Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4033. Wien, Mittwoch, den 17. November 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4033. Wien, Mittwoch, den 17. November 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 17.11.1875
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Concerte.

Ed. H. Sowol die „Philharmoniker“ als die „Musik freunde“ haben ihr erstes Concert hinter sich. Beide mit der reichsten Ernte an Beifall und Besuch. Letzterer hat bei den Philharmonie-Concerten sogar die Normalhöhe so be trächtlich überschritten, daß zweihundert frühere Abonnenten und wol noch mehr neue Bewerber diesmal leer ausgehen mußten. Wir erinnern die „Philharmoniker“ an den Vorschlag, Doppelaufführungen zu veranstalten, musikalische Nachmittags vorstellungen oder philharmonische Parallelclassen, wie man sie bei Ueberfüllung der Schulen eröffnet. Um noch einer an dern Aeußerlichkeit zu erwähnen: es scheint der neue Diri gent der Philharmoniker, nach seinem ersten Programm zu schließen, eine mäßigere Concertdauer einführen zu wollen. In dieser Tendenz verdient er ausdrücklich bestärkt zu wer den. Mit langen Mittagsconcerten erweist man weder den vorgetragenen Compositionen, noch den Spielern, noch end lich dem Auditorium einen Gefallen. Als im jüngsten Gesell schaftsconcert nach halb 3 Uhr der „Lobgesang“ noch im vollen Zuge war, entwischten erst leise einzelne verschämte Hungrige, dann wuchs die Emigration an Zahl wie an Kühnheit und lief, von den mißbilligenden, aber nicht neid losen Blicken der alten Garde verfolgt, herzhaft davon.

Im Philharmonischen Concert hingegen verblieb Alles in frischer Empfänglichkeit bis zur letzten Note.

Das erste Philharmonie-Concert begann mit Richard Wagner’sFaust-Ouvertüre“, welche von unserm doch hinlänglich Wagner-holden Publicum diesmal, wie bei früheren Aufführungen, kühl aufgenommen wurde. Musikalisch Aber gläubige konnten es fast als böses Omen ansehen, daß der Jahreslauf der Philharmonie-Concerte mit einem so un philharmonischen Thema eingeweiht wurde, wie es das obendrein von dem brutalsten Instrument, dem Baßbombardon, intonirte Anfangsmotiv dieser Ouvertüre ist.

Es folgte das gleichfalls bereits bekannte G-dur-Con cert für Streichinstrumente von J. Sebastian Bach, dessen

markige Rhythmik und gesundheitstrotzende Harmonie wie ein Stahlbad auf die Hörer wirkte. Zwischen die beiden einzigen Sätze des Originals wurde das Adagio aus einer Bach’schen Violinsonate eingelegt, welche von Ferdinand David mit einer Clavierbegleitung versehen und in seiner Sammlung classi scher Geigenmusik publicirt ist. Unser Hellmesberger erhob das also erhöhte Solostück noch um eine Stufe höher, ins Orchester, und spielte die Violinstimme mit so vollende tem Geschmack und Adel, daß wir schon um dieser Leistung willen gern auf jeden Einspruch gegen das Passende dieser Einlage verzichten. Von Seite des Orchesters war die Aus führung des Bach’schen Concertes fest und glänzend wie po lirter Stahl. Als dritte und letzte Nummer gab man Beethoven’sEroica“. Eine anerkannte Musterleistung der „Philharmoniker“, entsprach sie auch diesmal in Präcision und feinster technischer Ausarbeitung den höchsten Anforde rungen. Die Tempi nahm Capellmeister Richter langsamer, als wir sie gewohnt sind, namentlich im ersten Satz und im Trauermarsch. Dadurch gewann allerdings das reiche musika lische Detail eine schärfere Beleuchtung und höchste Klarheit der Contouren, aber häufig auf Kosten der unmittelbar zün denden Totalwirkung. Ein Hauch von Gelassenheit und re flectirter Vornehmheit strich kühlend über diese feuergewalti gen Gestalten; Tempo-Streitigkeiten bleiben jedoch immer ver fänglich für die Kritik. Einmal übt hier die Macht der Ge wohnheit, die als Tradition sogar ihre unleugbare Berechti gung hat, einen fast unwiderstehlichen Einfluß. Sodann steht im Proceß über die Richtigkeit eines Tempos nicht nur Keinem, außer dem Componisten, ein autorisirtes Richteramt zu, es gehen mit dem letzten verhallenden Ton sogar der nackte Thatbestand und alle Beweismittel für den Streit verloren. Somit bleibt dem Einzelnen kein Proceß, sondern nur das Aussprechen seiner individuellen Empfindung übrig; die meine hätte im vorliegenden Falle mehr Feuer und Wärme ge wünscht. Die Augsburger Allgemeine Zeitung brachte vor einiger Zeit einen geistreichen Artikel „wider die feurigen Dirigenten“ — vielleicht wird der anonyme Verfasser nach Jahr und Tag über die langsamen Dirigenten zu klagen haben. Das Herzen des Tempos ist allerdings die verbrei

