Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4079. Wien, Dienstag, den 4. Januar 1876 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4079. Wien, Dienstag, den 4. Januar 1876 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04.01.1876
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Hofoperntheater. (Frau Dustmann’s Abschied.)

Ed. H. Man kennt die schöne Antwort jenes arabischen Weisen, der, nach der Unsterblichkeit der Seele befragt, er widerte: „Der Mensch lebt fort in seinen Kindern, in seinen Schriften und in seinen guten Werken.“ Zu den letzteren zähle der Künstler getrost seine guten Rollen. Er lebt in ihnen fort, noch lange, nachdem sie Andere spielen. Die Nach wirkung großer dramatischer Leistungen schlägt man gemeinig lich viel zu gering an und stützt sich dabei auf Schiller’s todmüde citirtes Wort. Die Nachwelt wirft dem Mimen keine Kränze, aber sie flicht sie ihm in der Erinnerung lange und reichlich. Die edlen Eindrücke, die wir, in der Jugend zumal, vom Theater empfangen, gehören zu den aller stärksten; sie sind unsterblich in jedem künstlerisch gearteten Gemüth. Und an jenem unauslöschlichen Eindrucke der Bühnen dichtungen selbst haftet festverbunden das Bild der großen Darsteller. Ja in gewissem Sinne regt sich diese lang nach wirkende persönliche Pietät für unsere Künstler noch inniger, als für die Autoren selbst. Nachschwelgend in der Erinnerung an unser erstes Erleben des „Freischütz“, „Hanns Heiling“, der Jessonda“, denken wir weniger an die Persönlichkeit der Com ponisten, die uns ja meist im Leben fremd geblieben, als an die geliebten Sänger, die uns jene Opern in lebendiger Schönheit verwirklicht haben. Die Werke selbst überleben den Meister, den Sänger, den Hörer; aber im Laufe der Zeit löst sich allmälig das Bild des Autors von seinen Schöpfun gen los, das Bild des Sängers, der Sängerin bleibt damit in unserer Seele als etwas Individuelles, uns persönlich Theures verknüpft. Seit zwölf Jahren ruht Ander in kühler Erde, aber in jeder seiner Rollen sehen wir ihn heute noch leben und hören die Zuschauer rechts und links flüstern: „Wie hat Ander das gesungen!“ Ja nicht einmal dieses thatsächlichen Zusammenhanges bedarf die überlebende Ver ehrung für einen Künstler — auch in den „Meistersingern“, in „Romeo und Julie“ vernehmen wir unzähligemal den halbunterdrückten Ausruf: „Wie hätteAnder das gesungen!“

Und diese Unsterblichkeit verbleibt auch der Künstlerin, welche soeben freiwillig sich von unserer Opernbühne verab schiedet hat: Louise Dustmann. Von den Hunderttausen den, die ihr im Verlaufe der letzten 25 Jahre gelauscht haben, wird Keiner sie vergessen, und wenn die jugendlich sten ihrer Zuhörer einst als Greise den „Don Juan“, Fidelio“, „Die Hugenotten“ hören, so werden sie sich noch sagen: Wie herrlich war die Dustmann in diesen Rollen! Die Theater-Eindrücke der Jugend sind etwas Ideales, wie diese selbst, und werden im Alter idealisirt, wie diese selbst. Meine Erinnerung an Louise Dustmann reicht bis in den Winter 48 auf 49 zurück. Da begann sie als Fräulein Meyer mit kleinen Partien in der von Stöger und Albert Lortzing geleiteten Josephstädter Oper. Ein schönes junges Mädchen mit angenehmer, noch ungeschulter Stimme — das ist Alles, was damals von ihr zu sagen war und gün stigenfalls auch gesagt wurde. Sieben Jahre später kam diese „Anfängerin“ als Gast (von Prag) an’s Wiener Hofopern theater, eine fertige Künstlerin. Mit der souveränen Sicher heit des Gelingens, welche die Dreieinigkeit von Schönheit, Stimme und heiligem Geist verleiht, trat sie im Juli 1855 als Valentine auf und nahm das Publicum für immer gefangen. Sie hat im Verlaufe der folgenden zehn Jahre große Fort schritte gemacht — ihre spätere Darstellung der Armida und Klytämnestra wäre ihr damals noch unerreichbar gewesen — aber die Signatur ihres ganzen künstlerischen Wesens stand bereits fest ausgeprägt vor uns. Sie offenbarte sich sofort als echte Künstlernatur, sodann als eminent deutsche Sän gerin. Ersteres bezeugte das begeisterte, vollständige Aufgehen der Dustmann in jeder Rolle. Mit der ganzen Hingebung eines schaffensfreudigen Enthusiasmus stürzte sie sich, gleich sam mit ausgebreiteten Armen, auf den darzustellenden Charakter; sie warDonna Anna, warFidelio auch in den unscheinbarsten Scenen stummen Spieles; über der Situation sich selbst und das Publicum total vergessend. In dieser echten, hochfliegenden Begeisterung, mit der sie Alles spielte, und das Beste am besten, that es ihr Niemand gleich. Wo sie sich übernahm, dachte sie nicht entfernt an ein „Cou lissenreißen“, im Gegentheil nur sie selbst ward gerissen von der Uebermacht der eigenen Empfindung. Niemals haben wir die geringste Koketterie, niemals das kleinste Vordrängen

