Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3903. Wien, Donnerstag, den 8. Juli 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Nr. 3903. Wien, Donnerstag, den 8. Juli 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 08.07.1875
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Boieldieu.

Ed. H. Rouen, die Vaterstadt des Componisten der Weißen Frau“, hat soeben das hundertjährige Jubiläum seiner Geburt gefeiert. Es ist die erste nationale Gedenkfeier größeren Styls, die je in Frankreich zu Ehren eines Ton dichters stattfand. Einen Componisten von der Popularität Boieldieu’s haben die Franzosen früher auch nicht besessen. Man muß bis auf Grétry zurückgehen (der übrigens Belgier von Geburt war), um etwas dieser Popularität Nahekommendes anzutreffen. In der französischen Opern geschichte steht die „Weiße Frau“ geradezu einzig da: hat sie doch binnen fünfzig Jahren in Paris über 1300 Wieder holungen erlebt! Jules Janin, Augenzeuge der ersten Vorstellung, konnte fünfunddreißig Jahre später mit voller Berechtigung den Ausspruch thun, daß im ganzen Gebiet des Lustspiels und der Oper kein Erfolg mit dem der Weißen Frau“ an Dauer und Allgemeinheit sich vergleichen lasse. Aus Anlaß des Jubiläums, das, eigentlich erst im December fällig, dem Festkleid der Natur zuliebe jetzt schon vorgefeiert wurde, sind mehrere Gelegenheitsschriften er schienen, darunter die erste vollständige und quellenmäßige Biographie des berühmten Componisten. Der Verfasser, Herr Arthur Pougin, erscheint in dieser Arbeit durchaus als gewissenhafter Forscher, stellenweise auch als glücklicher Entdecker. Der ästhetisch-kritische Theil seines Buches ist un bedeutend und wirft kein neues Licht auf die künstlerische Eigenart und Bedeutung Boieldieu’s. Allein es bringt ver läßliche Daten, veröffentlicht zum erstenmal mehrere Docu mente und Briefe Boieldieu’s und berichtigt eine Reihe von Irrthümern, welche namentlich aus FétisLexikon sich allent halben verbreitet haben.

Francois Adrien Boieldieu So und nicht anders schrieb der Componist selbst seinen Namen, dessen unrichtige Orthographie Boïeldieu oder Boyeldieu überaus häufig angetroffen wird, selbst auf Titelblättern seiner Compositionen und auf der Gedenktafel seines Geburtshauses. Der Diphtong ist wie in den Wörtern royaume, loyauté etc. auszuspre chen, und der Name dreisylbig: „Boa-jel-dieu“, nicht wie man in Deutschland gewöhnlich hört, „Boal-dieu“. ist am 16. December 1775 in der alten Hauptstadt der Normandie, Rouen, ge boren, wo bekanntlich auch die Wiege Corneille’s und

Fontenelle’s stand. Der Vater bekleidete das Amt eines erzbischöflichen Secretärs, die Mutter hielt das gesuchteste Modewaarengeschäft in Rouen. Ziemlich wohlhabend und kunstliebend, gönnten die Eltern der Musikpassion des Kna ben ungehinderte Entfaltung und gaben ihn dem angesehen sten Musiker in Rouen, dem Dom-Organisten Broche, in die Lehre. So schien denn Alles aufs beste vorgesehen, dem jungen „Boiel“, wie man ihn kurzweg nannte, glückliche und fruchtbringende Jahre zu sichern. Leider war Meister Broche ein Trunkenbold, voll Jähzorn und Gewaltthätigkeit. Der kleine, sanfte Adrien zitterte vor ihm und mußte sich die äußerste Härte, selbst Mißhandlungen, gefallen lassen, über welche daheim zu klagen er niemals wagte. So kam es, daß der Knabe trotz Talents und guten Willens nur wenig lernte während dieses mehrjährigen Unterrichtes. Er war dem ge fürchteten Broche in Kost und Wohnung übergeben, also ganz in dessen Gewalt. Eines Tages fiel ihm ein dicker Tropfen Tinte auf die Claviatur, und in der Angst vor der unaus bleiblichen Züchtigung entfloh er. Boieldieu wollte geradewegs nach Paris, dem Wunderland seiner Träume, seiner Sehn sucht. Aber wie dahin gelangen? Der Weg so weit, die Bar schaft so klein! Gleichviel, mit fünfzehn Jahren überlegt man nicht lange. Er wandert zu Fuß, müde und hungrig ver bringt er die erste Nacht inmitten einer Schafheerde, deren Hirt sein ärmliches Lager und ein Stück Brot mit ihm theilt. In Paris macht ihn anfangs der Anblick so vieler Herrlich keiten alles Ungemach vergessen. Aber seine paar Francs sind zu Ende, und die Wirthin, ein alter Drache, wirft ihn zur Herberge heraus. Arm, fremd, verzweifelnd irrt er bis an das Ufer der Seine; schon faßt er den Entschluß, sich zu ertränken; da hört er seinen Namen rufen. Ein braver Diener aus dem Elternhause war dem Flüchtlinge zu Pferde nachgejagt und hatte ihn glücklich im Momente der höchsten Noth gefunden. In dem Hause des Herrn Mollin (nach mals Graf Mollin und Pair von Frankreich), dessen Schwester später die zweite Frau des alten Boieldieu wurde, fand der Kleine die liebevollste Aufnahme. Dies geschah im Jahre 1790. Wir wissen nicht, wie und unter wessen Lei tung Boieldieu seine Studien während der zwei folgenden Jahre betrieb. Ohne Zweifel hat der Besuch der Oper, der entzückende Eindruck der Werke von Grétry, Dalayrac, Méhul das Meiste gethan, sein Talent zu wecken und ihm selbst zum Bewußtsein zu bringen. Im Herbste 1793 tritt Boieldieu zum erstenmale vor die Oeffentlichkeit, und zwar

