Oper und Concert.
Ed. H. In der italienischen Oper war das Erscheinen
der Patti ein Fest, welches, lange verzögert, um so herz
licher gefeiert wurde. Sie sang die Traviata von Verdi
so unbeschreiblich schön, war darin so reizend und rührend,
so wahr und doch so individuell, so dramatisch im vollendet
Musikalischen, wie es in dieser Rolle eben nur die Patti
und keine Andere neben ihr sein kann. Das ist eigentlich
Alles, was in Wien über ihre bekannteste Leistung noch zu
sagen möglich und schicklich ist. Diese wunderbare kleine Frau
scheint gefeit gegen jede Unbill der Zeit und der Natur, un
abnützbar in ihren eigenen Zauberkräften, wie in den Augen
und Ohren der Menschheit. Seit vierzehn Jahren erscheint
sie uns unverändert frisch und jugendlich, wir kennen sie
auswendig und begrüßen doch immer wieder die ersten
Töne, welche sie uns entgegenschmettert, wie eine holde
Neuigkeit. In der Traviata und allen ähnlichen lyrischen,
halbernsten und heiteren Rollen strömt ihr der Gesang so
natürlich und mühelos von den Lippen, daß man lauschend
im Wohlgefühle reinen Genusses schwelgt. Das ist der Un
terschied dieser und ähnlicher Leistungen der Patti von ihrer
Valentine in den „Hugenotten“. Daß auch letztere zu
den vollendetsten Gesangsleistungen zählt, versteht sich von
selbst; ist es doch Adelina Patti, welche singt. Aber eine
gewisse Anstrengung, ihrer Stimme die höchste Kraft abzu
gewinnen, ein Uebereifer in dem Streben nach äußerster
Energie des dramatischen Ausdruckes beherrscht diese Leistung
und beeinträchtigt gerade den eigenthümlichsten Reiz dieser
Sängerin. Die Patti ist eine vorwiegend musikalische
Natur, ein Ideal der italienischen Oper — in der Valentine
herrscht aber das Hochdramatische, das Starke und Gewalt
same mit jener Schärfe vor, welche die französische Große
Oper charakterisirt. Gerade den eigentümlichsten, höchsten
Vorzügen der Patti eröffnet die Valentine keinen Spielraum,
weit mehr würde dies die Rolle der Königin thun. Sachen,
die nur Adelina Patti und niemand Anderer so vollendet
machen kann, wie sie, kommen in der Valentine nicht vor.
Wir meinen damit keineswegs blos ihre Bravour, sondern
ebensosehr ihren unvergleichlich süßen Vortrag einfacher, zwi
schen Anmuth und Empfindung schwebender Melodien. Hin
gegen fordert Valentine von der Sängerin eine Reihe von
Effecten, die geradezu auf die Wucht der Stimme, auf an
haltend breite und starke Tonbildung angelegt sind. Um diese
Effecte zu erreichen, muß die Patti ihre ganze Kraft auf
bieten, sich mehr als irgend sonst anstrengen. Die Energie,
mit welcher sie diese Hindernisse besiegt, diese starken Wirkun
gen sich abzwingt, verdient Bewunderung; aber während wir
diese Bewunderung durch lauten Applaus manifestiren, suchen
wir damit zugleich ein leises Bedauern in uns zu über
lärmen, daß diese süße Stimme und diese holde Kunst ohne
Noth solche Gefahren aufsuche. Nicht blos der musikalische
Kraftaufwand, auch die bis zum Zerreißen angespannte dra
matische Leidenschaft der Rolle widerstrebt der harmonischen
Natur der Patti. Gewiß spielt sie die Rolle vor
trefflich, aber gerade die Anstrengung, sich in Ton
und Mimik unausgesetzt auf dem schwindelndsten Höhepunkt
der Leidenschaft zu erhalten, läßt mitunter argwöhnen,
es sei diese übermäßige Leidenschaft mehr anempfunden, als
wahrhaft erlebt und gefühlt. Die einzelnen rührenden, schmerz
lich bewegten Scenen in der „Traviata“, „Linda“, „Dinorah“,
welche die Patti so ergreifend spielt, sind doch etwas ganz
Anderes; diese Charaktere gehen von Lust zu Leid über,
Violetta sogar zum Sterben; aber dem tragischen Heroismus,
dem unausgesetzt tobenden Seelenkampf der Valentine stehen
sie fern. „La Traviata“ verhält sich zu den „Hugenotten“,
wie ein ernstes Conversationsstück zur historischen Tragödie.