der eigenen Person oder Kunstfertigkeit an ihr bemerkt. In einem noch ungedruckten Tagebuche von Grillparzer las ich einmal folgenden Ausspruch über den Sänger Pöck; „Es gibt edle Naturen in der Kunstwelt, wie in der sitt lichen; man kann sie durch Bemühung theilweise überbieten, im Ganzen aber nie erreichen.“ Dieses herrliche Wort Grill parzer’s wende ich getrost auf Louise Dustmann.

In ihren Neigungen, ihrem Wollen und Können war die Dustmann ausgeprägt deutsche Sängerin. Für die italienische Oper hegte sie so wenig Sympathie, wie für die französische Spieloper. Consequent sträubte sie sich gegen jede Rolle von Verdi, weil er ihren Geschmack beleidigte; erst in letzter Zeit hat sie ausnahmsweise die Amalia im „Masken ball“, eine noblere und dramatisch bedeutsame Partie, über nommen. Außerdem erinnern wir uns von italienischen Rollen nur der Norma. Wie der deutsche Gesang überhaupt die virtuose Schulung der Stimme vernachlässigt, so war auch die Dustmann nach dieser Richtung nicht hervorragend. Aber die Thatsache allein, daß sie die Norma singen konnte und wiederholt mit großem Erfolg sang, hebt sie hoch über die Mehrzahl der heutigen „dramatischen Sängerinnen“, welche, nur in Richard Wagner nistend, vor jedem Lauf, vor jedem Triller zittern müssen. Frau Dustmann hat mit rühmenswerthem Fleiß sich auch im Coloratur-Gesang unab lässig vervollkommt und darin mit Hilfe ihres später so kunstreich ausgebildeten Mezza-voce respectable Erfolge er zielt. In dramatischer Hinsicht war ihre Norma so großartig angelegt, so hinreißend ausgeführt, daß wir davon uns un vergleichlich mehr gerührt und ergriffen fühlten, als von mancher berühmten Gesangsvirtuosin, die auch als Norma nur ein Concert im Costüm singt. Lieblings- und Meisterfach der Dustmann blieb jederzeit die deutsche Musik, insbeson dere die romantische von Weber, Marschner und Spohr. Damit fiel ihre eigenste Empfindungsweise zusam men; ein Ueberquellen der Empfindung, ein süßes, ahnungs volles Dämmern und Sinnen, eine durchaus romantisch an gewehte, aber stets gemüthvoll durchwärmte Phantasie war bestimmend für ihren Gesang, wie für die Tondichtungen jener Meister. Jessonda, Agathe, Rezia, Euryanthe, Rebekka („Templer und Jüdin“) und Anna („Hanns Heiling“) ge hörten zu den edelsten, innigsten Gestalten der Dustmann.