tetste, weil billigste und dankbarste Effecthascherei der Capell meister, aber sie ist nicht die modernste. Die Wagner’sche Schule hütet sich davor, seit ihr Meister das allzu feurige Dirigiren als „mendelssohnisch“ gebrandmarkt hat. Mit mehr objectivem Grunde, als die immerhin mehrdeutige Auf fassung des Tempos läßt sich der willkürliche Wechsel des Zeitmaßes im Verlaufe desselben Satzes anfechten. Man weiß, woher dieser Wind weht: aus Wagner’s Broschüre: Ueber das Dirigiren“, worin die „von unseren Dirigenten mit tölpisch abweisender Verketzerung behandelte Modifi cation des Tempos“ anbefohlen wird. Wir fordern aber sogar vom Pianisten, daß er im Tact bleibe und da nach den verschiedenen Empfindungsschattirungen in einem und demselben Stücke gerecht werde. Umsomehr vom Or chester, das durch ein systematisches Tempo rubato allmälig den Charakter unserer classischen Compositionen gefälscht haben wird. Hanns Richter, der es löblicherweise unterließ, die bekannte Horn-Prolapsis im ersten Satze der „Eroicawagnerisch zu corrigiren, brachte dennoch der „Modification des Tempos“ die jetzt vorgeschriebenen Opfer durch Ritar diren fast aller mit „dolce“ bezeichneten Gesangstellen. Mag man nun auch im Einzelnen anderer Meinung sein, als Herr Richter, den Eindruck einer kräftigen, ernsten und durchaus achtungswerthen künstlerischen Persönlichkeit wird man von ihm gewiß empfangen haben. Gewinnt schon auf den ersten Blick seine imposante, von jeder Geziertheit freie, männliche Erscheinung, so wird dieser günstige Eindruck noch verstärkt durch die ruhige Festigkeit seines Tactschlages und die würdevolle Bescheidenheit seines ganzen Benehmens. Jedenfalls ist es eine künstlerische Persönlichkeit von aus gesprochenem Talente, die jetzt Dessoff’s schwer zu ersetzen des Wirken aufnimmt und uns mit Vertrauen in die Zu kunft der „Philharmonischen Concerte“ erfüllt.

Feierte das Publicum der „Philharmoniker“ mit lautem Beifall die Geburt eines neuen Dirigenten in der Person Richter’s, so beging man im Ersten Gesellschaftsconcert nicht minder festlich die Rückkehr eines altbewährten, um unser Concertwesen hochverdienten Meisters: Johann Herbeck. Wer in musikalischen Dingen nicht völlig indiffe

rent oder gedächtnisschwach ist, der weiß, daß Herbeck die Gesellschaftsconcerte vor sechzehn Jahren aus einem Zu stande trostloser Stagnation zu hoher Blüthe gebracht und gleichzeitig dem „Wiener Männergesang-Verein“ und dem von ihm geschaffenen „Singverein“ zu hohem Ruhm ver holfen hat.

