Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3982. Wien, Samstag, den 25. September 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3982. Wien, Samstag, den 25. September 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 25.09.1875
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Die Zuschauer auf der Bühne.

Ed. H. Es ist von eigenthümlichem Reiz, zu beobachten welchen Einfluß der äußere Apparat des Theaters auf die dramatische Kunst selbst, auf Dichter und Schauspieler zu verschiedenen Zeiten ausgeübt hat. Frankreich, an seltsamen Theatergebräuchen das reichste und in ihrer Aufrechthaltung das conservativste Land, bietet ein lohnendes Feld für solche Studien. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts gewährte die Bühne der Comédie Française und der Großen Oper in Paris einen ebenso prächtigen als dramatisch widersinnigen Anblick. Auf der Bühne befanden sich nämlich zu beiden Seiten der Schauspieler Bänke für ein elegantes Publicum, welches beinahe ein Drittheil des ganzen Bühnenraumes in Beschlag nahm. Noch Goethe erlebte einen Nachklang dieser Sitte in Deutschland; er erzählt uns im dritten Buch von Wahrheit und Dichtung“ von den Zuschauern auf der Bühne bei den französischen Theater-Vorstellungen zu Frank furt. In Paris erschien soeben eine mit Abbildungen und Plänen illustrirte Monographie von A. Jullien: „Les spectateurs sur le théâtre“, deren urkundliches, bisher un veröffentlichtes Material die französischen Theater-Archive geliefert haben. Auch für deutsche Kunstfreunde dürfte Vieles daraus von Interesse sein.

Das Erscheinen von Zuschauern auf der Bühne datirt von den ersten bescheidenen Localitäten des französischen Schauspiels. Wiederholt hatte die Comédie Française in so genannten Ballhäusern ein Asyl suchen müssen, wo die Zu schauer ganz nach Belieben Platz nahmen. Als der Besuch sich nachhaltig steigerte, postirte man Stühle auf die Bühne aus Nothbehelf für die im Saale nicht mehr unterzubringen den Zuschauer. Bald aber bestanden die Cavaliere, die Finan ciers, die Stutzer auf dem Vorrecht, regelmäßig diese Plätze einzunehmen, welche ihre Eitelkeit und den galanten Verkehr mit Schauspielerinnen begünstigten. So blieb denn diese Un sitte zum schweren Nachtheile der Kunst, aber zum Vortheile der Kasse auch dann aufrecht, als die Comédie Française in das neue Theater, Rue des Fossés Saint-Germain, über

siedelte. Es wurde am 18. April 1689 mit „Phädra“ und dem „Médecin malgré lui“ eröffnet. Der Zuschauerraum hatte drei Logenreihen, Parquet und Amphitheater; die Mu siker spielten auf einem Balcon, da der jetzige Orchester raum als „Stehparterre“ für Herren diente. Die auf der Bühne rechts und links angebrachten Zuschauerbänke redu cirten die Breite der Scene auf fünfzehn, die Tiefe auf elf Fuß; außerdem stand, ohne bestimmte Plätze, eine Menge von Zuschauern im Hintergrunde und bildete eine Art Cercle um die Schauspieler. Hier machten sich die Prunksucht, das Gecken thum, oft sogar die Trunkenheit der Lebemänner breit und zerstörten jede dramatische Illusion. Konnte es etwas Un wahrscheinlicheres geben, als daß ein König in geheimer Unterredung mit seinem Vertrauten oder ein einsam glück liches Liebespaar von zweihundert Personen umringt war? Während der ganzen Vorstellung, die tragischesten Scenen nicht ausgenommen, dauerte das Gewäsch und Geschwätz auf der Bühne. Diese Flügelmänner des Reichthums und der Mode gingen, von Lakaien begleitet, beliebig aus und ein, plauderten, gähnten und lachten, während die Schau spieler ihre ganze Stimmkraft anstrengten, um den Lärm zu übertönen. Oft wußte man nicht, ob der junge Herr, der eben eintrat, der Liebhaber der Comödie sei, der seine Rolle spiele. Der Schauspieler verfehlte fast immer seinen Eintritt, kam zu früh oder zu spät, wie ein Gespenst trat er aus der Zuschauermenge hervor, und wie ein Gespenst verschwand er in derselben, ohne daß man sein Abgehen be merkte. Bei einer Vorstellung von Favart’s „Acajou“ war die Bühne so dicht angefüllt mit Zuschauern, daß nur ein einziger Schauspieler zum Auftreten kam, und Racine’s Athalie“ konnte einmal (1739) aus demselben Grunde nicht weitergespielt werden. Diese stabile Einengung der Scene erklärt theilweise die unerbittlich strenge Beobachtung der „Einheit des Ortes“ in den älteren französischen Dra men. Denn wie wäre es unter solchen Verhältnissen leicht möglich gewesen, von Scene zu Scene den Palast in einen Marktplatz, das Zimmer in einen Garten zu verwandeln?

