Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 3993. Wien, Mittwoch, den 6. October 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 3993. Wien, Mittwoch, den 6. October 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 06.10.1875
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Hofoperntheater. (Das neue Ballet „Brahma“. — Frau Kupfer als Gretchen.)

Ed. H. „Brahma“ paradirt seit einigen Jahren als das Lieblingsballet Italiens; Römer und Florentiner, Sicilianer und Lombarden harmoniren brüderlich im Preise seiner Tugenden. Die Erfindung des Balletmeisters Monplai sir ist nicht ohne Verdienst; durch den farbenbunten Teppich von Tänzen und Aufzügen schlingen sich einige leidenschaft lich dramatische Scenen, welche nicht blos auf das Auge, sondern auch auf das Herz des Zuschauers es abgesehen haben. Im Gegensatz zu den beliebtesten neuen Balleten (Taglioni’s insbesondere), in welchen alle Wirkung in den Massen liegt und der Chor keine Solopartie aufkommen läßt, bietet „Brahma“ in seinen beiden Hauptrollen zwei dankbare dramatische Aufgaben und sogar noch überdies einige schärfer individualisirte Nebenfiguren. An Unsinn fehlt es auch nicht, das versteht sich von selbst in einem ernsten Ballet; zu beklagen ist nur, daß er gerade hier so leicht zu vermeiden, ja so ganz unnöthig gewesen. Warum hielt sich der Balletdichter nicht an die indische Legende, wie sie in erschütterndster Einfachheit bei Goethe auftritt, dessen „Gott und die Bajadere“ ihm doch offenbar vorschwebte? Dort nimmt „Mahadöh, der Herr der Erde“, freiwillig menschliche Gestalt an, um auf der Erde zu wandeln, als unseresgleichen „mitzufühlen Freud’ und Qual“. Wo er es am wenigsten vermuthete, bei einer Bajadere, findet er Mitgefühl, auf opfernde Pflege, Liebe bis in den Tod. Auch in Auber’s Oper: „Le Dieu et la Bayadère“ bildet jene Absicht Brah ma’s die Voraussetzung der ganzen Handlung. Was thut aber Herr Monplaisir? Um die Geister der Ab geschmacktheit und des Unsinns in ihrem durch unvordenklichen Besitz geheiligten Balletrechte gleich in der Exposition zu in stalliren, läßt er den allmächtigen Brahma, den Schöpfer des ganzen Universums, „wegen eines im Paradiese ver übten Vergehens“ (!) aus dem Kreise der Götter ausge stoßen und verbannt werden. Von wem denn? möchte man fragen. Also der arme Allmächtige, der sich schlecht aufge führt, muß in Menschengestalt, müde und hungernd, fechten

gehen — car tel est Monplaisir — bis er ein Mädchen gefunden, welches ihm die reinste, uneigennützigste Liebe ent gegenbringt. Brahma scheint dies sehr eilig zu haben, denn gleich in der ersten Scene, bei einem chinesischen Volksfest, rennt er, wie ein Maikäfer gegen alle Fensterscheiben, nach einander verschiedene Mädchen an und ist erbost, bei der Einen „nur Dankbarkeit“, bei der Andern „nur Gefallsucht“ zu finden, und nicht gleich jene „reinste, aufopferndste Liebe“, die er so dringend benöthigt. Im zweiten Act vergafft sich der göttliche Schübling zuerst in eine vornehme Mandarins- Tochter, welche mit einer großen Procession vor der Statue Brahma’s betet. Aïte, so heißt die Dame, bewundert an fangs sein männliches Auftreten, doch — wir lassen jetzt das Textbuch sprechen — „doch als sie bemerkt, wie andere Frauen sich von ihm, bezüglich seines herabge kommenen Wesens, mit Scheu abwenden, lenkt sie ihre verführungssüchtigen Blicke wieder nur allein an Kebil. Abermals sieht sich Brahma in seinem Hoffen getäuscht, und während Jubel und Lust um ihn herum ertönt, bleibt sein Herz allein, verlassen, kalt zurückgestoßen. Ballabile.“ Dieses lakonische Schlußwort: „Ballabile“, nach all dem Jammer, ist unbezahlbar. Es erscheint noch an anderen ähnlichen Stellen des Textbuches, immer als tröstlicher Stoßseufzer in schweren Nöthen. Das gedruckte „Brahma“-Libretto unterscheidet sich überhaupt merklich von den gewöhnlichen, in kanzleimäßiger Trockenheit abgefaßten Ballet-Wegweisern durch das über schwengliche Mitgefühl des Verfassers für seine Personen. Er überhäuft sie mit zärtlichen und preisenden Beiwörtern, er wüthet gegen ihre schändlichen Widersacher und vergießt Thränen über jedes ihnen zustoßende Mißgeschick.