Die Kunst der Patti weiß auch letztere zu erklimmen, aber
die Natur wollte sie kaum dafür schaffen. Adelina Patti, die
noch vor wenigen Jahren sich auf die Opera buffa und
semiseria beschränkte, hat mit seltener Energie die Grenzen
ihrer Kunst erweitert und ist darob zu rühmen, wie jeder
Künstler, der nicht stille steht, dessen Streben nicht in der
Bequemlichkeit des Besitzes und den Wogen des Erfolges
erlischt. Trotzdem werden wir die Patti jederzeit im An
muthigen, das ja den Ernst und die Empfindung nicht aus
schließt, zuhöchst stellen. Ohne Frage sind die Vorzüge
glänzend, welche sie als Valentine entfaltet, aber nicht so
unmittelbar entzückend, so wahr, so einzig, wie ihre Traviata
und Dinorah, ihre Zerline und Rosina. Hier lieben wir,
während wir dort nur bewundern. — Was die Gesammt-
Aufführung der italienischen „Hugenotten“ betrifft, ist
aufrichtigen Lobes würdig. Fräulein Heilbron war
eine brillante Königin, Fräulein Cary ein ge
fälliger, nur im Vortrage der Romanze zu pathe
tischer Page. Herr Jamet hatte mit der unserem
Rokitansky zugetheilten Rolle zwar nicht zugleich dessen
Stimmkraft übernommen, aber in Spiel und Gesang einen
sehr tüchtigen charakteristischen Marcell gestellt. Herr Nico
lini (Raoul) führte sich mit der ersten Romanze nicht
günstig ein, machte aber durch volle Stimmkraft im dritten
und vierten Acte viel Effect. Nevers war von Herrn Pa
dilla, St. Bris von Herrn Strozzi gut gesungen und
stattlich repräsentirt; die kleineren Rollen lagen in den be
währten Händen unserer deutschen Darsteller: Nollet,
Schmitt, Schittenhelm, Hablawetz und Lay. Der
vortreffliche Dirigent der Oper, Arditi, hatte in der Par
titur einige Redactions-Aenderungen nach Londoner Muster
vorgenommen, worunter die auffallendste das Weglassen des
Vocal-Quartetts in B-dur im zweiten Finale. Wir geben
uns damit zufrieden, nachdem wenigstens unsere Besorgniß
vor der Einlage des nachcomponirten Pagen-Rondos im
zweiten Acte sich als unbegründet erwies.
Auf die beiden Patti-Abende folgten zwei äußerst er
folgreiche Lucca-Vorstellungen: „Mignon“ und „La
Favorita“. Ueber erstere haben wir bereits in Kürze be
richtet. Als Mignon hat die Lucca ausgezeichnete Mo
mente, doch paßt ihr diese Figur (auch äußerlich genommen)
nicht so gut wie die Heldin im „Trovatore“ und in der
„Favorita“. Diese beiden Leonoren gehören zu ihren glän
zendsten Leistungen. Schade, daß Donizetti’s „Favorita“
neben einzelnem Gefälligen, ja Vortrefflichen so viel nichts
sagenden, veralteten Melodientrödel enthält und eigentlich
erst mit dem vierten Acte bedeutend wird. Hier erreicht
Donizetti einen dramatischen Höhepunkt, wie er in keiner
seiner übrigen tragischen Opern sich wiederfindet. Natürlich
gipfelte hier auch die Leistung der Lucca, welche in den
drei ersten Acten meistens nur formell wirken konnte, im
letzten aber ihr großes dramatisches Talent in voller Kraft
und mit überwältigender Wirkung entfaltete. Dieser vierte
Act der „Favorita“ gehört in der meisterhaften Darstellung
durch Pauline Lucca und Capoul zu den reinsten und
edelsten Genüssen, welche wir der italienischen Opernsaison
verdanken. Herrn Capoul lernen wir mit jeder Vorstel
lung höher schätzen — auch von Seite seiner Ausdauer und
Arbeitskraft. An einem Abend den Alfredo, am nächsten den
Wilhelm Meister zu singen, heute den Edgar in „Lucia“,
morgen den Fernando, immer mit voller Hingebung und Stimm
kraft — das sollte man unseren deutschen Hoftenoristen einmal
zumuthen! Seinen Wilhelm Meister wußten wir uns als eine
der schönsten Gesangsleistungen rühmen, sein Edgardo erhöhte
unsere Achtung vor dem dramatischen Sänger, als Fernando
endlich hat er unser Herz gewonnen. Man kann die Rolle
nicht feiner, wärmer und seelenvoller singen, nicht edler und
ritterlicher spielen. Capoul hat sich an diesem Abend nicht
blos als eleganter, wohlgeschulter Sänger, sondern geradezu
als großer Künstler bewährt. Herr Padilla sang den
König in der „Favorita“ in seiner bekannten geschmackvollen
Manier; an zierlich sauberer Malerei läßt er es niemals
fehlen; leider hat er wenig Farben auf seiner Palette.
