Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4119. Wien, Sonntag, den 13. Februar 1876 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4119. Wien, Sonntag, den 13. Februar 1876 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 13.02.1876
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Concerte. (Der kleine Busoni. Fräulein Baumeyer. Frau Gomperz-Bettelheim. Herr A. Door.)

Ed. H. „Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so hätten wir lauter Genies.“ Mit diesem Satz aus Goethe’s „Wahrheit und Dichtung“ ist das Trü gerische in der so vielverheißend raschen Entwicklung der Kin der schlagend bezeichnet. Und nicht blos bei Normalmenschen, auch bei Wunderkindern trügt der Schluß auf eine unaus bleibliche Weiterentwicklung in gleicher Progression — Sechse treffen, Sieben äffen! Unter den Wunderkindern sind wieder die musikalischen besonders unzuverlässig. Frühgenies, die auch später noch Genies bleiben und große Meister werden, wie Mozart und Mendelssohn, ragen als Seltenheiten empor aus der Schaar von Wunderkindern, bei denen das Wunder aufhört mit der Kindheit. Man braucht nur in den Wiener Concert-Programmen von 1830 bis 1850 zu blättern — welche Menge von kleinen Tonmirakeln beiderlei Geschlechts, welche, anscheinend zur Meisterschaft prädestinirt, sich trotzdem ruhmlos in der Alltäglichkeit verliefen. Es wird wol selten ein aufgeweckter kleiner Junge ins Conservatorium gethan, von dem nicht seine Eltern glauben, vielleicht mit einigem Grunde glauben, er sei ein künftiger Paganini. Ein Glück, daß die Meisten sich darin täuschen; denn wenn all diese Ab sichten und Hoffnungen erfüllt würden, hätten wir lauter Paganinis und kein Orchester mehr. Immerhin bleibt früh entwickelte technische Fertigkeit auf einem Instrument noch weit verläßlicher, als vorzeitiges Aufdämmern schöpferischen Talents. Kleine Compositionsversuche, auffallend, ja erstaun lich in zartem Alter, führen häufig nicht weiter, als zu großen Compositionsversuchen; das niedliche leuchtende Wun der wird allmälig zum dunklen Ehrenmann, das Bild von Raupe und Schmetterling kehrt sich um.

Solche Erfahrungen warnen uns, zu prophezeien, es müsse aus dem neunjährigen Busoni, der kürzlich hier mit

glänzendem Erfolg concertirt hat, ein großer Tonkünstler werden. Aber ungewöhnliche Anlagen darf man ihm getrost zugestehen, die herzlichsten Wünsche und Hoffnungen ihm für seine Laufbahn mitgeben. Seit langer Zeit hat kein Wunder kind uns so sympathisch angesprochen, wie der kleine Feruccio Busoni. Gerade weil er so wenig vom Wunderkind an sich hat, hingegen viel vom guten Musiker. Sowol als Pianist, wie als angehender Compositeur. Am Clavier verräth der Kleine sofort eine entschieden musikalische Natur; er spielt frisch, natürlich, mit jenem nicht leicht definirbaren, aber unmittelbar einleuchtenden Tonsinn, welcher unbeirrt von subjectiven Gefühls-Prätensionen überall das rechte Tempo, die rechten Accente trifft, den Geist des Rhythmus erfaßt, die Stimmen in polyphonem Satz klar auseinanderhält, kurz durchwegs musikalisch empfindet und gestaltet. Mit vollkom mener Sicherheit spielt er Alles auswendig, selbst mehrsätzige, begleitete Stücke, wie das Haydn’sche Trio. Die Haltung des Körpers und der Hände ist ruhig, leicht und frei, der An schlag singend, wenngleich noch von geringer Kraft, die Technik correct. Dabei hat das Alles nichts Marionetten haftes, ängstlich Eingelerntes, im Gegentheil, es ist dem Jungen ein vergnügliches Spiel, bei dem er oft statt auf die Tasten unbefangen ins Publicum schaut. Offenbar besitzt der kleine Feruccio in seinem Vater, dem Clarinett-Virtuosen Busoni, einen tüchtigen, vernünftigen Lehrer. Dieser hält ihm weislich die Plage der Bravourstücke fern und das süße Gift der Romantiker. Ein so junges Blümchen gedeiht nicht in dem dämmernden Zwielicht eines Chopin, Henselt, Schu mann, sondern nur in dem hellen Tage Haydn’s, Mozart’s, Hum mel’s. Als Componist trat der kleine Busoni mit sechs kurzen Clavierstücken auf. Sie offenbaren denselben gesunden Musik sinn, der uns in seinem Spiel erfreute; keine frühreife Sen timentalität oder gesuchte Bizarrerie, sondern naive Freude am Tonspiel, an lebensvoller Figuration und kleinen combi natorischen Künsten. Nichts Opernhaftes oder Tanzmäßiges, vielmehr ein merkwürdig ernster, männlicher Sinn, welcher auf liebevolles Studium Bach’s hinweist. Die Stücke sind sämmtlich kurz, wie es einem noch halbflüggen Talent an