„Das verkörperte Ideal seiner Hoffnungen“ findet Brahma endlich in der Schänke des Herrn Kali, eines Wirthes, „der, mißmuthig über den wenigen Besuch seiner Herberge, herauskommt“. Es ist die schöne Padmana, welche dem Brahma von allen ihm dort vortanzenden Baja deren am besten gefällt und die er deßhalb dem Wirthe ab kauft. Man möchte in hellen Zorn gerathen über Herrn Monplaisir, der sich hier das poetischeste Motiv entgehen ließ, eine jener seltenen Situationen, wo die Handlung selbst zum Tanze drängt und der Tanz von innen heraus drama tisch wird. Diese Situation, welche einfach aus Auber’s

Oper: „Der Gott und die Bajadere“ herüberzunehmen war, besteht darin, daß Brahma, um Zoloë (hier Padmana) auf die Probe zu stellen, sie in jener Schänke absichtlich durch Zurücksetzung kränkt. Zu tanzen aufgefordert, bietet Zoloë ihre beste Kunst, ihre glühendste Empfindung auf, während ihr Heißgeliebter, in eifriger Unterhaltung mit den anderen Bajaderen, sie kaum eines Blickes würdigt. Immer tiefer und leidenschaftlicher tanzt die Arme sich in den Schmerz hinein und schließt endlich — mit einem Strom von Thrä nen. Die Taglioni hat in dieser echt dramatischen Scene ihre schönsten Triumphe gefeiert. Es stimmt recht weh müthig, das moderne Ballet, „bezüglich seines herabgekom menen Wesens“, schon auf dem Punkte zu sehen, daß es gerade dasjenige nicht wahrnimmt oder nicht darstellen mag, was an dem gewählten Stoff das Feinste und Bedeutsamste ist. Ballabile.

Mit einem kühnen Handstreich führt nun Herr Mon plaisirBrahma in den Palast des holländischen Statthalters in Indien — wir ersehen daraus, aufs angenehmste über rascht, daß diese Incarnation Brahma’s in unseren Tagen spielt. Der Statthalter scheint übrigens ziemlich liberal vor zugehen mit seinen Ball-Einladungen, denn außer dem von Niemandem gekannten Brahma befindet sich unter den Ge ladenen auch „Hyder-Ali, das mächtige Haupt einer aller wärts gefürchteten Würgersecte“. Auf dem Balle rennt unser guter Brahma wieder blindlings gegen die Tochter des Statthalters mit einem Heiratsantrage an, holt sich einen Korb und wird von der wachsamen Padmana ohne viel Federlesens abgeführt. Sie rettet ihn hierauf mit eigener Lebensgefahr vor den Dolchen einiger geistlicher Meuchel mörder, was er aber „als gewöhnliche Sklavenliebe“ nur so hinnimmt. Jetzt drängen sich mit jeder Scene die Gefahren und Prüfungen. Nebst dem „mächtigen Haupt der allerwärts gefürchteten Würgersecte“ tritt nun auch der Gouverneuer Loubah, „ein als grausamer Tyrann berüchtigter Renegat“, in Action. Er macht Padmana Liebesanträge, wird abge wiesen, und verurtheilt, ihr zur Strafe, den Brahma zum Feuertode. Als dieser den Scheiterhaufen besteigt, stürzt sich die Bajadere, den Gott umklammernd, in die Flammen, um vereint mit ihm zu sterben. Aus den Rauchwolken entwickelt sich im Hintergrunde das Paradies, aus jeder

