte Abenteuer und Helden
thaten das Herz des Mädchens gewinnt. Die Nichte und ihr
gut bürgerlicher Liebhaber führen nun zwei Acte lang die drollig
sten Abenteuer, erlogene Räuberscenen, Rettungen u. s. w. auf,
um das romanverhärtete Herz der Tante zu rühren. Das
Publicum unterhielt sich köstlich und applaudirte von Herzen.
Als aber im dritten Acte der alte Bediente als Amme ver
kleidet mit zwei Säuglingen auf dem Arme aus einem
Thurme steigt, da fanden die Pariser den Spaß zu stark
und protestirten zischend und pfeifend. Bei den nächsten
Vorstellungen ließ man den ganzen dritten Act weg (mit
alleiniger Ausnahme der so berühmt gewordenen „Romanze
in drei Tönen“), und in dieser verkürzten Form erhielt sich
„Tante Aurora“ jahrelang in der allgemeinen Gunst. Die
Strenge, mit welcher damals das Publicum Novitäten rich
tete, mag den heutigen Parisern wie ein Märchen erscheinen,
denn jetzt ist das Auditorium der ersten Vorstellungen be
kanntlich so zuverlässig zusammengesetzt, daß ein Durchfall
nicht vorkommen kann. Der Erfolg von „Ma tante Aurore“,
mit welcher für Boieldieu’s Talent die eigentliche künstle
rische Reise beginnt, stellte ihn in die erste Reihe der dama
ligen dramatischen Componisten Frankreichs. Grétry hatte
aufgehört zu schreiben, Della Maria schimmerte nur einen
Moment lang, Isouard, eben erst angekommen, war vor
läufig nur eine Hoffnung. Eine beneidenswerthe Laufbahn
that sich breit und einladend vor Boieldieu auf.
Wie kam es nun, daß er sie plötzlich aufgab und Frank
reich verließ, um sieben seiner schönsten Jahre in Rußland
zu verbringen? Dieses trübe Räthsel in Boieldieu’s Leben
war bisher nicht sowol ungelöst, als absichtlich verschleiert
geblieben. In Boieldieu tobte eine heftige Leidenschaft für
die ebenso reizende als leichtfertige Tänzerin der Großen
Oper, Clotilde Mafleuri. Nur einige Monate jünger als er
selbst, wußte sie Boieldieu durch planvoll angelegte, kokette
Sprödigkeit dahin zu bringen, daß er sie heiratete. Clotilde
trug nun seinen ehrlichen und ruhmvollen Namen, mehr ver
langte sie nicht, und nahm gleich nach der Hochzeit ihren
zügellosen Lebenswandel, ärger als zuvor, wieder auf. Boiel
dieu wollte die Rolle des geduldigen und geduldeten Ehe
mannes nicht spielen und suchte die Trennung der Ehe zu
erwirken. Aber Kaiser Napoleon, der nicht ungern auch in
Privatverhältnissen eine recht boshafte Vorsehung spielte, ver
weigerte die Erlaubniß. „Wenn Boieldieu so dumm war,
eine Tänzerin zu heiraten, so soll er sie zur Strafe auch be
halten.“
Clotilde starb erst im December 1825, wenige Tage nach
der ersten Aufführung der „Weißen Frau“. Boieldieu heiratete dann
Madame Philis-Bertin, die er liebte und die ihm ein muster
hafte Gattin ward.
Der unglückliche junge Ehemann entschloß sich
sofort zur Auswanderung nach Rußland und setzte seine Ab
reise rasch, fast heimlich ins Werk. Es war die Zeit der
ersten russischen Eroberungen auf französischem Gebiete —
im Theater nämlich. Eine Art Schwindel hatte die Pariser
Künstler erfaßt und zog sie nach Petersburg, dem Peru
fremder Musiker und Schauspieler.
„Nur wenig fehlt,“ schrieb damals ein französisches
Journal, „und wir werden unsere Oper, unser Théâtre
Feydeau, unsere Comédie Française in Petersburg suchen
müssen.“ Sogar die Bühne bemächtigte sich satyrisch dieses
Stoffes, und man spielte in den Vaudeville-Theatern: „Le
départ pour la Russie“, „Allons en Russie!“ u. dgl.