in Rouen, mit einer zweiactigen Oper, „La fille coupable“, welcher zwei Jahre später ebendaselbst die Oper „Rosalie et Myrza“ folgte. Was die Textbücher dieser Erstlingsopern betrifft, so wissen wir jetzt, daß es Boieldieu’s Vater selbst war, der sie eigens für seinen Sohn geschrieben, um ihm den ersten Schritt in die Oeffentlichkeit zu ermöglichen. Ein interessantes und in der Operngeschichte wol alleinstehendes Verhältniß. Der günstige Erfolg dieses Debüts in Rouen und der auf die Schreckensjahre etwas ruhiger gewordene politische Zustand bewogen unseren Componisten zur Rückkehr nach Paris. Durch den gefeierten Sänger Garat empfoh len und im Hause des Componisten Jadin collegial auf genommen, war der junge Boieldieu bald in der Pariser Musikwelt bekannt. Mit Nahrungssorgen hatte er nicht zu kämpfen, und die gewöhnliche Angabe, er habe als Clavier stimmer und Notencopist seinen Unterhalt verdienen müssen, beruht nach neuerer Forschung auf Irrthum.

Seine ersten Erfolge in Paris verdankte Boieldieu zahl reichen Romanzen, welche Garat mit Vorliebe und unver gleichlichem Geschmack vortrug. Die Schwärmerei für „Ro manzen“ datirt, seltsam genug, aus den ersten Tagen der Revolution; sie wuchs unter dem Directorium und Consulat, bis sie endlich unter dem Kaiserreich zur völligen Manie ausartete. Zur Zeit von Boieldieu’s Anfängen schrieb noch die Elite der französischen Musiker (Cherubini, Dalayrac, Berton etc.) Romanzen. Auch mit verschiedenen Clavierstücken und Compositionen für die Harfe erzielte Boieldieu Erfolge in den Salons. Jung, hübsch, geistreich, liebenswürdig, ver einigte Boieldieu damals alle Erfordernisse, Glück zu machen, und das Glück ließ auch nicht lange auf sich warten. Boieldieu erreichte 1797 das heißersehnte Ziel, im Théâtre Feydeau eine einactige Oper aufzuführen: „La Famille suisse“, welche später den Stoff zu einer Lieblingsoper der Deutschen („Die Schweizerfamilie“ von Castelli und Weigl) geliefert hat. Die ersten größeren Opern Boieldieu’s, welche in Paris zur Aufführung kamen, waren „Zoraïme et Zulnare“ (1798) und „Benjowski“ (1800, das Sujet identisch mit Kotzebue’s Schauspiel), beide dreiactig und beide sehr beifällig aufgenommen. In diesen zwei Wer ken nimmt Boieldieu’s Musik einen etwas kühneren Flug und nähert sich dem ernsten, leidenschaftlichen Style der großen Oper. Diesem hier keimenden Talent für starke dra matische Situationen blieb weitere Entwicklung versagt, da Boieldieu’s spätere Opernlibrettos durchweg nur den heite

