Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3958. Wien, Mittwoch, den 1. September 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3958. Wien, Mittwoch, den 1. September 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.09.1875
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Vom Hofoperntheater. Wien, 31. August.

Ed. H. Die Dornen um Herbeck’s Schläfe haben Rosen getragen — für seinen Nachfolger. Franz Jauner über kam die Direction des Hofoperntheaters mit einer künstleri schen Unabhängigkeit, wie sie so höchst persönlicher, schwie riger Stellung jederzeit gebührt hätte, aber niemals zuge standen war. Jauner besaß den Muth, seinen Eintritt in dieses Amt unerschütterlich an die Bedingung vollkommen freier Action zu knüpfen, er bestand darauf, und das unbe siegbar scheinende Zwing-Uri der „General-Intendanz“ fiel lautlos. Damit hat er nicht allein sich selbst, sondern dem gesammten deutschen Bühnenwesen einen unschätzbaren und hoffentlich folgenreichen Dienst erwiesen. Jauner erkaufte diese Befreiung allerdings mit der Uebernahme erhöhter Pflicht und Verantwortlichkeit. Die Hofbehörde verlangt von ihm durchgreifende finanzielle Reformen, Auslangen mit der festgesetzten Subvention und Abschwören der alten Gewohn heitssünde: Deficit. Die ersten Wochen des Jauner’schen Directorats — es begann erst kurz vor den Theater-Ferien — vergingen über der angestrengten Vorarbeit zu durchgreifen den finanziellen Reformen. Den Aufführungen selbst schenkte der neue Director während jenes ersten administrativen Sturmes keine Aufmerksamkeit, er mußte sie eben ablaufen lassen, wie eine von anderer Hand aufgezogene Uhr. Jetzt erst, nach Beendigung der Sommerferien, beginnt seine künst lerische Thätigkeit, sein Walten auf der Bühne, und von diesem Augenblick wird auch für uns die neue Direction interessant. Die vielgerühmten und gewiß viel rühmens werthen Ersparnisse gehen ja den Kunstkritiker nicht näher an. An sich von unbestrittener Wichtigkeit, haben sie ja wol auch den ersten Anstoß gegeben zur Berufung Jauner’s. Das Hof operntheater brauchte in seinen Finanz-Calamitäten zunächst einen tüchtigen Administrator und Geschäftsmann. Als solcher war Jauner bekannt. Ueberdies hatte er sich unter den Augen von ganz Wien als energischer, erfolgreicher Bühnenleiter, als eminenter Regisseur, endlich als ein feingebildeter, geist reicher Schauspieler erprobt — eine helle Aussicht nach drei

Seiten auf Jauner’s neue Thätigkeit. „Aber er ist ja kein Musiker!“ hört man oft einwenden. Musiker von Fach aller dings nicht, aber so recht was man einen „geschmackvollen Kenner und Liebhaber“ zu nennen pflegte, von Hause aus musikalisch, von Jugend auf Sänger und Pianist, seit De cennien endlich Vertrauter des Opernlebens und Opernwesens unserer Zeit. Daß ein Hofopern-Director Musiker von Fach sein müsse, daß vielleicht gar hierin seine nothwendigste Qua lität bestehe, gehört zu den dilettantischen Vorurtheilen. Die fachmäßige Musikkenntniß im Operntheater repräsentiren die Capellmeister, nicht der Director. Lieben und schützen soll er die Tonkunst, er braucht nicht mit ihr verheiratet zu sein. Die Fähigkeit, ein Theater gut zu leiten, steht unabhängig von eigenen musikalischen Leistungen, ist ein Talent, eine Wissenschaft, eine Kunst für sich. Jauner hat im Carl- Theater gezeigt, wie man als Director ein großes Per sonal streng und doch liebenswürdig in Zucht halten, tüch tige Kräfte gewinnen, ein anziehendes Repertoire gestalten und beleben kann; er hat als Regisseur gezeigt, wie ein Stück glänzend in Scene zu setzen und selbst gering fügigen Novitäten durch ein musterhaftes Zusammenspiel Wirkung abzuzwingen sei. Mit lebhaftem Interesse sah ich ihn manchmal bei Proben jedem Einzelnen nicht blos erklären, sondern selber zeigen, wie dies und jenes zu machen war. Hier half dem Director der eigene Schauspielerberuf. Und von diesem hoffen wir eine günstige und erhebliche Einwir kung auf die Vorstellungen im Opernhause, eine Einwirkung, wie sie bisher von keinem Director dieses Theaters ausge gangen ist, noch ausgehen konnte. Es nahm uns Wunder, in den zahlreichen Journal-Artikeln, welche Jauner als neuen Operndirector begrüßten, diese seine Eigenschaft als Schau spieler so gut wie gar nicht betont zu finden. Sie ist ein völlig Neues in dem gegenwärtigen Verhältniß und mit das Interessanteste. Ich gestehe gern meine Vorliebe für Jau ner’s schauspielerische Leistungen; ein feines, durch vielseitige Bildung geschärftes Talent für charakteristische Darstellung waltete bald gemüthvoll durchwärmt, bald übermüthig be lebt in seinen größeren Rollen. Wie oft sah man ihn nicht mit einer virtuosen Charakterfigur den Preis des Abends davontragen und Tags darauf in einer bescheidenen Neben rolle mit gleichem Eifer für das Ganze mitwirken. Was es