steht, kurz und gut, und auch wieder nicht so gut, daß man die Hilfe eines Meisters argwöhnen müßte. Die Echtheit seiner Composition steht mir außer Zweifel, da ich dem Knaben am Clavier mehrere Motive aufgab, die er sofort in freier Phantasie in derselben ernsthaften Weise, meist imitatorisch und contrapunktirend, durchführte. So hat denn der herzige, lebhafte Junge unser Publicum im Flug gewon nen und einen erfolgreichen ersten Schritt in die Oeffentlich keit gethan. Für sein eigenes Bestes wünschen wir nur, daß er dieser Oeffentlichkeit so bald als möglich wieder entrückt werde. An ermunternder Anerkennung hat er vorläufig genug eingeerntet, um muthig an die Arbeit zu gehen, an ruhige, gesammelte Arbeit für mehrere Jahre. Zu den Gefahren einer glänzenden Frühreife gehört in erster Linie die Gewöh nung an leicht errungenen, schmeichelnden Applaus.

In Busoni’s Concert besorgten Fräulein Lüdecke und Frau Kauser-Gerster die Gesangsnummern. Erstere verdankte auch diesmal ihrer leichtflüssigen Coloratur und ihrem schönen langen Triller den gespendeten Beifall. Die Stimme ist aber derzeit noch zu spitz, in mittlerer und tiefer Lage zu tonlos, um mit einer Verdi’schen Arie Effect zu machen. Die erste Arie der „Traviata“ verlangt unbedingt Kraft und Frische des Organs, packende Sinnlichkeit des Vortrages. Im Gegensatze zu Fräulein Lüdecke wird ihre Collegin Frau Kauser immer mit Vortheil solche Gesangs stücke wählen, in welchen die sinnliche Klangschönheit ent scheidend ist. Welch’ süße, reine, kraftvolle Stimme! Eine Stimme allerdings, in welcher, wie in manchem schönen Menschenbilde, das üppige Fleisch den geistigen Ausdruck überwuchert; eine Stimme, die gleichsam immer in voller Mittagssonne strahlt und dem sanften, dunklen Abendroth der Empfindung sich nicht willig darbietet. In der ersten Arie aus Verdi’s „Forza del destino“, in Meyerbeer’s theatralisch kokettem „Mailied“ und dergleichen lauschten wir Frau Kauser mit ungetrübtem Genuß. Hingegen fehlte ihrem Vortrage Schumann’scher und Brahms’scher Lieder (in Door’s Concert) der poetische Hauch, die Vergeistigung. Ihre Stimme, die etwas von der instrumentalen Schönheit

der Clarinette hat, läßt die feineren Vibrationen der Empfin dung und des Gedankens nicht leicht an die Oberfläche des Wortes treten. Zu diesem Charakter ihres Organs scheint auch das gelassene Temperament der Sängerin zu stimmen. Frau Kauser fand reichlichen Beifall und wird wol auf der Bühne eine noch glänzendere Rolle spielen, als im Con certsaale.