Kein Wunder, wenn die Musikfreunde gar betrübt dreinsahen, als Herbeck vor einigen Jahren die Direction all dieser Concert-Institute niederlegte, um die Leitung des Hofoperntheaters zu übernehmen. „Kehr’ wieder, schließt sich dir das Heil!“, so riefen ihm, wie Venus dem entrinnen den Tannhäuser, laut oder im Geiste die Genossen seiner früheren Laufbahn nach. Und er ist wiedergekehrt, nachdem manch unverdient bittere Erfahrung ihn veranlaßt hatte, die theatralische Dornenkrone niederzulegen. Für die „Gesell schaft der Musikfreunde“ war es eine glückliche Fügung, daß Herbeck fast im selben Momente frei wurde, wo jene durch den Austritt einer künstlerischen Autorität allerersten Ranges, Johannes Brahms, einen schweren Verlust erlitt. Nun bedurfte es keines Suchens, keines Wählens, Herbeck war der einzig mögliche, der natürliche Nachfolger in das schon einmal beherrschte Reich der Ge sellschaftsconcerte. Darf er doch mit einigem Recht der Vater dieses Kunst-Instituts heißen, das er zwar nicht ins Leben gerufen, aber zu neuem Leben gehoben, das er zur Tüchtigkeit herangebildet und jahrelang sorgsam behütet hat. So wurde denn Herbeck von seiner zahlreichen Gemeinde mit jubelndem Zuruf begrüßt, als er am letzten Sonntag wieder an das reichbekränzte Dirigentenpult des Musikver einssaales trat. Ob Herbeck der Alte geblieben? Durchaus. Dasselbe stürmische Jugendfeuer, dieselbe drängende Energie, nur noch gesteigert, beinahe bis an die Grenze des Wün schenswerthen. Auffallend war schon die Schnelligkeit, in welcher das Finale der Haydn’schen Symphonie, allerdings glänzend genug, dahinstürmte; noch mehr die fast leiden schaftliche Heftigkeit in der Auffassung von Mendelssohn’s Lobgesang“. Sei es nun, daß wir den Gegensatz zu Hanns Richter gerade jetzt greller empfanden; sei es, daß etwa

Herbeck selbst sich in diesen Gegensatz zu Richter setzen wollte — genug, wir fanden in seiner Leitung des „Lob gesangs“ etwas Gewaltsames, fortwährend Antreibendes und Aufstachelndes, das nicht im Charakter dieses Ton werkes begründet liegt.

Ein oft gehörtes Stück, Haydn’s lebensfrohe G-dur- Symphonie, eröffnete das Concert. „Wo man auf einem Concertzettel eine Haydn’sche Symphonie angekündigt liest,“ sagt David Strauß, „da mag man getrost hingehen, man wird sich gewiß nicht enttäuscht finden, es müßte denn durch die Ausführung sein. Denn da kann es allerdings vorkom men, daß gerade sogenannte bessere Orchester es am schlimm sten machen. Sie wenden gerne ihre Effectmittel, ihre schroffen Wechsel in Tonstärke und Tempo auf eine Musik an, die nur der schlichteste Vortrag richtig zur Erscheinung bringt.“ In diesen Fehler absichtlicher Modernisirung ver fiel die Herbeck’sche Aufführung nicht bei aller Virtuosität. Aber es will uns scheinen, als alterire jedes so starkbesetzte Orchester den ursprünglichen Charakter dieser Compositionen. Da klingt Alles gleich so anspruchsvoll und war doch von Papa Haydn so anspruchslos gemeint. Erfaßt von einer Le gion von Geigern, wird ein lustiges Passagenspiel, wie im Finale der G-dur-Symphonie, zur stürmischen Windsbraut und ein leichter häuslicher Kummer zum National-Unglück. Wir fühlen das Mißverhältniß der aufgewendeten Mittel zum Inhalt, die Masse von Ton lastet wie eine prahlerische Rüstung auf Haydn’s netten, zutraulichen Gestalten. Voll ständig, wie sie sollen, wirken derlei ältere Symphonien in einem kleineren Saale, vor einem kleineren Publicum, mit einem kleineren Orchester. In unseren großen Concertsälen macht mir eine Haydn’sche Symphonie ungefähr den Ein druck wie ein älteres musikalisches Conversationsstück auf der Prachtbühne unserer Großen Oper. Wir haben jetzt Alles größer und besser, ohne Frage; aber es ist nicht mehr dasselbe.