einen solchen, in voller Frische wirkenden Schauspieler kosten mag, auf die Freude des Selbstschaffens und Selbstspielens, auf die liebgewohnte Musik des Händeklatschens und Bravo rufens mit Einemmale zu verzichten, das dürften viele von Jauner’s jüngsten Gratulanten gar nicht ahnen. Möge ihm selbst und uns ein Ersatz werden in der neuen Verwerthung seines Darstellertalentes zum Frommen unserer Opernsänger. Diese waren bisher sich so gut wie selbst überlassen in Bezug auf dramatische Charakteristik, Declamation und Mimik, sogar in Bezug auf die Maske. Freilich wird keine Unter weisung im Stande sein, das mangelnde dramatische Talent zu ersetzen und den Opernsänger zugleich zum Charakter spieler umzuschaffen. Das Publicum stellt auch thatsächlich mäßige Anforderungen nach dieser Richtung und wird bei vortrefflichem Gesang sich wol jederzeit mit einer bescheide nen Ausfüllung der dramatischen Contouren begnügen. Aber die Contouren selbst sollen richtig sein. In vielen Leistungen am Hofoperntheater sind sie das schlechterdings nicht, vielleicht blos darum, weil dem Darsteller die wün schenswerthe Führung fehlte.

Um eine der bekanntesten Vorstellungen als Beispiel zu wählen — was wird Herr Jauner nicht Alles in Gounod’s Faust“ zu corrigiren haben, falls er die Aufführung mit derselben strengen Wachsamkeit prüft, wie vordem im Carl- Theater! Im ersten Act agirt Herr Adams den Faust wie einen vom Schlagfluß gerührten achtzigjährigen Greis, der an Händen und Füßen zittert. Und dieser lebensmüde Pfründner, dem wir höchstens noch den Wunsch nach einem soliden Strohsacke zum Sterbelager zutrauen, proclamirt ungeduldig seine Sehnsucht nach Liebeslust und schönen Frauen! Das sind Mißgriffe, die man einem sonst ver ständigen Künstler mit zwei Worten klarmachen und abstellen kann. Was soll man vollends von der unglaublichen Figur sagen, die Herr Scaria aus dem Mephisto macht? Er spielt den „Geist, der stets verneint“, ungefähr wie den Marcell in den „Hugenotten“, nur noch derber, bequemer und breit spuriger. Wenn das Dämonische, Ironisch-Aetzende Me phisto’s Herrn Scaria durchaus versagt (seine Persönlichkeit reagirt allerdings gegen die Rolle), so sollte er doch wenigstens in allem Aeußerlichen, in Maske und Haltung das leicht Erreichbare anstreben. Herr Scaria verschmäht