Boieldieu reiste im Juni 1803 nach Rußland, aufs Ge
rathewohl, ohne eine Einladung oder ein Engagement in
Händen zu haben. Aber schon an der russischen Grenze kam
ihm ein Handschreiben von Kaiser Alexander zu, das mit
der schmeichelhaftesten Einladung an den Petersburger Hof
zugleich die Ernennung Boieldieu’s zum Hof-Capellmeister
enthielt. Unter sehr vortheilhaften Bedingungen trat Boieldieu
in kaiserlich russische Dienste. Allerdings auch mit der enormen
Verpflichtung, jährlich drei neue Opern eigens für den
Kaiser zu componiren. Dieser hingegen hatte sich verpflichtet,
dem Componisten jährlich drei neue französische Textbücher
zu verschaffen. Keiner der beiden Theile hat sein Versprechen
gehalten. Die Verlegenheit, „woher ein Libretto nehmen?“
wiederholte sich fortwährend, und Boieldieu erhielt thatsäch
lich nur ein einziges, und zwar miserables Textbuch („Abder
Kahn“) geliefert. Zu allen übrigen für Petersburg compo
nirten Opern mußte Boieldieu entweder französische Lust
spiele oder Opernlibrettos, die bereits früher von anderen
französischen Componisten in Musik gesetzt waren, benützen.
Gleich die erste von Boieldieu’s Petersburger Opern, die
dreiactige „Aline, reine de Golconda“, gehörte mit
der Musik von Berton in Frankreich längst zu den be
kannten und beliebten Opern. Deßhalb war auch diese (und
manche andere) Opernpartitur Boieldieu’s für Paris ver
loren. „Was ich unsäglich bedauere,“ schreibt Boieldieu1806
an Berton, „ist meine „Vestalin“, die eigens für mich
gedichtet war und mir nun von dem Spitzhuben Spontini
weggefischt worden.“ Eine interessante und ganz überraschende
Enthüllung; denn bekannt war allerdings, daß Jouy sein
Textbuch „La Vestale“ Méhul angetragen hatte, nicht
aber daß es ursprünglich für Boieldieu bestimmt und
somit erst aus dritter Hand an Spontini gelangt war. Zu
beklagen haben wir diese Wendung nicht; Boieldieu’s zart
besaitete Lyra hätte schwerlich die erforderliche Kraft und
Leidenschaft für solchen Stoff aufgebracht, und Spontini wäre
uns sein Meisterwerk schuldig geblieben.
Boieldieu’s Thätigkeit in Rußland hat ihm Lohn und
Ehren die Fülle eingetragen, weniger an bleibendem künst
lerischen Ruhm. Dieser gedieh erst in Frankreich zu seinem
vollen Wuchs. Die gesundheitverderblichen Einflüsse des rus
sischen Klimas und einiges Heimweh trieben den Meister
nach mehr als siebenjähriger Abwesenheit nach Paris zurück.