In den Jahren 58 und 59 kamen „Lohengrin“ und „Tann häuser“ auf die Bühne des Hofoperntheaters. Mit ihrer Elsa, Elisabeth und der bald nachfolgenden Senta hat die Dust mannWagner’s Erfolge in Wien mächtig gefördert und ihre eigenen auf den Culminationspunkt gehoben. Ihre letzte neue Rolle gehörte gleichfalls der romantischen Schule: es war die Genovefa von Robert Schumann. Die classischen Gestalten der Iphigenia, Klytämnestra, Armida, Donna Anna und Leonore („Fidelio“) reihten sich jenen würdig an, ja sie bezeichneten gegen den Ausgang ihrer Künstlerlaufbahn die Höhe des gewaltigen dramatischen Talents der Dustmann. In dem Maße, als die letzten Jahre die Kraft und den Schmelz dieser schönen Stimme fühlbarer antasteten, schien sich die darstellende Kunst der Sängerin noch zu stei gern. Die gewaltsame physische Anstrengung, gesteigert durch eine immer zunehmende nervöse Unruhe, war in den späteren Leistungen der Dustmann allerdings nicht mehr zu übersehen, aber in zahlreichen Einzelmomenten siegten die Gluth und Genialität der dramatischen Darstellung noch vollständig über die widerspenstig gewordenen Mittel. Noch in ihrem letzten Auftreten als Donna Anna (am 25. December) sang sie das Recitativ an der Leiche des Gouverneurs und die Er zählung von dem nächtlichen Ueberfall mit so erschütternder Wahrheit und Leidenschaft, daß wir vergebens nachsinnen würden, wer es ihr heute darin etwa zuvorthue? In solchem Lobe ihres Spiels, und wahrlich zum Lobe desselben, muß ausdrücklich betont werden, daß darin nichts Reflectirtes, Ausgeklügeltes lag, sondern jeder einzelne Zug spontan aus der genialen Anschauung des Ganzen hervorquoll. Louise Dustmann kannte nicht den unkünstlerischen Ehrgeiz, um jeden Preis neu, geistreich und anders als Andere zu spielen; niemals wollte sie gescheiter sein, als ihre Rolle. Sie stand, bei aller Accentuirung des Dramatischen, doch noch auf der richtigen Mitte zwischen Zuviel- und Zuwenig spielen. Ehemals genügte ein Opernsänger mit den allge meinen Gesten eines Ballet-Tänzers; jetzt verlangt man von ihm fast die mimische Durchbildung und die psychologische Detailmalerei des Schauspielers. Diese Richtung des dra matischen Gesanges geht Hand in Hand mit einer analogen Wendung in der Composition. Eine Opernmusik galt vor mals für hinreichend „dramatisch“, wenn sie im Allgemeinen

den Charakter der Scenen und Personen traf und in Einzel heiten ihn nicht gerade Lügen strafte. Heutzutage begünstigt man die genaue Charakteristik, die mikroskopische Deutlichkeit der Tonschilderung so sehr, daß die Forderungen schöner Musik und schönen Gesanges darüber fast verschwinden. In beiden Punkten sollten wir, ohne die Dürftigkeit früherer Anschauungen zurückzuwünschen, doch wieder nach dem richti gen Gleichgewichte, diesem Lebensprincip der Oper, zurück streben. Frau Dustmann war frei von dieser modernsten Ueberwucherung mit dramatischen „Nüancen“, aber im besten Sinne productiv in der Reproduction. Hätten große Ton dichter Rollen für sie geschrieben, sie würde ohne Zweifel einen so bedeutenden Einfluß darauf gewonnen haben, wie mancher geistvolle Sänger auf einzelne Partien von Rossini, Halévy und Meyerbeer. Zur Begründung dieser Ansicht ein Beispiel. In der Oper „Judith“ von Mosenthal und Dopp ler übernahm Frau Dustmann nach mehreren Vorstellungen die Titelrolle aus den Händen einer andern Darstellerin. Nach Vorschrift des Dichters war Judith, nachdem sie in das Schlafgemach des Holofernes geeilt, um ihn zu tödten, nicht wieder herausgekommen; die Scene verwandelte sich in eine freie Gegend, wo Judith im Triumph einzieht. So sahen wir die Oper in den ersten Aufführungen. Frau Dust mann gewahrte hier eine Lücke oder doch das Uebersehen eines naheliegenden, fast selbstverständlichen Effects. Sie stürzt nach kurzem Verweilen aus Holofernes’ Gemach, mit dem blutigen Schwert in der Hand, heraus und eilt aus dem Zelte ins Lager. Jetzt erst wurde die Scene deutlich, vollständig und effectvoll.

