Concerte.
Ed. H. Das „Zweite philharmonische Con
cert“ gab schon vor der Aufführung mancherlei zu denken
und zu reden. Nach dem großen Anschlagszettel sollten näm
lich folgende drei Orchesterwerke zur Aufführung gelangen:
„Hunnenschlacht“ von Liszt, „Symphonische Variationen“
von Herbeck und „Ouvertüre zu Benvenuto Cellini“ von
Berlioz. Am Concerttage selbst war jedoch die Berlioz’sche
Ouvertüre plötzlich vom Programm verschwunden und durch
Beethoven’s C-dur-Symphonie ersetzt. Die moralischen Ur
heber dieser Abänderung sind nicht minder zu loben, als die
Einsicht und Willfährigkeit, mit welcher Herr Hanns Richter
ihrem Rath folgte. Wir erwähnen dieses Zwischenfalles als
bedeutsam für die Zukunft unserer Philharmonie-Concerte.
Das Publicum derselben, das aus der musikalisch besten
Gesellschaft von Wien besteht, verlangt keineswegs, daß
dieses Concert-Institut sich engherzig als ein Museum für
ältere Musik constituire; noch weniger wünscht es jedoch,
dasselbe zu einem modernen Reformclub umgewandelt zu
sehen. Mindestens ein bis zwei classische Tonwerke in jedem
Concert, das ist ein billiges, das Recht des Lebenden nicht
schmälerndes Verlangen. Jede der drei genannten Novitäten
heißen wir willkommen; nur dasselbe Concert sollen sie nicht
als einzige Trias ausfüllen, ohne den Widerhalt irgend einer
— im ästhetischen oder historischen Sinn des Wortes —
„classischen“ Orchester-Composition, auf welche hier das fran
zösische „Pièce de résistance“ so bedeutsam paßt. Ob viel
leicht das persönliche Glaubensbekenntniß des Dirigenten
die älteren Götter abgeschworen habe, thut nichts zur Sache;
er gibt die Concerte nicht für sich, sondern für sein Publicum.
Er begeht keine Untreue gegen seine musikalischen Ideale,
wenn er daneben jene der großen gebildeten Gesellschaft respec
tirt. Ein Deputirter kann anständigerweise nicht abwechselnd auf
der Linken, im Centrum und auf der Rechten sitzen — ein
Concert-Dirigent muß es. In unseren Philharmonie-Concerten
namentlich würde er den Schwerpunkt der Programme nicht
in die äußerste Linke verlegen dürfen, ohne die Theilnahme
seines Stammpublicums bald bedenklich abnehmen zu sehen.
Darum erblicken wir in der nachträglichen Einsetzung
Beethoven’s auf den Platz von Berlioz ein vernünf
tiges Besinnen; im nächsten Concerte werden wir Letzterem
um so theilnehmenderes Gehör schenken.
Liszt’s „Hunnenschlacht“ ist außer der „Hungaria“
und „Heroïde funèbre“ die einzige seiner zwölf sympho
nischen Dichtungen, welche, meines Erinnerns, in Wien noch
nicht aufgeführt worden ist. Wer die früheren kennt, wird
über die „Hunnenschlacht“ nicht viel Worte verlangen, we
nigstens nicht von Jemandem, der über jene schon so oft
und ausführlich geschrieben hat. Wir sehen immer dieselbe
bekannte Methode auf ein neues Object angewendet, nur ist
es diesmal statt einer Tragödie oder eines Epos ein Ge
mälde, was Liszt musikalisch nachzumalen unternimmt. Wer
kennt nicht Kaulbach’s genial concipirte „Hunnenschlacht“,
welche die Sage von dem Kampf zwischen den Geistern der
gefallenen Hunnen und Römer vor den Thoren Roms dar
stellt? Von der leichenbedeckten Wahlstatt erheben sich die
Geister in großartig bewegten Gruppen in den Aether und
setzen dort den Kampf fort. Nachdem Liszt in seinen
„Symphonischen Dichtungen“ Shakespeare’s „Hamlet“, Goethe’s
„Faust“, Schiller’s „Ideale“, den Dante und den Tasso
nachmusicirt hat, warum nicht auch Kaulbach’s „Hunnen
schlacht“? Angenommen, aber nicht zugegeben, daß die
Musik mit rein instrumentalen Mitteln wirklich das
Alles könne, so liegt es doch außer jedem Zwei
fel, daß gerade Liszt nicht das Alles kann. Was
er uns gibt, ist grelle Decorations-Malerei, auf blen