Versenkung tauchen verlorene Kinder in appetitlichen Co stümen empor, dazu feuriges Gold und glitzernde Diamanten, plätschernde Springbrunnen, Krystallgrotten, geflügelte Genien, elektrisches Licht von allen Farben, kurz alles Mögliche, was zusammengenommen „Apotheose“ heißt. Reicher und glänzender kann man eine solche nicht sehen, als in der Schlußscene des neuen Ballets, welche einen Sturm von Beifall entfesselte. Brahma schwebt mit der Bajadere zum Himmel auf, es freut sich die Gottheit, der Balletmeister, der Director, es freut sich auch das Publicum, welches lobend und befriedigt sich dem Ausgange zudrängt. Das neue Ballet fand hier sehr günstige Aufnahme, insbe sondere der erste und der letzte Act. Wenn im ersten das unübertrefflich arrangirte „Drachenfest zu Peking“ durch seine Pracht und stürmische Heiterkeit ergötzt, so packen im dritten die Sensations-Scenen durch ihre sich immer stei gernde dramatische Spannung. An dem Erfolge des „Brahmahat Fräulein Linda (Padmana) ein hervorragendes Ver dienst. Anmuthig und distinguirt in ihren Bewegungen, von sicherer, dabei maßvoller Virtuosität in Schritt und Sprung, wirkte diese junge Tänzerin überdies durch ausdrucksvolle Mimik in den leidenschaftlichen Scenen. Sie darf sich ihres wohlverdienten Erfolges herzhaft freuen. Neben Fräulein Linda hatten auch die Herren Frappart und Price Gelegenheit, sich als Mimiker auszuzeichnen. Loben wir noch die bewunderungswürdige Präcision unseres Ballet corps, die Augenweide zahlloser prächtiger Costüme und effectvoller neuer Decorationen von Brioschi; bedauern wir schließlich, nicht auch die Musik des bösen Maestro Dall’ Argine loben zu können, eine Composition, halb von Blech, halb von Leder — so haben wir wol nichts Wichtiges vergessen.

Aus dem Opern-Repertoire erwähnen wir die jüngste Vorstellung von Gounod’s „Faust“, worin Frau Mila Kupfer-Berger zum erstenmale als engagirtes Mit glied erschien. Frau Kupfer (so lautet jetzt der officielle Clavierauszug ihres Namens) ist schon durch die natürlichen Vorzüge ihrer Stimme und ihrer Erscheinung ein schätzbarer Erwerb für jede Opernbühne. Sie dürfte, nach französischem Theaterausdruck, eine grande utilité werden, und in Rollen, welche eine gewisse leidenschaftslose Behaglichkeit nicht aus

