Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4063. Wien, Freitag, den 17. December 1875 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4063. Wien, Freitag, den 17. December 1875 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 17.12.1875
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Hofoperntheater. („Lohengrin“, neu in Scene gesetzt.) Wien, 16. December 1875.

Ed. H. Gestern den 15. December waren es hundert Jahre, daß Boieldieu, der Componist der „Weißen Frau“, geboren wurde. Dieser Gedenktag eines der berühmtesten und liebenswürdigsten Tondichter ist nicht blos in dessen Vaterlande, sondern wol in der ganzen gebildeten Welt durch die Aufführung einer seiner Opern nach Kräften gefeiert worden. Trotz seines eminent französischen Charakters be zauberte Boieldieu alle Nationen; er ist mit „Johann von Paris“, „Rothkäppchen“ und der „Weißen Frau“ auch ein theures Besitzthum des deutschen Volkes geworden. Die Wiener verdanken Boieldieu unzählige Abende edelsten Ge nusses, unsere Theater danken ihm reichlichste Einnahmen durch ein halbes Jahrhundert. In Wien feierte gestern das Hofoperntheater Boieldieu’s hundertjähriges Jubiläum mit — „Lohengrin“ von Richard Wagner. Wir ver zeichnen diese Thatsache mit aufrichtigem Bedauern. Das Recht des Lebenden ist zweifellos — wir sind jederzeit kräftig dafür eingetreten — aber ebenso zweifellos die Pflicht der Lebenden, ihre großen Todten nicht ganz zu vergessen. Selbst leichtfertige Gemüther gedenken eines theuren Verstorbenen alljährlich an dessen Geburtstag; sollte ein großes Kunst- Institut von ruhmvollsten Traditionen es nicht wenigstens einmal nach hundert Jahren thun? Wenn unter Director Jauner unseres Erinnerns noch keine Note von Boieldieu zur Aufführung gekommen ist, so mag er seine praktischen Entschuldigungen dafür haben; für das gänzliche Ignoriren des hundertjährigen Jubiläums gibt es keine. Und doch müssen wir Herrn Jauner bezeugen, daß er noch im Som mer auf den Plan einer Boieldieu-Feier lebhaft einging und nur zwischen der „Weißen Frau“ und „Rothkäppchenschwankte. Was hat ihn plötzlich in so tiefes Vergessen gestürzt? Ein Blick auf das Repertoire dieser Woche löst uns das Räthsel. Wir finden darin auch den 17. December, den Ge burtstag Beethoven’s, total vergessen, welcher sonst regel

mäßig unter jeder Direction durch die Aufführung von „Fi delio“ gefeiert wurde. Also keine Erinnerung weder an Beet hoven noch an Boieldieu in der ganzen Woche. Dafür drei mal „Lohengrin“. Es sind eben seit sechs Wochen alle Gehirne vollständig unter Wagner gesetzt. Den Monat No vember hindurch absorbirte die Vorbereitung zum „Tann häuser“ die ganze Thätigkeit des Hofoperntheaters, im De cember thut es der „Lohengrin“. Zwei Opern, deren Berechtigung ebenso unwidersprechlich ist, wie ihr andauern der Erfolg — aber doch zwei alte Opern, die hier auch ohne Wagner’s Anwesenheit gut gegeben und fleißig besucht waren. Wenn das bloße Aufputzen und Vervollständigen zweier Repertoirestücke einem großen Opern-Institute so voll ständig den Athem verschlägt, daß alles Uebrige vernachlässigt und Beethoven’s wie Boieldieu’s selbst an dem Einen ihnen gebührenden Gedenktag vergessen wird, so kann man das unmöglich einen befriedigenden oder gesunden Zustand nen nen. Wagner’s Berufung nach Wien erschien zweckmäßig und willkommen, sobald es sich um eine neue Oper seiner Composition handelte, um „Tristan und Isolde“ namentlich, die wir in Wien noch nicht kennen. Director Jauner hatte den vortrefflichen Plan, für die beiden Hauptrollen das Ehe paar Vogel aus München zu verschreiben, wodurch das Einstudiren dieses in den übrigen Partien unerheblichen und den Chor fast gar nicht beschäftigenden Werkes rasch und ohne Ueberbürdung unseres Personals von statten gegangen wäre. Warum man diesen Plan wieder aufgab, ist uns nicht bekannt. Genug, daß die Direction sich begnügte, Wagner’s Mitwirkung lediglich für die aufreibende, kostspielige und obendrein vielfach disgustirende Vorbereitung von „Tann häuser“ und „Lohengrin“ in Anspruch zu nehmen, also ohne eine Bereicherung des Repertoires und zur Benachtheiligung der übrigen Vorstellungen. Wagner’s persönliches Erscheinen bringt allenthalben einen Geist der Unruhe und des Unfrie dens mit, der leicht einen zersetzenden Einfluß auf das hei mische Kunstleben übt. Die Anwesenheit des berühmten und genialen Mannes kann uns schmeicheln und geistig an regen, aber nicht schlechterdings über ernstere Bedenken be ruhigen. Seine Persönlichkeit saugt wie ein Schwamm alle musikalische Thätigkeit und Theilnahme auf, entmuthigt die