ren Conversationston festhielten. Für die Große Oper hat Boieldieu niemals gearbeitet. Ein wahres Zugstück wurde Der Khalif von Bagdad“ (1800) — es war da mals die Blüthezeit der einactigen Operetten — der über vierzig Jahre lang sich in der Opéra Comique erhielt und auch in Deutschland zu großer Beliebtheit gelangte. Es geschah während einer dieser Khalifen-Vorstellungen, daß Cherubini im Foyer dem jungen Componisten begegnete, ihn am Kragen faßte und mit seiner gewohnten Barschheit anrief: „Unglücklicher! Schämst du dich nicht, solche Erfolge zu haben und sie so wenig zu verdienen?“ Boieldieu blieb sprachlos bei dieser Interpellation, aber er fühlte, daß sie nicht unbegründet war. Er eilte zu Cherubini, um sich dessen guten Rath zu erbitten. Durch zwei Jahre genoß er die freundschaftliche Unterweisung des älteren Meisters und nahm nun die Sache viel ernsthafter. In der kurzen Frist von 1795 bis 1800 hatte er mit wenig Kunst acht Opern geschrieben („la science n’y est entrée que pour bien peu“, wie er sich ausdrückte); jetzt aber, seit er durch Che rubini gründliche Kenntnisse erworben, fühlte er seine ganze Vergangenheit wie einen Vorwurf. Boieldieu machte eine Pause von mehreren Jahren und trat erst 1803 mit der dreiactigen Oper „Ma tante Aurore“ vor das Publi cum. Diese gehört zu den seltenen Opern, worin eine komi sche Alte die Hauptperson spielt. Tante Aurore ist nämlich durch vieles Romanlesen so verschroben, daß sie die Hand ihrer Nichte nur einem Freier gewähren will, der auf ganz romantischem Wege, durch unerhörte Abenteuer und Helden thaten das Herz des Mädchens gewinnt. Die Nichte und ihr gut bürgerlicher Liebhaber führen nun zwei Acte lang die drollig sten Abenteuer, erlogene Räuberscenen, Rettungen u. s. w. auf, um das romanverhärtete Herz der Tante zu rühren. Das Publicum unterhielt sich köstlich und applaudirte von Herzen. Als aber im dritten Acte der alte Bediente als Amme ver kleidet mit zwei Säuglingen auf dem Arme aus einem Thurme steigt, da fanden die Pariser den Spaß zu stark und protestirten zischend und pfeifend. Bei den nächsten Vorstellungen ließ man den ganzen dritten Act weg (mit alleiniger Ausnahme der so berühmt gewordenen „Romanze in drei Tönen“), und in dieser verkürzten Form erhielt sich Tante Aurora“ jahrelang in der allgemeinen Gunst. Die Strenge, mit welcher damals das Publicum Novitäten rich tete, mag den heutigen Parisern wie ein Märchen erscheinen, denn jetzt ist das Auditorium der ersten Vorstellungen be

kanntlich so zuverlässig zusammengesetzt, daß ein Durchfall nicht vorkommen kann. Der Erfolg von „Ma tante Aurore“, mit welcher für Boieldieu’s Talent die eigentliche künstle rische Reise beginnt, stellte ihn in die erste Reihe der dama ligen dramatischen Componisten Frankreichs. Grétry hatte aufgehört zu schreiben, Della Maria schimmerte nur einen Moment lang, Isouard, eben erst angekommen, war vor läufig nur eine Hoffnung. Eine beneidenswerthe Laufbahn that sich breit und einladend vor Boieldieu auf.