Zum erstenmale hörten wir eine bisher verschollene Tenor-Arie aus Schubert’s Opernfragment „Adrast“. Nach Kreißle’s Vermuthung ist der Held des (von Johann

Mayrhofer gedichteten) Librettos der griechische Philosoph Adrastus von Philippopolis und die nur angefangene Schubert’sche Composition eine Jugendarbeit aus dem Jahre 1815. Die Arie schmeichelt sich dem Hörer ein durch ihre weiche, süße Stimmung und einige melodische Knospen von echt Schubert’schem Duft. Eine dramatische Ader tritt nir gends hervor. Der Componist schwelgt im behaglichen Aus strömen Einer zarten Empfindung, und ganz liedmäßige Wendungen, Mißachtung der Declamation, unablässige Wort wiederholungen stören ihn nicht in seinem lyrischen Drange. Die Morgenröthe eines großen Talents schimmert hier durch unscheinbare, altmodisch möblirte Räume. Walter’s seelen voller Vortrag sicherte dieser Reliquie einen sympathischen Eindruck. Zwei neue Vocalchöre von Herbeck: „Glocken töne“ und „Lieb’ und Traum“, fanden in trefflicher Aus führung durch den „Singverein“ lebhaften Beifall. In schöner Klangwirkung des mehrstimmigen Vocalsatzes werden es Herbeck Wenige zuvorthun; auch die genannten Novitäten wirkten durch diesen Reiz, bei keineswegs bedeutender Erfin dung. Den einfacheren, sanft ausklingenden „Glockentönengeben wir unbedingt den Vorzug vor dem reicher figurirten zweiten Chor, welcher, von mehr äußerlicher Lebendigkeit, obendrein gar zu rücksichtslos gegen die Gesetze der Decla mation vorgeht. (So springt z. B. in den Versen: „Und wo’s Schifflein nicht fährt“ und „Wo endlos der Raum“ die zweite Sylbe von „Schifflein“ und von „endlos“ ener gisch in die Sext hinauf und werden die folgenden Wörter „nicht“ und „der“ lang genommen.)

Die zweite Abtheilung des Gesellschaftsconcertes füllte Mendelssohn’s Symphonie-Cantate „Lobgesang“. Zwei in Wien gebildete junge Sängerinnen, Marianne Lieder und Marie Hellmer, traten darin zum erstenmale vor die Oeffentlichkeit. Fräulein Lieder besitzt eine der schön sten und stärksten Sopranstimmen, die man gegenwärtig hier hören kann, ein beneidenswerthes Material von allerdings noch unzureichender Schulung. Ihr Vortrag ermangelte der Wärme und nuancirenden Färbung; wahrscheinlich hat der Alpdruck des ersten Auftretens (dem wir auch das sehr häu