Alle erleuchteten Köpfe sprachen gegen diesen unleid lichen Mißbrauch; vergebens war ihr Rathen und Rügen. Auch die Schauspieler litten nicht wenig unter der unwill

kommenen Nachbarschaft und hätten sie gerne verbannt, wäre nur das pecuniäre Interesse nicht so mächtig gewesen. Wie viel Unziemliches und Lächerliches ereignete sich nicht fortwährend auf der von Stutzern belagerten Bühne der Comédie Française. Bei einer Aufführung von Dancourt’s Opéra de village“ (1694) schritt der Marquis de Sablé halbbetrunken auf seinen Bühnensitz zu, als gerade Dancourt die Verse zu singen hatte: „Nos prés, nos champs seront sablés.“ Herr v. Sablé argwöhnte eine Anspielung auf seinen Namen und ohrfeigte sofort den Schauspieler, welcher die Beleidigung stillschweigend hinnehmen mußte. Eines Abends erging sich die Schauspielerin Dumesnil als ver zweifelnde Kleopatra in wilden Lästerungen gegen die Göt ter — da versetzt ihr ein alter Officier mit dem Ausrufe: „So geh’ zu allen Teufeln, du Aas!“ einen tüchtigen Stoß in den Rücken. Dieser Ausbruch naiver Ergriffenheit unter brach die Vorstellung, wurde aber von der Künstlerin als äußerst schmeichelhaft für ihr Spiel aufgenommen. Die Zuschauer bänke auf der Scene verschuldeten den Mißerfolg von mehr als Einer Novität, unter anderen von Morand’s Tragödie Childéric“. In einer der pathetischesten Scenen vermochte nämlich der Schauspieler, welcher den entscheidenden Brief zu überbringen hat, die Zuschauermenge nicht zu durch brechen und agirte wie verzweifelt mit seinem Papier. „Platz für den Briefträger!“ brüllte eine Baßstimme aus dem Parterre, das ganze Publicum brach in Gelächter aus, und um die Wirkung der Tragödie war es geschehen.

Zum Ueberflusse standen auch noch das Publicum auf der Bühne und jenes im Parterre in offener Feindseligkeit zu einander. Was oben Applaus erhielt, wurde in der Regel unten ausgezischt. In der ersten Aufführung von Molière’s Ecole des femmes“, die im Parterre häufiges Gelächter erregte, rief der Philosoph Plapisson von seinem Bühnensitz jeden Augenblick höhnend herab: „So lache doch, dummes Parterre, lache doch!“ Molière selbst kämpfte natür lich nach Kräften jene unsinnige Einrichtung; er that es sogar in seinen Theaterstücken „Les fâcheux“ und „Le Misanthrope“; aber der Dichter blieb machtlos gegen die vornehmen Gecken, die sich auf der Bühne spreizten. Nur das Eine setzte er durch, daß anstatt der ewig rutschenden