Hier war ihm inzwischen in Nicolo Isouard ein gefähr
licher Rivale erstanden, dessen „Aschenbrödel“ allabendlich
die Räume der Komischen Oper füllte. Boieldieu antwortete
darauf mit seinem „Jean de Paris“ (1812), dessen
Erfolg nicht minder glänzend und nachhaltig ausfiel. „Jo
hann von Paris“ darf als der Anfang einer neuen, zweiten
Periode in Boieldieu’s Entwicklung gelten; ohne an Frische
und Leichtigkeit zu verlieren, nimmt seine Musik von jetzt
einen kräftigeren, höheren Schwung. Die Arie der Prin
zessin: „Welche Lust gewährt das Reisen!“ ist, merkwürdig
genug, seiner in Petersburg componirten Oper „Tele
mach“ (!) entnommen. Derselben Periode und Manier ge
hören die beiden folgenden Opern an: „Le nouveau
Seygneur du village“ (1813), ein kleines Meister
werk in einem Act, und „La Fête du village
voisin“ (1816), dessen graziöse Musik leider durch ein
absurdes und langweiliges Libretto beeinträchtigt wird. Zur
Feier der Vermälung des Herzogs von Berry wurde
Boieldieu die Composition einer Gelegenheits-Oper, „Charles
de France“, aufgetragen. Diese Composition war
für ihn eigentlich nur Vorwand und Anlaß zu einer guten
That. Er wollte dem talentvollen Herold nützen, dem
später berühmten Componisten des „Zampa“, welcher da
mals noch vergeblich an irgend einer Bühne anzukommen
trachtete. Boieldieu riskirte es, den noch unerprobten
jungen Componisten sich als Mitarbeiter beizugesellen
und ihm die Composition des ganzen zweiten Actes
allein zu überlassen. Das Geheimniß ließ Boieldieu erst knapp
vor der Vorstellung enthüllen, und so feierte Herold unter
dem schützenden Mantel seines berühmteren Collegen den
langersehnten Einzug in die Opéra Comique. „Alles ver
danke ich Boieldieu!“ schrieb damals der dankbare Herold
in sein Tagebuch. 1818 erzielte Boieldieu’s „Rothkäpp
chen“ (Le petit chaperon rouge), ein Werk voll Grazie,
Noblesse und Feinheit, einen großen Erfolg, obwol die
Musik im Vergleich mit „Johann von Paris“ vielfach zu
schwer und gelehrt befunden wurde. Eine zweiactige komische
Oper: „Les voitures versées“ („Die umgeworfenen
Kutschen“), in Rußland geschrieben, kam theilweise umgearbei
tet 1820 zur Aufführung; man applaudirte den Componisten
und pfiff den Dichter des Librettos unbarmherzig aus. In
dem langen Zeitraume von 1818 bis 1825 gab Boieldieu
kein größeres neues Werk heraus; seine ganze Kraft und
Thätigkeit war absorbirt von der Composition der „Dame
d’Avenel“, wie die „Weiße Frau“ ursprünglich heißen sollte.
Selbst ein so verlockendes Textbuch wie Scribe’s „Schnee“
refüsirte er während dieser Arbeit; dasselbe hat bekanntlich
Auber zu seinem ersten großen Erfolg verholfen und die
lange, fruchtbare Allianz zwischen Auber und Scribe einge
leitet. Ein zweites Boieldieu angetragenes Textbuch ist gott
lob uncomponirt geblieben: Goethe’s „Faust“, von
Antony Berand als komische Oper bearbeitet, mit einem
weiblichen Mephistopheles!
Auf den 10. December 1825 fällt die epochemachende
erste Aufführung von Boieldieu’s Meisterwerk „La Dame
blanche“, dessen Stoff Scribe so glücklich aus mehreren
Romanen von Walter Scott gezogen hatte. Boieldieu arbei
tete an dieser Partitur mit solcher Gewissenhaftigkeit, daß er
zum Beispiel Margaretha’s Spinnrad-Couplets nicht weni
ger als fünfmal neu componirt hat. Nur zur Ouvertüre
drängte große Eile; Boieldieu’s Lieblingsschüler, Adolph
Adam, hat nach einigen Andeutungen des Meisters und
mit einzelnen der Oper entnommenen Motiven die ganze
Ouvertüre zur „Weißen Frau“ geschrieben. Man kennt den
beispiellosen, die ganze gebildete Welt rasch erobernden Er
folg dieser Blüthe der französischen Opéra Comique. Der
Componist selbst mußte den Spaß erleben, daß „ihm zu
Ehren“ ein kleines Theater im südlichen Frankreich die
„Weiße Frau“ ohne Musik aufführte; der Gesang sollte
laut Meldung des Theaterzettels ersetzt werden „par un
dialogue vif et soutenu“. Welch zarte Aufmerksamkeit!