fige Athemholen zuschreiben wollen) noch zu stark auf Fräu lein Lieder gelastet. Die Altistin hat im „Lobgesang“ gar kein Solo und wirkt in einer einzigen Nummer, dem Frauen duett, mit. Wir können deßhalb vorläufig von Fräulein Hellmer nur berichten, daß sie ihre kleine Aufgabe mit kräftiger Stimme und befriedigendem Vortrag löste. Herr Walter steht in der schwierigen Tenorpartie des „Lob gesangs“ wol ohne Rivalen da; die Zartheit und ruhig aus tönende Empfindung, mit der er die rein lyrischen Stellen sang, steigerte sich in der dramatisch bewegten Scene: „Hüter, ist die Nacht bald hin?“ zum starken Pathos. Nur der Chor unseres „Singvereins“ stand ihm ebenbürtig zur Seite. — Was Mendelssohn’sComposition betrifft, so ist ihr Reiz in den letzten zwanzig Jahren stark verblaßt. Nur ein zelne hervorragende Schönheiten, wie in der Symphonie das Allegretto, in der Cantate das Frauenduett und das drama tische Tenorsolo (der Höhepunkt des Ganzen), üben noch ihren alten Zauber. Unter den geistlichen Compositionen Men delssohn’s hat der „Lobgesang“ mit all seiner silbernen Klarheit die wenigste Tiefe. Ueberdies läßt sich die Heterogenität der beiden aneinandergefügten Theile, des symphonischen und des voca len, nur schwer verwinden. Wie kommt nur ein Symphonie- Allegretto von der weltlichen Grazie dieses Sechsachteltactes zu dem Inhalt des „Lobgesangs“? Stets kommt mir die Vermuthung, daß irgend eine unbekannt gebliebene äußere Veranlassung den Meister zu dieser Koppelung bewogen oder genöthigt habe. Vielleicht eine angefangene Symphonie, für die sich kein rechter Abschluß finden wollte, und eine Can tate, die für das Festconcert des Gutenberg-Jubiläums (1840) zu kurz erschien? Eine Nachahmung der Neunten Sym phonie war gewiß nicht beabsichtigt; nicht nur fehlt im Lobgesang“ gänzlich die psychologische Motivirung, welche dort den Eintritt der Menschenstimme erklärt; es hielt sich auch Mendelssohn’s maßvolle, bescheidene Künstlernatur zeit lebens fern von der heute florirenden Irrlehre, der moderne Componist müsse an Beethoven’s letzte Schöpfungen „an knüpfen“. Der „Lobgesang“ ist seit mehr als einem Decen nium in Wien nicht gehört worden, daher seine Wieder aufführung im Gesellschaftsconcert vollständig zu rechtferti

gen. Von Zeit zu Zeit wird man die Mendelssohn’schen Chorwerke immer wieder mit Vortheil ans Licht ziehen, ein mal wegen ihrer musikalischen Schönheiten, dann im In teresse der Sänger, welche sich in Mendelssohn’s effectvollem Chorsatz und fließender Stimmführung jederzeit wohl fühlen. Was der Bach-strenge M. Hauptmann seinerzeit über Mendelssohn’s geistliche Musik äußerte: „sie sei das Beste dieser Art in unserer Zeit, wenngleich letztere nicht die beste sei für die Art“, war gerecht und treffend. Heute gilt der Ausspruch nicht mehr vollständig. Man macht in unserer Zeit wieder geistliche Musik von tieferem Ernst und mäch tigerem Gepräge, als jene Mendelssohn’sche. Das heißt, „man“ macht sie nicht, aber Brahms macht sie.

Apropos Brahms! Wen hat es nicht befremdet, auf den für diese Saison veröffentlichten Gesammt-Programmen sowol der Philharmonischen als der Gesellschaftsconcerte den Namen Brahms nicht zu finden? Kein einziges Stück von diesem Tondichter in dem ganzen Jahreslauf unserer beiden einzigen großen Concert-Institute ! Es ist wirklich so. Auf den ellenlangen musikalischen Speiszetteln, die einen so großen Raum für Symphonien von Hofmann, Bruck ner, Goldmark, Rufinatscha und Anderen haben, fehlt just der Name Brahms. Wir zweifeln nicht, daß es den Herren Herbeck und Richter ebenso gut gelungen wäre, wie es Herrn Hellmesberger gelungen ist, irgend eine No vität von Brahms zur Aufführung zu erhalten. Und falls sie diese Mühe scheuten, sind etwa die vor drei Jahren von den Philharmonikern gespielten „Orchester-Variationen über ein Haydn’sches Thema“ nicht der Wiederholung werth? Keines der zahlreichen Chorwerke von Brahms (die zu pflegen unser „Singverein“ überdies eine persönliche Ver pflichtung hätte) der Wiederholung werth? Wir wissen nicht, ob diese Ausschließung des anerkannt bedeutendsten Concert-Componisten seit Schumann aus der Wiener In strumental- und Vocal-Aristokratie aus Vergeßlichkeit oder in bewußter Absicht geschah. Das Eine wäre nicht minder un begreiflich und niederschlagend als das Andere. In jedem Falle bleibt der unschuldig Gestrafte einzig und allein — das Publicum.