Sänger durch Mißhelligkeiten und Ueberanstrengung, drängt das Publicum in Parteihader und die Direction in eine schiefe Stellung nebst sehr aufrechtem Deficit. Zu diesen Uebelständen und Opfern steht, unseres Erachtens, der Ge winn in keinem richtigen Verhältniß, den uns die Neuerungen im „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ gebracht haben.

Ueber die Verschlimmbesserung des alten „Tannhäuserhaben wir jüngst ausführlich gesprochen. Wenden wir uns jetzt zu „Lohengrin“, der gestern neuscenirt und zum ersten male ganz vollständig zur Aufführung gelangte. In dieser Gestalt spielte die Oper von halb 7 Uhr bis nach 3/4 11 Uhr vor einem schließlich todmüden Publicum. Darin allein liegt schon eine Kritik der neuen „Vervollständigung“. Sie scheint uns noch viel bedenklicher als jene des „Tannhäuser“. Der à la Parisienne umgearbeitete „Tannhäuser“ bringt doch einiges wirklich Neue, eigens neu Hinzucomponirte; das ist jeden falls interessant, mag man es nun schön finden oder nicht. Zum „Lohengrin“ hingegen ist nichts Neues nachcomponirt; man gab ihn blos partiturgetreu mit all den Stellen, welche bisher aus gut praktischen Gründen weggestrichen waren. Man hatte jene Kürzungen vorgenommen, um dem Effect der Oper zu nützen, wohl einsehend, daß eine drei- höchstens vierthalbstündige Operndauer so ziemlich die äußerste Zumu thung an die Empfänglichkeit des Hörers und alles darüber Hinausgehende auch ein Verlorengehendes sei. Die Zeitdauer allein macht es nicht aus. Wer hat nicht in Paris an Einem Abend „Richard Löwenherz“ und den „Schwarzen Dominooder „Fra Diavolo“ und „Die Regimentstochter“ gehört, ohne Ermüdung! Etwas Anderes ist es um eine so nerven aufregende, raffinirte, fortwährend in leidenschaftlichen Super lativen sich bewegende Musik, wie dieser „Lohengrin“. Selbst der „verlängerte“ „Tannhäuser“ wirkt lange nicht so ermü dend. Er bietet dramatisch wie musikalisch frischere Farben, reizendere Melodien, dazu eine wechselnde Handlung und reichliche Augenweide. „Lohengrin“ hingegen mit seinem aller dings einheitlicheren, aber unsäglich monotonen Styl ermattet uns, wie ein zu warmes Bad. Das weiße Magnesiumlicht dieser Musik flimmert uns im dritten Act bereits so schmerz haft vor den Augen, daß man den Schluß der Oper, auch in ihrer gekürzten Form, mit Ungeduld erwartet. Obwol

durch langen musikalischen Felddienst zu robuster Ausdauer abgehärtet, haben wir uns doch kaum jemals am Schluß einer Oper in so hingerichtetem Zustande befunden, wie gestern. Arthur Schopenhauer, bekanntlich sonst das ästhetisch Orakel Wagner’s, sagt: „Die große Oper ist, indem sie schon durch ihre dreistündige Dauer unsere musikalische Empfänglichkeit immer mehr abstumpft, an sich selbst, wesentlich und essentiell, langweiliger Natur. Die längste Dauer einer Oper sollte zwei Stunden sein, die eines Dramas hingegen drei Stunden, weil die zu diesem erforderte Aufmerksamkeit und Geistesanspannung länger anhält, indem sie uns viel weniger angreift, als die unausgesetzte Musik, welche am Ende zu einer Nervenqual wird.“