Boieldieu selbst schrieb an einen Freund, er habe nie und
nirgends einen Erfolg erlebt, der so viel „Froufrou“ ge
macht hätte wie die „Weiße Frau“! Schon im Jahre
1862 feierte sie ihre tausendste Vorstellung an der Opera
Comique. Nach der „Dame blanche“ hat Boieldieu nur
noch Ein Werk geschaffen, das trotz der höchsten darauf ver
wendeten Sorgfalt und Liebe ungünstige Aufnahme fand:
„Die beiden Nächte“. Es wiederholte sich hier das Mißge
schick, dem wir leider mehrmals in Boieldieu’s Laufbahn begegne
ten; daß seine Musik an ein schwaches, albernes Libretto ver
schwendet war. Also dasselbe traurige Schicksal, dem
früher „La Fête du village voisin“ und „Les voitures
versées“ zum Opfer fielen. Gleich diesen sind auch die
„Beiden Nächte“, an welchen Boieldieu vier Jahre lang
gearbeitet und die er der „Weißen Frau“ gleichstellte, voll
ständig verschollen. Lange hatte er sich gesträubt, das geist
lose Libretto des alten Kinderschriftstellers Bouilly zu
componiren, welcher mit den „Deux nuits“ ein Seitenstück
zu seinen durch Cherubini berühmt gewordenen „Deux
journées“ (Der Wasserträger) liefern wollte. Aber der
kindisch und eigensinnig gewordene Greis drang unermüdlich
in den gutmüthigen Boieldieu, welcher in der That be
fürchtete, seine Weigerung würde ein tödtlicher Schlag für
Bouilly werden. Anstatt den Tod Bouilly’s herbeizuführen,
hat diese Oper das Ende Boieldieu’s beschleunigt. Die
„Beiden Nächte“ erschienen 1829 in mangelhafter Auf
führung und wurden von dem durch höchste Erwartungen
befangenen Publicum kalt aufgenommen. Boieldieu hat den
Schmerz über diesen Mißerfolg niemals verwunden; die
Kränkung gab seiner längst angegriffenen Gesundheit den
ärgsten Stoß. Aus Rußland datirt wahrscheinlich der Anfang
seines Kehlkopfleidens, das nun rapid zunahm. Boieldieu
verlor vollständig die Stimme und mußte zur Conversation
Griffel und Schreibtafel zu Hilfe nehmen, wie einst Beethoven.
Die Aerzte urtheilten, daß nur ein längerer Aufenthalt im
Süden dieses gefährdete Leben retten oder wenigstens fristen
könne. Zu Anfang des Jahres 1830 begab sich Boieldieu
mit seiner Frau und seinem Sohne in das südliche Frank
reich, verweilte längere Zeit in Marseille, Toulouse, auf den
hyerischen Inseln. Diese kostspieligen Reisen zehrten seine
Ersparnisse auf. Leidender als je und verarmt obendrein
kehrte Boieldieu nach Paris zurück. In Folge der Juli-
Revolution ging die von Karl X. ihm ausgesetzte Pension
verloren, seine Bezüge am Conservatorium waren eingezogen,
von der bankerott gewordenen Komischen Oper erhielt er
keinen Sou. Es war das Verdienst des jungen, mächtigen
Ministers der Juli-Monarchie, Thiers, daß Boieldieu
für diese Verluste schließlich durch eine Pension von sechs
tausend Francs entschädigt wurde. In seinem Landhause zu
Tarcy, wo er in ländlicher Stille zwischen seinen geliebten
Blumenbeeten, die besten Stunden verlebt hatte, erwartete er
mit rührender Geduld und Fassung den Tod, welcher am
8. October 1834 erlösend an sein Bett trat. Sein Leichnam
ruht auf dem Père-Lachaise neben Grétry, Dalayrac, Méhul,
Isouard und seinem geliebten Herold, der ihm vorangegangen
war. Auf Boieldieu’s ausdrücklichen letzten Wunsch spielte
die den Leichenzug begleitende Musik das Spinnradlied aus
der „Weißen Frau“.
Wenige Künstler haben so leichte glückliche Anfänge er
lebt, wie Boieldieu, und so kummervollen, schmerzhaften Aus
gang, wie er! Aber man darf behaupten, daß kaum Einer
im Leben aufrichtiger geliebt, im Tode aufrichtiger beweint
worden ist.