Wie kam es nun, daß er sie plötzlich aufgab und Frank reich verließ, um sieben seiner schönsten Jahre in Rußland zu verbringen? Dieses trübe Räthsel in Boieldieu’s Leben war bisher nicht sowol ungelöst, als absichtlich verschleiert geblieben. In Boieldieu tobte eine heftige Leidenschaft für die ebenso reizende als leichtfertige Tänzerin der Großen Oper, Clotilde Mafleuri. Nur einige Monate jünger als er selbst, wußte sie Boieldieu durch planvoll angelegte, kokette Sprödigkeit dahin zu bringen, daß er sie heiratete. Clotilde trug nun seinen ehrlichen und ruhmvollen Namen, mehr ver langte sie nicht, und nahm gleich nach der Hochzeit ihren zügellosen Lebenswandel, ärger als zuvor, wieder auf. Boiel dieu wollte die Rolle des geduldigen und geduldeten Ehe mannes nicht spielen und suchte die Trennung der Ehe zu erwirken. Aber Kaiser Napoleon, der nicht ungern auch in Privatverhältnissen eine recht boshafte Vorsehung spielte, ver weigerte die Erlaubniß. „Wenn Boieldieu so dumm war, eine Tänzerin zu heiraten, so soll er sie zur Strafe auch be halten.“ Clotilde starb erst im December 1825, wenige Tage nach der ersten Aufführung der „Weißen Frau“. Boieldieu heiratete dann Madame Philis-Bertin, die er liebte und die ihm ein muster hafte Gattin ward. Der unglückliche junge Ehemann entschloß sich sofort zur Auswanderung nach Rußland und setzte seine Ab reise rasch, fast heimlich ins Werk. Es war die Zeit der ersten russischen Eroberungen auf französischem Gebiete — im Theater nämlich. Eine Art Schwindel hatte die Pariser Künstler erfaßt und zog sie nach Petersburg, dem Peru fremder Musiker und Schauspieler.

„Nur wenig fehlt,“ schrieb damals ein französisches Journal, „und wir werden unsere Oper, unser Théâtre Feydeau, unsere Comédie Française in Petersburg suchen müssen.“ Sogar die Bühne bemächtigte sich satyrisch dieses Stoffes, und man spielte in den Vaudeville-Theatern: „Le départ pour la Russie“, „Allons en Russie!“ u. dgl.

Boieldieu reiste im Juni 1803 nach Rußland, aufs Ge rathewohl, ohne eine Einladung oder ein Engagement in Händen zu haben. Aber schon an der russischen Grenze kam ihm ein Handschreiben von Kaiser Alexander zu, das mit der schmeichelhaftesten Einladung an den Petersburger Hof zugleich die Ernennung Boieldieu’s zum Hof-Capellmeister enthielt. Unter sehr vortheilhaften Bedingungen trat Boieldieu in kaiserlich russische Dienste. Allerdings auch mit der enormen Verpflichtung, jährlich drei neue Opern eigens für den Kaiser zu componiren. Dieser hingegen hatte sich verpflichtet, dem Componisten jährlich drei neue französische Textbücher zu verschaffen. Keiner der beiden Theile hat sein Versprechen gehalten. Die Verlegenheit, „woher ein Libretto nehmen?“ wiederholte sich fortwährend, und Boieldieu erhielt thatsäch lich nur ein einziges, und zwar miserables Textbuch („Abder Kahn“) geliefert. Zu allen übrigen für Petersburg compo nirten Opern mußte Boieldieu entweder französische Lust spiele oder Opernlibrettos, die bereits früher von anderen französischen Componisten in Musik gesetzt waren, benützen. Gleich die erste von Boieldieu’s Petersburger Opern, die dreiactige „Aline, reine de Golconda“, gehörte mit der Musik von Berton in Frankreich längst zu den be kannten und beliebten Opern. Deßhalb war auch diese (und manche andere) Opernpartitur Boieldieu’s für Paris ver loren. „Was ich unsäglich bedauere,“ schreibt Boieldieu1806 an Berton, „ist meine „Vestalin“, die eigens für mich gedichtet war und mir nun von dem Spitzhuben Spontini weggefischt worden.“ Eine interessante und ganz überraschende Enthüllung; denn bekannt war allerdings, daß Jouy sein Textbuch „La VestaleMéhul angetragen hatte, nicht aber daß es ursprünglich für Boieldieu bestimmt und somit erst aus dritter Hand an Spontini gelangt war. Zu beklagen haben wir diese Wendung nicht; Boieldieu’s zart besaitete Lyra hätte schwerlich die erforderliche Kraft und Leidenschaft für solchen Stoff aufgebracht, und Spontini wäre uns sein Meisterwerk schuldig geblieben.