Stühle unbewegliche Bänke angebracht wurden. Ein reicher Gegner aus dem Parterre machte sich eines Tages den Spaß, alle Krüppel und Buckligen, die er auf dem Pont- Neuf auftreiben konnte, mit Billetten für jenen vornehmen Platz zu versehen. Der Vorhang ging auf, und das Parterre brach in ein tobendes Gelächter aus beim Anblick so vieler Buckliger auf den vordersten Bänken der Bühne. Häufig ging aber der Unfug weit über die Grenzen des Spasses. Grobe Unordnungen, Prügeleien gaben Anlaß zu gericht licher Untersuchung und zu wiederholten königlichen Ordon nanzen, welche jede Ruhestörung im Theater verpönen und namentlich den Officieren, Garden, Chevauxlegers und Musketieren bei strenger Strafe verbieten, in das Theater einzudringen, ohne zu bezahlen. Diese Verbote blieben jedoch sämmtlich so gut wie erfolglos.

In der Oper, welche Maschinerie und Decorations wechsel nicht entbehren kann, bereiteten die Zuschauerbänke auf der Bühne begreiflicherweise noch weit ärgere Verlegenheit. Sie wurden deßhalb auch in der Académie de musique viel früher abgestellt, als im Schauspiel. Italien hatte lange vor Frankreich die Zuschauer von der Bühne verbannt. In England gab es keine förmlichen Bänke auf der Scene, aber eine Anzahl reservirter Stühle, welche halb auf der Bühne, halb zwischen den Coulissen standen. Auch dieses bescheidenere Arrangement verursachte manche Störung. Die schöne, ge feierte Mistress Bellamy erzählt selbst in ihren Memoi ren, wie sie auf der Bühne von einem unverschämten Enthusiasten plötzlich rückwärts auf den Hals geküßt worden sei. Empört dreht sie sich um und gibt dem zärtlichen Herrn vor aller Welt eine Ohrfeige. Der Lord-Lieutenant Chester field applaudirt ihr demonstrativ aus seiner Loge, das Pu blicum folgt seinem Beispiel, und der arme Gemaßregelte muß schließlich noch vortreten und das Publicum um Entschul digung bitten. Dieser Zwischenfall führte in England das defini tive Verbot herbei, Zuschauer zwischen die Coulissen zu postiren.

In Frankreich kämpft selbst ein Voltaire mit all seinem Witz und Verstand jahrelang vergeblich gegen die heillosen „Banquettes“ auf der Bühne. Ihrem Einflusse schreibt er zum Theil die ermüdende Trockenheit (sécheresse) zu, an welcher so viele französische Dramen leiden. Es sei

eine vollkommene Action der Schauspieler und eine passende Auswahl von Decorationen dadurch unmöglich gemacht. Nie vergaß er die Unbill, welche seinem Trauerspiel „Semi ramis“ bei der ersten Aufführung (1748) widerfahren, wo der seiner Gruft entsteigende Schatten des Ninus sich unter allgemeiner Heiterkeit durch einen Schwarm von Gecken durchdrängen mußte. Das Stück fiel unter der Wucht dieser Lächerlichkeit. Zwei Jahre später mußte Voltaire den tragi schen Schluß seines „Oedipus“ ändern, um ihm nicht ein ähnliches Schicksal wie der „Semiramis“ zu bereiten.