dende Sinnentäuschung, Ueberraschung und Ueberrumplung
des Hörers abgesehen. Mit vollendeter Beherrschung aller
raffinirten Klang-Effecte, aber nur der raffinirten, mit rück
sichtsloser Kühnheit und großem Aufwand von Geist in
kleinen Dingen geht hier eine an musikalische Impotenz
streifende Erfindungsarmuth Hand in Hand. In der „Hunnen
schlacht“ mußte es natürlich vor Allem darauf ankommen,
den Schlachtenlärm in ein gespenstisches Licht zu rücken. Ein
Blick auf die erste Seite der Partitur belehrt uns, mit welch
vertrauensvoller Illusion Liszt an diese schwierige Aufgabe
geht. Wir lesen da als Aviso für den Dirigenten: „Das
ganze Colorit soll anfangs sehr finster gehalten sein und
alle Instrumente geisterhaft erklingen.“ Und das soll der
Dirigent bewerkstelligen? Warum nicht gar! Das „Co
lorit“ (man sieht, wie den Kaulbach-Componisten die Malerei
verfolgt) kann in der Ausführung nicht heller oder finsterer
herauskommen, als es der Tondichter in seiner Instrumen
tirung zuwege gebracht, und wie eine Orchesterstelle nicht
blos piano oder forte, sondern ganz genau „geisterhaft“ zu
spielen sei, das dürfte dem besten Dirigenten verschlossen
sein. Liszt hat übrigens in diesem Punkte es an nichts fehlen
lassen. Aus der Berlioz’schen Hausapotheke hat er alle
Elemente trefflich gemischt, aus denen man „geisterhaften
Klang“ und „finsteres Colorit“ kocht: drei Pauken in As, C, G
„mit Schwammschlägel“, Becken „mit Holzpaukenschlägel“,
das ganze Streichquartett mit Sordinen u. s. w. Mit bloßen
Schlachtenmalerei konnte sich übrigens ein Mann von dem
Geiste und der Bildung Liszt’s unmöglich begnügen, es
mußten auch einige welthistorische Perspectiven eröffnet
werden. Ein Choral, zuerst nur von den Posaunen unisono
geblasen und von einigen abgerissen grollenden Geigenfiguren
begleitet, ertönt als Repräsentant des Christenthums. Er
wird in Gegensatz gebracht zu einem fanfarenartigen, stark
an Wagner’s „Walkürenritt“ mahnenden Thema, dem später
ein dröhnender „Schlachtruf“ der Trompeten und Posaunen
sich beigesellt. Als der Schlachtenlärm seine gefährlichste
Höhe erreicht, ertönt der (bisher von den Bläsern besorgte)
Choral auf der Orgel. Das Gegenüber- und Aufeinander
stellen des Orgelchorals und der Schlachtmotive bei fort
währendem Tempowechsel zwischen Sechsviertel- und Vier
viertel-Tact füllt die ganze zweite Hälfte der „Hunnen
schlacht“. Die Einführung der Orgel in eine Symphonie
und die Zusammenstellung dröhnender Beckenschläge mit
frommen Orgelklängen ist unstreitig etwas Neues, ein selbst
von Berlioz und Wagner noch unberührter Effect. Er soll
uns Philosophie der Geschichte lehren, den Geist des fünften
Jahrhunderts in Töne fassen, natürlich — schade nur, daß
wir bei aller Ehrerbietung vor so hohen Intentionen diese
symphonische Bereicherung doch nur als einen ordinären
Opern-Effect empfinden. Und das Ganze? Es kann einen
Augenblick blenden und interessiren, aber nur für einen
Augenblick. Unerwärmt, unbereichert, ungeläutert scheidet
man von dieser im Purpurmantel einherstolzirenden armen
und kalten Musik, die mit allen Holz- und Schwammschlägeln
keinen frischen Quell aus dem Felsen zu schlagen vermag.
Unmittelbar aus Liszt’s „Hunnenschlacht“ folgten die
neuen „Symphonischen Variationen“ von Johann Her
beck. Einen größeren Dienst hätte man ihnen nicht erweisen
können, als durch diese Nachbarschaft. Sie erklärte uns ohne
Worte aufs deutlichste Herbeck’s künstlerische Anschauungen
und Ziele. Einem klaren Kopf und guten Musiker wie Her
beck muß bald zur Ueberzeugung gediehen sein, daß man auf
dem von Berlioz, Liszt und Wagner bis an die Grenzen
des Musikalisch-Möglichen geführten Pfade nicht weiter könne.