dies fast demonstrativ, er unterläßt sogar jede Andeutung des Hinkens und legt in den drei letzten Acten auch das nothdürftig schützende Mäntelchen ab, damit nur die Figur noch derber und landsknechtmäßiger erscheine. Ein erster Opernsänger könnte sich doch leicht einmal ansehen, wie Lewinsky und Lobe als Mephisto gekleidet oder ge schminkt sind, wie sie gehen und stehen. Wir acceptiren ja willig jede Darstellung, welche diesen schillernden Charakter bei Einer wesentlichen Seite anfaßt; man gebe uns den Mephisto als grinsenden Teufel oder als humoristischen Schalk, nur nicht als Bierhalle!

Eine Albernheit, welche dem französischen Librettisten zur Last fällt, ist es, daß Mephisto im zweiten Acte sich vor der Kreuzform ihm vorgehaltener Schwertgriffe fürchtet. Mephisto, der Gretchen im Beichtstuhle belauscht, Mephisto, der als der weltläufigste und weltmännischeste unter seinen Collegen zur Versuchung Faust’s ausersehen ward, sollte in Krämpfe verfallen bei dem Anblick eines Schwertgriffes! Da hätte ja der Herr statt eines Teufels einen Esel auf die Erde entsendet. Die Scene kann man nicht füglich streichen, wol aber durch die Darstellung sehr mildern, indem Mephisto die unbequeme Geschichte möglichst passiv an sich vorübergehen läßt und sich dann nicht viel unglücklicher abschüttelt, als ein begossener Pudel. Wollen doch die frommen Bürger mittelst der Kreuze nur sich selbst schützen vor dem Bösen. Herr Scaria würzte letzthin seine krampfhaften Zuckungen sogar durch einen Schrei. Eine andere ganz leicht zu beseitigende Ungereimt heit verstimmt uns regelmäßig am Schlusse der Domscene: Mephisto’s brutales Heraustreten aus der Coulisse mit dem Ausrufe: Sei verflucht! Mag der Componist die Worte, mit denen bei Goethe „ein böser Geist“ Gretchen bis zur Verzweiflung ängstigt, immerhin von einer Baßstimme, der des Mephisto, singen lassen, unsichtbar muß dessen Ge stalt jedenfalls bleiben, auch bei den letzten Worten; denn wenn Gretchen sieht, daß es nur Mephisto ist, der ihr flucht, so wird dies ihren Schmerz schwerlich bis zum Wahnsinn steigern. In der französischen Partitur wird man auch vergebens nach einer Andeutung suchen, daß Mephisto mit den Worten: Marguerite, à toi l’enfer!“ leibhaftig vor Gretchen hin treten soll. In Deutschland empfinden wir dergleichen Unge

reimtheiten und Mißhandlungen des „Faust“-Dramas weit ärgerlicher als in Frankreich und erachten es daher für Recht und Pflicht unserer Theater-Directoren, das leicht zu Aendernde mit einem Machtwort auch wirklich zu ändern. Es bedarf wol kaum der Versicherung, daß ich es in diesem Zusammenhange nicht auf einen Tadel des Herrn Scaria gemünzt hatte, den ich ob mancher gelungenen Leistung — den prächtigen Falstaff vor Allem — oft und gerne ge rühmt. Habe ich doch Scaria’s Mephisto wiederholt mit Unbehagen gesehen, ohne Aufhebens davon zu machen, mei nend, der Künstler werde sich bei der nächsten Wiederholung gründlicher und eifriger der Rolle annehmen. Vielleicht hätte er es auch gethan, wäre ihm der Rath eines in der Schauspielkunst bewährten Directors zu Theil geworden. Es sollte hier an einem nächstliegenden Beispiel lediglich gezeigt werden, was wir gerade von Herrn Jauner in dieser Rich tung erwarten: eine aufmerksame dramaturgische Führung. Wir hoffen bald berichten zu können, wie angelegen der neue Director es sich sein läßt, nicht blos dem Hof-Aerar Geld, sondern auch dem Zuschauer Aergerniß zu ersparen.