Fragt man, wie es möglich gewesen, daß alle vernünf tigen Einwendungen gegen einen unsinnigen Mißbrauch über ein halbes Jahrhundert ohnmächtig verhallten? Weil die artistische Frage zugleich eine Geldfrage war. So oft Dichter und Kritiker für die erste eintraten, wies die große Mehr zahl der Schauspieler (sie waren Mitinteressenten [Socié taires] der Comédie Française) auf die zweite und protestirte im Namen der Kasse. Voltaire hätte ganz umsonst gegen diesen Unfug geeifert, wäre ihm nicht ein kunst sinniger, reicher Privatmann in der Person des Gra fen Lauraguais zu Hilfe gekommen. Dieser brachte der Comédie Française den großmüthigen Antrag vor, die Kosten der nothwendigen Umgestaltung des Saales selbst zu bestreiten. Der gefeierte Schauspieler Lekain machte unter seinen Collegen energische Propaganda, und der Vorschlag des Grafen wurde angenommen. Man be nützte die vierzehntägigen Osterferien, um die verhaßten Bänke abzubrechen, Parterre und Parquet ansehnlich zu ver größern; die Renovation kostete sechzigtausend Francs, welche Lauraguais aus seiner Tasche zahlte. Von allen Seiten strömte ihm Dank und Anerkennung zu, darunter die Widmung von Voltaire’s Lustspiel „L’Ecossaise“, welche die Bedeutung von Lauraguais’ künstlerischer und patriotischer That mit warmer Beredsamkeit hervorhebt.

Die Wiedereröffnung des also umgestalteten Theaters erfolgte am 23. April 1757. Es war eine glückliche Idee, es mit demselben Drama einzuweihen, welches die Schluß vorstellung vor dem Umbau gewesen: den „Trojanerinnenvon Châteaubrun. Fürs erste erforderte dieses Stück ein be sonders großes Personal, sodann erleicherte es dem Pu

blicum das Urtheil über die Wirkung der neuen Einrich tung. Anfangs war die Besorgniß verbreitet, es werde die Bühne zu leer aussehen, wenn die Schauspieler sich oben allein befinden; es bedurfte eines kleinen, von zwei Haupt personen erfolgreich gespielten Conversationsstückes („Les legs“), um diese Befürchtung vollständig zu zerstreuen. Auf dieses Vorspiel folgte die genannte Tragödie, die nun bei vollkommener Freiheit der Schauspieler und glänzender Scenirung einen überraschenden Effect erzielte. Die Jour nale rühmten einstimmig die vortheilhafte Neuerung, alle Welt war damit zufrieden, nur die von der Bühne ver bannten Modeherren wütheten vor Zorn und zerschlugen am ersten Abend alle Spiegel und Luster des Café Procope.

Voltaire jubelte, als er seinen Lieblingswunsch end lich erfüllt sah. „Die Nachricht,“ schreibt er, „daß dem französischen Theater Ehre und Freiheit wiedergegeben sind, erwärmt mein altes Gehirn!“ Obwol er erst kurz zuvor Madame de Fontaine versichert hatte, er denke nicht mehr daran, in seinem hohen Alter fürs Theater zu schreiben, beginnt er nun doch ein neues Drama, ein Ritterstück, das ihm jetzt erst möglich erscheint, „seit die Bühne von den ge puderten Gecken, von in den Rhinozeros- und Paradiesvogel- Frisuren gesäubert ist“. Diese „Chevalerie“, welche Voltaire mit jugendlichem Enthusiasmus für das gesäuberte Theater gedichtet, war „Tancred“. In der Zueignung des Stückes an Madame de Pompadour spricht Voltaire folgende, in ihrer einfachen Wahrheit unübertreffliche Worte: „Ich weiß, daß der gesammte Pomp theatralischer Ausstattung nicht so viel werth ist, als Ein erhabener Gedanke, Ein zartes Ge fühl. Ich weiß sehr wohl, welch geringes Verdienst darin liegt, zu den Augen zu sprechen, aber ich wage zu behaupten, daß das Schreckliche wie das Rührende uns ungleich mäch tiger ergreifen, wenn ein entsprechender Apparat sie unter stützt. Man muß Beides, das Auge und den Geist, zugleich erobern. Dies wird das beidenswerte Theil der nach uns kommenden Genies sein. Ich wünsche nur diejenigen zu er muthigen, welche mich selbst werden vergessen machen. In diesem Sinne entwarf ich die vorliegende Skizze, sobald ich erfahren hatte, daß das Pariser Theater umgestaltet und endlich ein wahres Schauspiel geworden.“