Eine gefeierte Specialität in allen heroischen und tragi schen Rollen, blieb doch Frau Dustmann keineswegs darauf beschränkt, sondern beherrschte im Gegentheil ein ungewöhn lich großes Repertoire. Sie gab mit schönstem Erfolg auch Partien di mezzo carattere, wie Gabriele im „Nachtlager“, ja Lustspielrollen, wie Susanne in „Figaro’s Hochzeit“, Frau Fluth in den „Lustigen Weibern“. Nicht aus eitlen Usurpa tions-Gelüsten, sondern im künstlerischen Interesse für das Institut und dessen classisches Repertoire sang sie zeitweilig auch vorwiegende Bravourpartien, wie die Königin der Nacht, Constanze in der „Entführung“ und andere. Als unermüd lich fleißiges, pünktliches und bereitwilliges Mitglied konnte die Dustmann Allen zum Muster dienen. Sie spielte heute

in der „Zauberflöte“ die Pamina, morgen die Königin der Nacht; im „Tannhäuser“ einmal die Elisabeth, das andere mal die Venus — und wohlgemerkt, aus rein künstlerischem Pflichteifer; denn die heutige unsaubere Praxis des Mäkelns und Feilschens um ein Extra-Honorar für jede nicht streng contractliche Leistung war ihr fremd. Auch das wunderbare Naturspiel, Mittags stockheiser zu sein, aber für einige hun dert Gulden Abends dennoch mit voller Stimme singen zu können, kam hier erst durch andere Primadonnen in Schwang, welche eines Tages auch gewiß reicher an Geld die Bühne verlassen werden.

Die Verehrung für eine Künstlerin wie Louise Dust mann mußte ebenso groß und allgemein, wie die Betrübniß ob ihres Verlustes sein. Die ganz außerordentlichen Ova tionen, welche ihr bei ihrem letzten Auftreten in „Lohengrinzu Theil wurden, haben das vollauf bewiesen. Sollten wir nach alledem nicht mit der Aufforderung schließen, die ge feierte Künstlerin möge ihren Entschluß zurücknehmen und ihre Theaterwirksamkeit noch eine zeitlang fortsetzen? Nein. Wir möchten die Erinnerung an Louise Dustmann uns lieber ungetrübt und unverfälscht erhalten. Jedwedes Ding hat seine Zeit, und die einer Silberstimme ist leider kurz be messen. Den Sängern ist es nicht beschieden, wie manchem Altmeister im Schauspiel, noch hoch bei Jahren das Publi cum wahrhaft zu erfreuen. Es gibt keinen singenden La Roche, keine singende Haizinger. Die Oper bedarf der schö nen Sinnlichkeit, der jugendkräftigen Mittel. Sie bietet keinen Uebergang in ein älteres Rollenfach, sie kennt nicht alte Par tien, sondern höchstens Altpartien, und auch diese nur mit junger Stimme. Eine Sängerin, die über ein Vierteljahr hundert ruhmvoll gewirkt, darf getrost auf ihren Lorbeern ausruhen. Frau Dustmann ist gewiß zu einsichtsvoll, um, überredet von falschen Freunden und beirrt von den jüngsten Huldigungen, den glänzendsten Abschiedstriumph durch ein zweifelhaftes Nachspiel abzuschwächen. Sie wird nicht wollen, daß man 1876 zu den Sängerinnen, welche die unvergeßliche Dustmann nicht entfernt erreichen — Frau Dustmann selber zähle. Fügen wir uns darum in das Unabwendbare und danken dem Geschick, das uns so lange und ungetrübt den wertvollsten theatralischen Besitz vergönnt hat; den Besitz einer Louise Dustmann.