Die ersten Wochen der neuen Direction waren, wie gesagt, ein bloßes Präludium, und konnten mehr nicht sein. Trotzdem hat es Herr Jauner inmitten seiner finanziellen Clausurarbeiten nicht an Rührigkeit fehlen lassen; ich erinnere an die Vorführung des Verdi’schen Requiems, das er in der elften Stunde den Händen unserer „Gesellschaft der Musikfreunde“ entwand, und an die trefflichen „Aïda“-Auf führungen in italienischer Sprache unter Verdi’s Leitung. Endlich an das Gastspiel der Frau Mallinger, dieses den Wienern so lange unbekannt gebliebenen Sterns, über dessen Unerreichbarkeit wir uns jetzt allerdings weniger grämen. Gegenwärtig florirt aufs beste das Gastspiel einer Berliner Primadonna, welche sich gewissenhaft Frau Kupfer-Berger schreibt, die wir aber lieber ohne montanistische Härten und Längen Frau Berger nennen wollen. Frau Berger also sang gestern die Alice in „Ro bert“ recht beifällig, ohne damit noch den Namen einer fertigen Künstlerin ansprechen zu können. Die Natur ist nicht stiefmütterlich an der jungen Dame vorbeigegangen, sie hat ihr eine wohlklingende, weiche, auch für anstrengende Scenen ziemlich ausreichende Sopranstimme mitgegeben, dazu ein

freundlich ansprechendes, blühendes Aeußere. Ihre musika lische Technik ist nicht fertig, nicht vollkommen sicher; der musikalischen Phrase fehlt die scharfe Plastik, es kommt Vie les verschwommen oder verwischt zum Vorschein, der Ansatz häufig tremolirend, die Intonation mitunter schwankend. Der dramatische Ausdruck traf überall das Angemessene, doch ohne Eigenthümlichkeit, ohne reiches inneres Leben. Das selbe gilt von dem Spiel der Frau Berger, das durchweg anständig und keineswegs ohne Lebendigkeit, doch mehr äußerlich angepaßt war, als aus dem Innern quellend. Wir möchten Frau Berger nicht etwa rathen, „mehr“ zu spielen, auf die Quantität kommt es nicht an, und schon das „viel“ ist meistens vom Uebel. Wer von Haus aus alles Darzu stellende gleich dramatisch anschaut und tief empfindet, der wirkt mit einem Blick, einem Ton überzeugender, rührender, als der gewandteste Vielspieler mit einem ganzen Arsenal von Gesten. Aber jene Gabe ist nicht weniger ein Geschenk des Himmels, als eine schöne Stimme, und wol ein noch selteneres. In dem spärlichen Beete nachwachsender deutscher Primadonnen gehört Frau Berger jedenfalls zu den werth volleren Pflanzen, wenigstens ist sie in der Blüthe.

Eine von Herrn Jauner durchgeführte Reform, die wir mit besonderem Dank begrüßen, ist die Tieferlegung des Orchesters — eine Wohlthat für die Stimme des Sängers, wie für das Auge des Zuschauers. Hingegen läßt man leider den kaum erst beseitigten Mißbrauch des Hervor rufes bei offener Scene wieder lustig ins Kraut schießen. Vielleicht ein Rückschlag gegen die Pedanterie, welche noch vor Kurzem den Ballet-Tänzerinnen bei Strafe untersagte, nach einem applaudirten Bravoursolo mit einem Knix zu danken. Keine Pedanterie ist’s hingegen, sondern einfach eine Forderung des ästhetischen Anstandes, wenn wir den drama tischen Zusammenhang in der Oper uns nicht jeden Augen blick durch eine Unsitte wollen zerreißen lassen, welche auf den angesehensten Bühnen niemals geduldet war und jetzt allmälig von den meisten großen Theatern verbannt wird. Interessant bleibt es immerhin, zu beobachten, wie unendlich schwer ein anerkannt nothwendiges und wiederholt sanctio nirtes Verbot aufrechtzuerhalten ist, wenn auf der einen Seite die Eitelkeit zahlreicher Sänger agitirt und auf der andern nichts als — die gesunde Vernunft.