Eine Kritik des „Lohengrin“ käme heute um zwanzig Jahre zu spät. Wie „Tannhäuser“ hat sich auch „Lohengrineinen festen Platz auf allen deutschen und auch bereits auf einigen ausländischen Bühnen erobert; er gehört zu den ent schiedensten Lieblingen unseres Opernpublicums. Ob der Autor mit diesem Erfolg zufrieden sei, ist eine andere Frage. Denn nimmermehr kann er hoffen, daß die Hörer all den myste riösen Tiefsinn und metaphysischen Höhenrauch wirklich im Lohengrin“ herausfinden und verstehen sollen, den er in seiner „Mittheilung an meine Freunde“ darüber offenbart. In dieser berühmten Broschüre — vielleicht dem geräumig sten Weihrauchfaß, welches je ein Autor für sich selbst ge schwungen — bezeichnet Wagner den „Lohengrin“ „als den Typus des eigentlichen, einzigen tragischen Stoffes, über haupt der Tragik des Lebenselementes der modernen Gegenwart, und zwar von der gleichen Bedeutung für die Gegenwart, wie die „Antigone“ für das griechische Staatsleben es war“. Noch tiefer deutet Wagner die politische Symbolik der Elsa: „Durch das Vermögen dieses unbewußten Bewußtseins, wie ich es selbst mit Lohen grin empfand, kam mir auch die weibliche Natur zu immer innigerem Verständniß. Elsa, das Weib — diese nothwen digste Wesenäußerung der reinsten sinnlichen Unwillkür — hat mich zum vollständigen Revolutionär gemacht. Sie war der Geist des Volkes, nach dem ich auch als künst lerischer Mensch zu meiner Erlösung verlangte.“ Glücklich die „Freunde“, die das verstehen, aber noch glücklicher Jene, die Wagner’s Selbsterläuterungen nie zur Hand nahmen. Denn wem bei einer Aufführung des „Lohengrin“ all das Zeug

einfällt, das Wagner selbst darüber geschrieben, der kann, bei aller Vorliebe für diese Musik, unmöglich in andächtiger Stimmung bleiben.

Und nun zur gestrigen Aufführung. Sie war vollendet in den Leistungen des Chors und des (von Hanns Richter dirigirten) Orchesters, glänzend in allen Theilen der Aus stattung, musterhaft im Zusammenspiel und den Gruppirun gen. Die Volksscenen beim ersten Erscheinen Lohengrin’s, dann im zweiten Finale vor dem Dom packten durch eine aufgeregte dramatische Lebendigkeit, welche trotzdem nichts Theatralisches oder ängstlich Einstudirtes hatte. Das Arran gement des Zweikampfes, des Brautzuges, des Heerbanns im dritten Acte darf man scenische Meisterstücke nennen. Nur die Art, wie Lohengrin am Schlusse des ersten Actes von den Männern auf den Schild emporgehoben und hoch in den Lüften fortgetragen wird, erschien uns bedenklich; dergleichen hat immer etwas komisch Zappelndes, das der Würde eines Graalsritters leicht gefährlich wird. Die Darsteller der Hauptrollen kämpften mit begeistertem Heroismus gegen die außerordentlichen Schwierigkeiten ihrer Aufgabe, sie siegten auch, „soweit es die vorhandenen Kräfte erlaubten“. Wir gebrauchen dieses fliegende Wort Wagner’s durchaus nicht ironisch, sondern ganz ernsthaft. Für den Kritiker ist dieses Wort ein so unentbehrliches, allgegenwärtiges, daß er es stillschweigend supplirt wissen möchte, fast überall, wo er schwierige dramatische Leistungen lobt. Der tüchtigste Künstler wird trotz aller natürlichen und erworbenen Mitgift nicht immer mit seinen Kräften ausreichen für bestimmte ihm heterogene Charaktere und Stimmungen. Es kann Niemand über die Grenzen seines Talents hinaus, und das drama tische Talent der Opernsänger hat gemeiniglich gar enge Grenzen. Die beiden geschätzten Darsteller des Lohengrin und der Elsa haben an diesem Abend gewiß ihre beste Kraft eingesetzt, allein der Schwerpunkt ihres Talentes liegt eben in einer andern Sphäre. Herrn Müller’s klangvolle, leicht ansprechende Tenorstimme hören wir immer gerne, seinen in der Cantilene effectvollen Vortrag am liebsten in italienischen Opern. Die französische Novität „Carmen“ verdankt ihren Erfolg in Wien zu großem Theile Müller’s vortrefflichem Don José. Für den „Lohen grin“ fehlt seinem ganzen Wesen die selbstbewußte ideale Hoheit, seinem Vortrag die declamatorische Schärfe und