Das Concert, welches die k. k. Kammersängerin Frau Gomperz-Bettelheim zum Vortheile der Taubstum men veranstaltete, wurde bereits in einer Notiz gewürdigt. Vollständigkeitshalber wiederholen wir gerne, daß die ver ehrte Künstlerin noch weit mehr zum Vortheile der Hörenden gesungen und mit den verschiedenartigsten Gesangsstücken, am meisten mit den „Beiden Grenadieren“ von Schumann, Furore gemacht hat. Sie darf sich noch heute getrost sagen, daß keine ihrer Nachfolgerinnen im Hofoperntheater uns den Verlust von Caroline Bettelheim vergessen gemacht hat. — Eine junge Pianistin aus Epstein’s bewährter Schule, Fräulein Anna Baumeyer, gab ein eigenes Concert im Musikvereinssaale. In Bach’s A-dur-Sonate, die sie mit Hellmesberger spielte, konnte die Concertgeberin sich wenig hervorthun; das reizlose, namentlich in den ersten Sätzen steife, schnörkelhafte Stück paßt mehr in das Studir zimmer, als in den Concertsaal. Desto größer wuchs die Aufgabe in Schumann’sPhantasie“, Op. 17, einer der eigenartigsten, tiefsinnigsten, dabei technisch schwierigsten Com positionen, welche Fräulein Baumeyer vollständig spielte und auswendig obendrein. Wie ihr Gedächtniß, erschien auch ihre Bravour erstaunlich für ein so junges Mädchen. Aber das Stück ging doch über ihre Kräfte, über die physischen zunächst. Sie mußte sich mühsam durch kämpfen, und ihr Arbeiten mit beiden Armen und dem Oberkörper machte dem Hörer auch äußerlich den Eindruck großer Anstrengung. Durch eine ruhigere Haltung und mäßi geren Pedalgebrauch würde Fräulein Baumeyer’s Spiel sehr gewinnen. Kleinere Charakterstücke zarten, anmuthigen Inhalts gelangen ihr vollkommen und zur lebhaften Zufriedenheit des Publicums. Der Baritonist Herr A. Wallnöfer, dessen [???] Auffassung und deutliche Aussprache doch nur

theilweise mit dem starren, hohlen Klang seiner Stimme ver söhnen kann, sang mehrere Lieder, worunter das seit mehre ren Jahren Mode gewordene „Willst du dein Herz mir schenken“. Nachdem diese Composition erst kürzlich wieder in drei bis vier Concerten als „Lied von Johann Sebastian Bach“ paradirte, möchten wir doch endlich dem Schwindel ein Ende gemacht wissen. Wir haben uns von allem Anfang erlaubt, dieses Lied, dessen frostige Rococo-Musik tief unter dem schlichten, herzlichen Gedichte steht, einen „an geblichen Sebastian Bach von Herrn Brachvogel’s Gnaden“ zu nennen. Gab es doch nichts Gekünstelteres und Abgeschmack teres, als die Beweisführung der Autorschaft S. Bach’s, wie sie Brachvogel in seinem vielgelesenen Kunstroman „Friede mann Bach“ unternimmt, um den der Lieder-Composition stets ferngebliebenen, strengen Meister auch als Componisten eines Liebesliedes einführen zu können. Die Thatsache, auf die er seine Argumentation baut, ist einzig die, daß jenes Lied (obendrein nicht von S. Bach’s Handschrift) sich in einer geschriebenen Liedersammlung von Bach’s Frau unter dem Titel „Aria di Giovannini“ vorfand. Nun wird uns die Schlußfolgerung zugemuthet, „Giovannini“ habe hier wahr scheinlich einen italisirten Schäfer- oder Kosenamen des Johann Sebastian Bach vorgestellt, und sei das Lied somit ihm zuzuschreiben. Der gelehrte Biograph S. Bach’s Ph. Spitta, hat jedoch nachgewiesen, daß „Giovannini“ kein Schäfer- oder Kosename Bach’s, sondern ein leibhaftiger italie nischer Componist aus der Mitte des achtzehnten Jahrhun derts gewesen, welcher längere Zeit in Deutschland lebte, der deutschen Sprache mächtig war und sich mehrfach in der Lieder-Composition versuchte. Es wollen daher die geehrten Sänger und Sängerinnen so gewissenhaft sein, wie Frau Bach selbst, und das genannte Lied künftig als „von Giovanniniim Programm aufführen. Damit wird es allerdings seinen Hauptreiz eingebüßt haben.