Dieses Gedanken- und Bildermusiciren, diese harmonische und
melodische Herrenlosigkeit, diese äußerste Emancipation der
Form und Ueberkünstlung des Orchester-Effectes konnte
weiter unmöglich geführt werden ohne Lebensgefahr für den
Componisten. Nur eine besonnene Rückkehr zu einfacheren
Form- und Klangverhältnissen, zu musikalisch selbstständigen
und schönen Gestalten vermag heute einem Orchester-Com
ponisten die Gewähr für echte und solide Erfolge zu bieten.
Herbeck’s neuestes Werk ist trotz seines modernen Geistes
solch ein wohlgelungenes Stück Rückkehr zu den Traditionen
classischer Instrumental-Musik. Es sind Variationen nicht über
Dante und Shakespeare, sondern über ein musikalisches Thema,
ein blos vom Streichquartett vorgetragenes, einfach gesang
volles Andante von sechzehn Tacten. Die Variationen ergehen
sich frei und doch maßvoll, das Thema in seinen mannich
faltigsten musikalischen Beziehungen und wechselnden Stim
mungslagen ausführend und umbildend, durchaus sinnig,
fein und graziös, dabei von wirksamster, vornehm einfacher
Instrumentirung. Es charakterisirt sie eine freundliche Behag
lichkeit, ein mittleres Niveau der Empfindung, die weder in
Seichtigkeit herabsinkt, noch zu gewaltsamer Leidenschaftlichkeit
sich aufstachelt. Der österreichische Charakter, manchmal an Schu
bert anklingend, macht sich bescheiden, aber unverkennbar geltend.
Herbeck’s „Symphonische Variationen“ wurden sehr warm
aufgenommen und verdienen, ebenso warm allen novitäten
bedürftigen Concert-Instituten (und welche wären es nicht?)
empfohlen zu werden. Der Componist, welcher sein Werk
selbst dirigirte, wurde mehrmals stürmisch gerufen. — Den
Beschluß machte Beethoven’s Erste Symphonie in C-dur.
Seit vielen Jahren hier nicht gespielt, war sie manchen
Hörern eine Novität, allen eine willkommene Recapitulation.
Wer sie allmälig aus den Concerten verdrängt hat, war
einzig und allein Beethoven selbst, indem er bald mit
seinen nachfolgenden Symphonien so überreichlich erfüllte
und übertraf, was sein aufblühendes Genie in der ersten
versprochen hatte. Für die Art, wie Herr Capellmeister
Hanns Richter die drei so grundverschiedenen Orchester
stücke dirigirte und wie die Philharmoniker sie spielten, gibt
es nur Einen Ausdruck: vollendet! Ausnahmsweise hörten
wir auch eine Gesangsnummer, die Ocean-Arie aus Weber’s
„Oberon“, welche Frau Martha Prochazka aus Prag
beifällig vortrug. Gattin des um die Prager Musikzustände
hoch verdienten Dr. Ludwig Prochazka, gilt sie für die beste
Concert-Sängerin und die schönste Sopranstimme in ihrer
Vaterstadt. Im Philharmonischen Concert war Frau Pro
chazka offenbar etwas befangen und indisponirt; wir werden
sie demnächst, in ihrem eigenen Concerte, besser kennen und
beurtheilen lernen.
Zu erwähnen haben wir noch das jüngst vom „Wie
ner Musikerverein“ veranstaltete Massenconcert und
eine Production der russischen Pianistin Fräulein Vera
Timanoff. Das Massen- oder Monstre-Concert (um
dessen Leitung die Herren Hanns Richter, Kremser
und Heisler sich verdient machten) vermochte uns nicht
von den Bedenken zu curiren, die wir gegen so übermäßig
starke Orchester-Besetzung wiederholt geäußert. Was sollen
uns zum Beispiel sechzehn Waldhörner in Mendelssohn’s
„Hebriden“ oder in Beethoven’s „Egmont“-Ouvertüre? Zwi
schen den Orchesterstücken producirte sich mit großem Erfolg
ein junger Violin-Virtuose, Franz Krezma, absolvirter
Zögling des Wiener Conservatoriums. Anwärter einer gro
ßen Zukunft, ist dieser höchst talentvolle Knabe doch gegen
wärtig noch nicht reif für öffentlichen Vortrag der schwie
rigsten Concertstücke. Noch weniger wird Jemand das von
seiner Schwester, der Pianistin Anna Krezma, behaupten.
Hingegen Vera Timanoff — das ist eine Virtuosin, die
sich sehen lassen kann. Nicht blos um ihres blühend hübschen
Gesichtes, sondern auch um des Clavierspieles willen. Sie
hat einen kraftvollen Anschlag, eine correcte und glänzende
Bravour von unverkennbar Tausig-Liszt’schem Gepräge.