Klarheit. Von der großen Erzählung im dritten Acte verstand man kaum ein Wort. Obendrein sah der junge, glanz umflossene Held aus wie ein versteinerter Jesuit. Herr Müller ist uns als Mensch und Künstler viel zu sympathisch, als daß wir ihm nicht rathen sollten, den gefiederten Einspänner so bald als möglich wieder abzudanken. Auch Frau Kupfer fehlt für die Wagner’sche Heldin die überzeugende Kraft des Ausdrucks und des Spiels. Immerhin kam sie, begünstigt durch ihre Persönlichkeit, dem Bilde der Elsa näher, als Herr Müller dem Lohengrin, und übertraf in mancher zart vorgetragenen Stelle unsere Erwartungen. Ihre Leistung war im besten Sinne anständig und dürfte anderwärts vortreff lich gefunden werden, wo man nicht durch eine Dustmann verwöhnt ist. Frau Dustmann ist als Elsa ebenso einzig und vollendet, wie es der unvergeßliche Ander als Lohengrin gewesen. Leider werden wir bald auch „die unvergeßliche Dustmann“ sagen müssen, obgleich sie gottlob noch unter uns wandelt und wirkt. Aber wenn sie, wie es demnächst ge schehen soll, die Bühne für immer verläßt, dann werden wir ihren Verlust auf das herbste empfinden. In der gestrigen Lohengrin“-Vorstellung beherrschte ihre Aufgabe am vollkom mensten Frau Materna; ihre Ortrud ist mit den schärfsten Umrissen gezeichnet, mit den glühendsten Farben gemalt. Ihr zunächst muß Herr Scaria genannt werden, der für vorwiegend declamatorische Rollen, wie König Heinrich im „Lohengrin“, Landgraf Hermann im „Tannhäuser“, unschätzbar ist. Den Telramund sang zum erstenmal Herr Nollet mit schönem Eifer und anerkennenswerther Ausdauer. Der beste Telramund des Hofoperntheaters, Herr Beck, hat diese mörderische, für keinen Sänger und für sehr wenige Zuhörer angenehme Partie schon vor Jahren zurückgelegt. Herr v. Bignio, ohnehin mehr Troubadour als Bösewicht, folgte aus Schonung für seine Stimme diesem Beispiel. Ohne die erschütternde Gewalt Beck’s, noch die Noblesse Bignio’s zu erreichen, quali ficirt sich Herr Nollet doch als geeigneter Nachfolger der genannten Telramunde; sein Erfolg in dieser ersten größeren Partie dürfte dem jungen, talentvollen Sänger zu entschei dendem Vortheil ausschlagen. Anerkennung verdient schließlich der überall verwendete und überall tüchtige Herr Lay als Heerrufer, ferner die Herren Neumann, Hablawetz, Schittenhelm und Schmitt, welche voll Selbstver

leugnung die vier vorzüglich zum Leichentransport verwen deten Freunde Telramund’s sangen, ohne einen Tact oder eine Bahre fallen zu lassen.

Lohengrin“ wurde, wie gesagt, zum erstenmal in seiner ganzen Vollständigkeit, wie er in Partitur und Clavierauszug vorliegt, gegeben. Eine einzige kurze Stelle Lohengrin’s in der Schlußscene: „O König, hör’!“ blieb aus Schonung für den ohnehin überangestrengten Sänger fort. Mit dem Aufzählen all der einzelnen Stellen, die, früher gestrichen, jetzt wieder hergestellt wurden, wollen wir den Leser umsoweniger be lästigen, als viele derselben in neuester Zeit schon vom Capellmeister Richter — abwechselnd in verschiedenen Auf führungen — zu Gehör gebracht worden sind. Sie stehen meistens im zweiten und in der zweiten Hälfte des dritten Actes und treffen überwiegend die Partien Ortrud’s, Telra mund’s, des Königs und des Heerrufers. Als auffällig und einigermaßen wesentlich wären nur zwei von den neu aufge führten Stellen zu nennen: die kurze Verschwörungsscene der vier Anhänger Telramund’s im zweiten Finale und ein längerer Dialog zwischen dem abschiednehmenden Lohengrin und der ihn immer wieder zurückhaltenden Elsa in der Schlußscene der Oper (S. 217 bis inclusive S. 232 des Clavier auszuges mit Text). Fragt man, ob diese neue, die Vor stellung um mehr als eine Stunde verlängernde Redaction des „Lohengrin“ Aussicht auf bleibenden Bestand habe, so gibt uns eine ziemlich zutreffende Antwort Wagner selbst. Bei Gelegenheit der Aufführung von „Lohengrin“ schreibt er nämlich in seinem „Brief an einen italienischen Freund“, er sei nach lauter unvollständigen Aufführungen dieser Oper auf deutschen Theatern ein einzigesmal in München dazu gelangt, „Lohengrin“ seinen Intentionen vollkommen gemäß einzustudiren. Hierauf habe es ihn nur verwundert, „daß es dem Publicum gänzlich gleichblieb, ob es den Lohengrin so oder anders vorgeführt erhielt; ward die Oper späterhin wieder nach der alten Routine gegeben, so blieb der Eindruck immer derselbe“. Für Wien besorgen wir eine so vollständige Indolenz keineswegs; es wird dem nor mal organisirten Publicum nicht „gänzlich gleich“, sondern höchst erwünscht sein, wenn die Hofopern-Direction die neueste, doch allzu harte Lohengrin-Haft wieder auf ihr früheres milderes Ausmaß herabsetzen wollte.