Boieldieu’s Thätigkeit in Rußland hat ihm Lohn und Ehren die Fülle eingetragen, weniger an bleibendem künst lerischen Ruhm. Dieser gedieh erst in Frankreich zu seinem vollen Wuchs. Die gesundheitverderblichen Einflüsse des rus sischen Klimas und einiges Heimweh trieben den Meister nach mehr als siebenjähriger Abwesenheit nach Paris zurück. Hier war ihm inzwischen in Nicolo Isouard ein gefähr licher Rivale erstanden, dessen „Aschenbrödel“ allabendlich

die Räume der Komischen Oper füllte. Boieldieu antwortete darauf mit seinem „Jean de Paris“ (1812), dessen Erfolg nicht minder glänzend und nachhaltig ausfiel. „Jo hann von Paris“ darf als der Anfang einer neuen, zweiten Periode in Boieldieu’s Entwicklung gelten; ohne an Frische und Leichtigkeit zu verlieren, nimmt seine Musik von jetzt einen kräftigeren, höheren Schwung. Die Arie der Prin zessin: „Welche Lust gewährt das Reisen!“ ist, merkwürdig genug, seiner in Petersburg componirten Oper „Tele mach“ (!) entnommen. Derselben Periode und Manier ge hören die beiden folgenden Opern an: „Le nouveau Seygneur du village“ (1813), ein kleines Meister werk in einem Act, und „La Fête du village voisin“ (1816), dessen graziöse Musik leider durch ein absurdes und langweiliges Libretto beeinträchtigt wird. Zur Feier der Vermälung des Herzogs von Berry wurde Boieldieu die Composition einer Gelegenheits-Oper, „Charles de France“, aufgetragen. Diese Composition war für ihn eigentlich nur Vorwand und Anlaß zu einer guten That. Er wollte dem talentvollen Herold nützen, dem später berühmten Componisten des „Zampa“, welcher da mals noch vergeblich an irgend einer Bühne anzukommen trachtete. Boieldieu riskirte es, den noch unerprobten jungen Componisten sich als Mitarbeiter beizugesellen und ihm die Composition des ganzen zweiten Actes allein zu überlassen. Das Geheimniß ließ Boieldieu erst knapp vor der Vorstellung enthüllen, und so feierte Herold unter dem schützenden Mantel seines berühmteren Collegen den langersehnten Einzug in die Opéra Comique. „Alles ver danke ich Boieldieu!“ schrieb damals der dankbare Herold in sein Tagebuch. 1818 erzielte Boieldieu’s „Rothkäpp chen“ (Le petit chaperon rouge), ein Werk voll Grazie, Noblesse und Feinheit, einen großen Erfolg, obwol die Musik im Vergleich mit „Johann von Paris“ vielfach zu schwer und gelehrt befunden wurde. Eine zweiactige komische Oper: „Les voitures versées“ („Die umgeworfenen Kutschen“), in Rußland geschrieben, kam theilweise umgearbei tet 1820 zur Aufführung; man applaudirte den Componisten und pfiff den Dichter des Librettos unbarmherzig aus. In dem langen Zeitraume von 1818 bis 1825 gab Boieldieu kein größeres neues Werk heraus; seine ganze Kraft und Thätigkeit war absorbirt von der Composition der „Dame d’Avenel“, wie die „Weiße Frau“ ursprünglich heißen sollte. Selbst ein so verlockendes Textbuch wie Scribe’s „Schnee

refüsirte er während dieser Arbeit; dasselbe hat bekanntlich Auber zu seinem ersten großen Erfolg verholfen und die lange, fruchtbare Allianz zwischen Auber und Scribe einge leitet. Ein zweites Boieldieu angetragenes Textbuch ist gott lob uncomponirt geblieben: Goethe’sFaust“, von Antony Berand als komische Oper bearbeitet, mit einem weiblichen Mephistopheles!