Tiefere Empfindung und künstlerische Eigenart haben wir
an dieser vorwiegend technisch ausgezeichneten Künstlerin nicht
wahrgenommen.
Großes Aufsehen machten die ersten öffentlichen Zöglings-
Productionen der „Schauspielschule des Wiener
Conservatoriums“. Wir brauchen nicht zu wieder
holen, was in diesen Blättern bereits von den berufensten
Stimmen über die Nothwendigkeit und die Bedeutung dieser
ersten künstlerisch geleiteten Schauspielschule in Oesterreich
geäußert wurde. Der Erfolg ihrer ersten theatralischen Pro
duction hat alle günstigen Vorhersagungen bestätigt.
Auf einer bescheidenen, aber vollständig und zweck
mäßig hergerichteten Bühne im kleinen Musikvereinssaale
spielten die Zöglinge den ersten Act von Laube’s „Karls
schüler“ und ein älteres einactiges Lustspiel: „Das war
ich.“ Die Leistungen der angehenden Künstler, die erst seit
wenigen Wochen in dramatischen Aufgaben beschäftigt sind,
waren selbst in den minder gelungenen Partien durchaus
anständig, in den besten jedoch geradezu vortrefflich. Zu
diesen gehören in den „Karlsschülern“ Fräulein Wessely
als Francisca und Herr Grünberger als Herzog Karl.
Noch viel gerundeter und frischer ging am ersten Abende
das einactige Lustspiel, in welchem sich besonders Fräulein
P. Tullinger und Fräulein Eugenie Wohlmuth aus
zeichneten. Schüler des Conservatoriums führten dazu unter
Director Hellmesberger’s Leitung zwei Ouvertüren von
Mozart und Spontini exact und feurig auf. Am zweiten
Abende wurden dieselben Stücke mit ganz veränderter Be
setzung gespielt, eine pädagogisch vortreffliche Maßregel,
welche Gerechtigkeit gegen Alle ermöglicht und dem Ein
zelnen Gelegenheit bietet, sich in heterogenen Rollenfächern
zu erproben. Ein solches Experimentiren paßt vollkommen
für die Schule und vermag den langen Irrweg abzukürzen,
den so viele junge Schauspieler im praktischen Bühnenleben
durchlaufen müssen. Es währt oft lange, bevor ein noch un
sicheres oder bezweifeltes Talent sein eigentliches Fach ent
deckt. Wir erinnern uns manches jungen Heldenspielers, der
für talentlos galt, bis ihn eines Tages Leitung oder Zufall
dem Fache der Bösewichte oder Naturburschen zuführte, und
Nestroy war nicht der Erste, der seine Carrière als mittel
mäßiger Sarastro in der „Zauberflöte“ begann, um sie
als berühmter Komiker zu beschließen. Am zweiten
Abende glückten die „Karlsschüler“ noch weit besser,
da die Rollen der Laura und der Generalin Riger in Fräu
lein Tullinger und Fräulein Eugenie Wohlmuth
ungleich bessere Darstellerinnen fanden. Insbesondere über
raschte Fräulein Wohlmuth durch das Talent, sich in
ein älteres Rollenfach zu finden, in mancher humoristischen
Rede geradezu an Frau Haizinger erinnernd. Mit Auszeich
nung spielte am zweiten Abende Fräulein v. Hamm die
Francisca, und Fräulein Maurer war als schlimme Nach
barin so bös und alt, wie man es von einem guten jungen
Mädchen nur immer verlangen kann. Die Genannten sind
sämmtlich Schüler der Herren Friedmann, Bau
meister und Arnau. Die uneigennützige Hingebung, mit
welcher diese vielbeschäftigten anerkannten Künstler sich der
jungen Theaterschule widmen, der unermüdliche Eifer, den
Joseph Weilen als Vorstand derselben entwickelt, ver
dienen die lebhafteste Anerkennung. Es ist erfreulich, daß die
nur auf die Theilnahme des Publicums angewiesene Theater
schule mit ihrem knappen Budget jetzt schon so Tüchtiges
leistet. Aber noch viel erfreulicher wäre es, wollte irgend ein
vernünftiger Mäcen sein überflüssiges Geld dieser künstleri
schen Pflanzschule widmen, welche unter günstigen Verhält
nissen für die Schauspielkunst bald dasselbe Ansehen und
Gewicht erlangen müßte, wie unser Musik-Conservatorium
für die vaterländische Tonkunst.