Ein sehr zahlreiches und gewähltes Publicum hatte sich Donnerstag Abends in dem Concert von Herrn Anton Door eingefunden. Es war eines der immer seltener werdenden Concerte mit Orchester und mit großen Novitäten aus dem Programm. Zuerst ein neues Clavier-Concert (G-moll, op. 22)

von Camille Saint-Saëns, dem geistreichen Pariser Com ponisten, dessen Einführung in Wien ein Verdienst Door’s ist. An Ideengehalt und Noblesse des Styls können wir das Concert dem kürzlich gehörten Clavier-Trio von Saint-Saëns nur sehr theilweise gleichstellen. Effectvoller ist das Concert allerdings, aber die Effecte klingen mitunter recht bizarr und materiell. Immerhin bleibt es ein Werk voll Esprit und nervöser Lebendigkeit, äußerst geschickt gemacht, melodiös an sprechend, häufig originell in seinen Clavier-Effecten und deren Combination mit dem Orchester. Charakteristisch für Saint-Saëns ist auch hier die Vereinigung des alten, figurirten und gebundenen Styls mit dem modernen — da er Meister des Orgelspiels und modernster Franzose in Einer Person ist, gelingt ihm diese Verschmelzung gut und natürlich. Gleich der Anfang: das Clavier beginnt Solo, über einen Orgel punkt frei präludirend, ein modernisirter Sebastian Bach; da fällt das Orchester mit drei wuchtigen Schlägen ein und weckt gleichsam den Träumer zu Kampf und Arbeit auf. Dieser erste Satz scheint uns der bedeutendste von den dreien. Ent gegen der allgemeinen Regel ist der erste Satz (G-moll) ein Andante. Als zweiter folgt ein Scherzo (Es-dur, Sechsachtel- Tact, etwas mendelssohnisch), als dritter ein Presto (G-moll), dessen Tonfeuerwerk sogar Beckenschläge nicht verschmäht. Herr Door, dessen Spiel im vorigen Jahre Spuren von Vernachlässigung aufwies, scheint sich vollkommen wiedergefun den zu haben, ja er überraschte geradezu durch die kraftvoll ausdauernde, brillante Virtuosität, womit er die enorme Auf gabe des Concerts von Saint-Saëns bewältigte. Er spielte ferner das Scherzo aus Litolff’sConcert symphoniquein D-moll, eine effectvolle, geistreich prickelnde Composition, welche übrigens Litolff selbst, unseres Erinnern, schon in Wien vorgetragen hat. Beide Concertstücke accompagnirte das jugend liche Orchester des Conservatoriums unter Hellmesber ger’s Leitung ganz zufriedenstellend. Allein spielte Herr Door schließlich Rubinstein’sDeutsche Tänze“ (mit dem gleich sam als Citat eingewebten Ländler aus dem „Freischütz“) dann zwei originelle und interessante Genrestücke von Tschay kowsky, einem neueren russischen Componisten, der auch außerhalb Rußlands bald Beachtung finden dürfte.