schließen, mehr als das. Als Susanne in „Figaro’s Hoch zeit“ hatte Frau Kupfer ihren eigensten Boden gefunden und ihr bestes Talent entfaltet. Hochdramatische, leidenschaftliche Partien weiß sie auf der Oberfläche gefällig zu gestalten, ohne in ihre Tiefen einzudringen und von da aus das Ge müth der Hörer zu erschüttern. Wie in gewissem Grade schon ihrem wohlklingenden Organ, ihrer jugendfrischen Er scheinung, so fehlt ihrem Vortrag jene undefinirbare tiefere Resonanz, jenes unausgesetzte Mitvibriren von Geist und Herz, welches den Zuhörer aus dem bloßen Wohlgefallen zur vollen Mitleidenschaft emporreißt. Alice und Gretchen führte sie glücklich, so weit diese Rollen sich genremäßig, fast soubrettenhaft entwickeln; sobald sie zu tragischer Höhe wachsen, bleibt Frau Kupfer unter dem geforderten Maß. Befriedigend in der ersten Begegnung und Anfangs des dritten Actes von „Faust“, ließ sie schon in dem Liebes-Duett Tiefe und Wärme der Empfindung vermissen. Noch mehr versagte ihr im Dom die Energie der Verzweiflung, in der Kerkerscene die rührende Beredsamkeit des Unglücks. Auf diesen dramatischen Höhepunkten der Rolle blieb Frau Kupfer unbedeutend, fast wirkungslos. Daß sie in beiden Scenen sich mit den einfachsten schauspielerischen Mitteln behalf, ist es nicht, was wir ihr vorwerfen. Seit wir Frau Mallinger im „Faust“ gesehen, befängt uns eine wahre Furcht vor allen geistreichen Gretchen. Wir wer den das Unbehagen nicht los, das uns diese gewiß hoch begabte Künstlerin durch ihr Uebermaß von dramatischem Raffinement bereitet hat. Diese unaufhörliche „Geisttreiberei und Geistschrauberei“, wie sie Fr. Vischer an einem un serer berühmten Romanschriftsteller rügt, raubt uns nicht nur die unbefangene Freude an den Lichtpunkten der Dar stellung, sie erschüttert die Glaubwürdigkeit der ganzen Dar stellung selbst. Die Sucht nach neuen, geistreichen Nuancen verleitete Frau Mallinger unter Anderm, in der Domscene die Blätter aus dem Gebetbuch herauszureißen! Die ses Virtuositäts-Fieber ließ sie sogar übersehen, daß mancher dieser „neuen, geistreichen Züge“ dem andern widersprach und aus dem Styl des Ganzen herausfiel. Ein Gretchen, das bei den Worten: „Meine Mutter ist todt“ sich die Augen mit dem Aermel wischt, wie eine Bäuerin, darf nicht beim Eintritt Faust’s sich in eine exaltirte Positur

werfen, wie Frau Mallinger that, um die stereotype Ver donnerungs-Attitude der Wagner’schen Heldinnen anzubringen. Was sie alles für Sachen und Sächelchen mit dem Schmucke trieb, ist nicht aufzuzählen, und was sie in der Domscene und im Kerker an geistreichen, einander gegenseitig aufreiben den Effecten häufte, das war nicht mehr rührend oder er greifend, sondern blos unheimlich. Zum Studium, aber zu gleich zur Warnung empfehlen wir jungen Sängerinnen diese Mallinger’sche Methode, jeden Tact, jede Note mit einer eigenen ausdrucksvollen Mimik zu begleiten, diese Jagd nach neuen Nuancen, diesen dramatischen Liqueur-Ausschank, bei welchem man doch verdursten konnte. So läßt ein raffi nirtes Zuvielspielen, bei aller Anregung, die es dem Ver stande bietet, unser Gemüth im Grunde ebenso unbefriedigt, wie eine zu dürftige Action. Die Hauptsache bleibt immer, tief, lebhaft und wahr zu fühlen, das Empfundene rein und einfach auszudrücken. Es lehrt sie freilich weder der Ge sanglehrer noch der Tanzmeister; eher noch Goethe selbst: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selbst sich vor.“

In der letzten „Faust“-Vorstellung bemerkten wir dank bar an zahlreichen scenischen Verbesserungen Jauner’s reformirende Hand. Im ersten Acte kleidet sich der verjüngte Faust nicht mehr hinter Mephisto’s Mäntelchen zum Ballet tänzer um, sondern bleibt in seinem Talar; in der Dom scene stürzt Mephisto nicht mehr wie ein fluchender Drago ner in die Kirche, Faust und Mephisto erscheinen in neuen charakteristischen Gewändern und Masken, wie sie der Dichtung entsprechen. Herr Adams gab diesmal den Faust im ersten Acte vortrefflich, im dritten wäre ihm ein weniger schleppendes Tempo der Romanze zu empfehlen. Herr Scaria sang und spielte mehrere Scenen Mephisto’s viel charakteristischer als sonst, so die Dialoge mit Faust im ersten, mit Valentin und Siebel im zweiten Acte. Manches wieder trug er genau so vor wie früher, aber es wirkte anders und besser, weil er anders gekleidet und geschminkt war. Man sah wenig stens immer, daß Mephisto spricht. Nur im letzten Acte verfiel Herr Scaria wieder in ein Phlegma, das jedes Teufelswamms Lügen strafte und uns zuzuflüstern schien: „Laßt euch nicht irremachen, ich heiße Johann Gottlieb Biedermeier.“