Auf den 10. December 1825 fällt die epochemachende erste Aufführung von Boieldieu’s Meisterwerk „La Dame blanche“, dessen Stoff Scribe so glücklich aus mehreren Romanen von Walter Scott gezogen hatte. Boieldieu arbei tete an dieser Partitur mit solcher Gewissenhaftigkeit, daß er zum Beispiel Margaretha’s Spinnrad-Couplets nicht weni ger als fünfmal neu componirt hat. Nur zur Ouvertüre drängte große Eile; Boieldieu’s Lieblingsschüler, Adolph Adam, hat nach einigen Andeutungen des Meisters und mit einzelnen der Oper entnommenen Motiven die ganze Ouvertüre zur „Weißen Frau“ geschrieben. Man kennt den beispiellosen, die ganze gebildete Welt rasch erobernden Er folg dieser Blüthe der französischen Opéra Comique. Der Componist selbst mußte den Spaß erleben, daß „ihm zu Ehren“ ein kleines Theater im südlichen Frankreich die Weiße Frau“ ohne Musik aufführte; der Gesang sollte laut Meldung des Theaterzettels ersetzt werden „par un dialogue vif et soutenu“. Welch zarte Aufmerksamkeit! Boieldieu selbst schrieb an einen Freund, er habe nie und nirgends einen Erfolg erlebt, der so viel „Froufrou“ ge macht hätte wie die „Weiße Frau“! Schon im Jahre 1862 feierte sie ihre tausendste Vorstellung an der Opera Comique. Nach der „Dame blanche“ hat Boieldieu nur noch Ein Werk geschaffen, das trotz der höchsten darauf ver wendeten Sorgfalt und Liebe ungünstige Aufnahme fand: Die beiden Nächte“. Es wiederholte sich hier das Mißge schick, dem wir leider mehrmals in Boieldieu’s Laufbahn begegne ten; daß seine Musik an ein schwaches, albernes Libretto ver schwendet war. Also dasselbe traurige Schicksal, dem früher „La Fête du village voisin“ und „Les voitures versées“ zum Opfer fielen. Gleich diesen sind auch die Beiden Nächte“, an welchen Boieldieu vier Jahre lang gearbeitet und die er der „Weißen Frau“ gleichstellte, voll ständig verschollen. Lange hatte er sich gesträubt, das geist lose Libretto des alten Kinderschriftstellers Bouilly zu componiren, welcher mit den „Deux nuits“ ein Seitenstück zu seinen durch Cherubini berühmt gewordenen „Deux

journées“ (Der Wasserträger) liefern wollte. Aber der kindisch und eigensinnig gewordene Greis drang unermüdlich in den gutmüthigen Boieldieu, welcher in der That be fürchtete, seine Weigerung würde ein tödtlicher Schlag für Bouilly werden. Anstatt den Tod Bouilly’s herbeizuführen, hat diese Oper das Ende Boieldieu’s beschleunigt. Die Beiden Nächte“ erschienen 1829 in mangelhafter Auf führung und wurden von dem durch höchste Erwartungen befangenen Publicum kalt aufgenommen. Boieldieu hat den Schmerz über diesen Mißerfolg niemals verwunden; die Kränkung gab seiner längst angegriffenen Gesundheit den ärgsten Stoß. Aus Rußland datirt wahrscheinlich der Anfang seines Kehlkopfleidens, das nun rapid zunahm. Boieldieu verlor vollständig die Stimme und mußte zur Conversation Griffel und Schreibtafel zu Hilfe nehmen, wie einst Beethoven. Die Aerzte urtheilten, daß nur ein längerer Aufenthalt im Süden dieses gefährdete Leben retten oder wenigstens fristen könne. Zu Anfang des Jahres 1830 begab sich Boieldieu mit seiner Frau und seinem Sohne in das südliche Frank reich, verweilte längere Zeit in Marseille, Toulouse, auf den hyerischen Inseln. Diese kostspieligen Reisen zehrten seine Ersparnisse auf. Leidender als je und verarmt obendrein kehrte Boieldieu nach Paris zurück. In Folge der Juli- Revolution ging die von Karl X. ihm ausgesetzte Pension verloren, seine Bezüge am Conservatorium waren eingezogen, von der bankerott gewordenen Komischen Oper erhielt er keinen Sou. Es war das Verdienst des jungen, mächtigen Ministers der Juli-Monarchie, Thiers, daß Boieldieu für diese Verluste schließlich durch eine Pension von sechs tausend Francs entschädigt wurde. In seinem Landhause zu Tarcy, wo er in ländlicher Stille zwischen seinen geliebten Blumenbeeten, die besten Stunden verlebt hatte, erwartete er mit rührender Geduld und Fassung den Tod, welcher am 8. October 1834 erlösend an sein Bett trat. Sein Leichnam ruht auf dem Père-Lachaise neben Grétry, Dalayrac, Méhul, Isouard und seinem geliebten Herold, der ihm vorangegangen war. Auf Boieldieu’s ausdrücklichen letzten Wunsch spielte die den Leichenzug begleitende Musik das Spinnradlied aus der „Weißen Frau“.

Wenige Künstler haben so leichte glückliche Anfänge er lebt, wie Boieldieu, und so kummervollen, schmerzhaften Aus gang, wie er! Aber man darf behaupten, daß kaum Einer im Leben aufrichtiger geliebt, im Tode aufrichtiger beweint worden ist.