Von allen Opern der gegenwärtigen Saison zeigte Do
nizetti’s „Lucia von Lammermoor“ die geringste An
ziehungskraft. Sie erntet jetzt den Fluch ihrer ehedem über
mäßigen Beliebtheit und Abnützung. Ihre paar Glanzpunkte,
insbesondere das Finalsextett und Edgardo’s letzte Arie, thun
zwar heute noch ihre Schuldigkeit, aber sie halten nur mehr
nothdürftig Stand gegen die Majorität so vieler süßlich-
monotoner, mit langweilig veraltetem Schmuck behängter
Nummern. Nur die Zauberkraft außerordentlicher Gesangs
kunst und hinreißend schöner Stimmen vermag diese Oper
heute noch vollständig zu beleben. Unseres Dafürhaltens
hätte man die „Lucia“ mit Adelina Patti geben sollen oder
gar nicht. Damit soll kein Tadel gegen Fräulein Heil
bron ausgesprochen sein, deren Lucia zwar nicht sonder
lich interessant oder erwärmend, aber durchaus respectabel
war. Eine schläfrige Oper bedarf eben eines ganz beson
deren Weckers, und Niemand ist verpflichtet, Patti zu sein.
Herr Strozzi, der den Lord Asthon sang, hat uns im
„Faust“ weit mehr befriedigt; für den biedern Valentin
eignet sich die weiche Stimme und das beschaulich gemüthliche
Naturell dieses Sängers besser als für den „unrechtmäßigen
Gutsbesitzer“, der in dieser schottischen Mondlandschaft den
einzigen rechtmäßigen Schlagschatten repräsentirt. Als Zierde
der Vorstellung haben wir bereits Herrn Capoul (Ed
gardo) genannt. Noch Eines: Wenn man eine larmoyante
Oper, wie „Lucia“, mit Balletmitteln aufputzen will, so muß
man einen Tanz von frischer, lebhafter Rhythmik, womöglich
nationalen Charakters, einlegen und nicht ein übermenschlich
langweiliges Pas de trois mit seriösen Beinschwenkungen
und einer vorsündfluthlichen Musik. Nach diesem getanzten
Meidinger erfüllte uns sogar das Wiedererscheinen von Lucia’s
„bestimmtem Bräutigam“ mit frohem Erlösungsgefühl.
Inzwischen standen die Concertsäle auch nicht leer.
Unser Wiener Männergesang-Verein gab ein
Concert, an welchem wir abermals mehr rühmen müssen,
wie als was man sang. Der mit Recht ob seiner vollende
ten Vortragskunst berühmte Verein excellirte auch diesmal
unter der Leitung seiner bewährten Chormeister Wein
wurm und Kremser, aber das Programm fand nur sehr
geringen Anklang. „Was ist zu thun,“ hörten wir die etwas
enttäuschten Sänger fragen, „wenn es überall an guten No
vitäten fehlt?“ Unter viele zweifelhafte Novitäten einen bis
zwei der allerdings sehr bekannten, aber doch niemals wir
kungslos verpuffenden Chöre von Schubert, Schumann,
Mendelssohn einflechten, das scheint uns das einzige
Rettungsmittel, wenn es eines gibt. Wenn von längstbekann
ten Sachen auch Lappalien wie Lachner’s „Lenzfragen“ oder
Rohheiten wie das unser geliebtes Deutsch verschändende
„Kriegslied“ von Rubinstein wieder aufgenommen werden, so
braucht man nicht so scheu vor dem „alten Repertoire“ zu
sein. Von den aufgeführten Novitäten fanden Beifall:
Doppler’s „Schifferständchen“ (von Doppler und
Krankenhagen meisterhaft mit Flöte und Fagott begleitet)
und Kremser’s „Lied vom Falken“, Beides sehr geschickt
gesetzte Chöre ohne hervorstechende Eigenthümlichkeit. Ueber
das neue Vocalquartett „Im Walde“ schweigen wir lieber
ganz. Am meisten gefiel eine Novität von Mozart, „Das
Traumbild“ (Text von Hölty), ein schlichtes, gemüthvolles
Strophenlied für Männerchor. Der Beisatz „zum erstenmale
öffentlich aufgeführt“ mußte Jedermann frappiren. Wir
wären dem Verein und Herrn Buchholz als Verleger
dieses „bisher ungedruckten“ Chors sehr dankbar für genaue
Darlegung der Provenienz dieses erst fünfundachtzig Jahre
nach Mozart’s Tod bekannt werdenden Chores, von dem weder
Jahn noch Köchel etwas wissen. Den Beweis der Echt
heit kann nur Mozart’s Autograph liefern, und wer ein so
entscheidendes Factum für sich anführt, dem fällt natürlich
auch die Last des Beweises zu. Von dem festen guten Glau
ben des Herausgebers vollkommen überzeugt, können wir doch
einige Bedenken nicht unterdrücken. Die Pflege des kunstmäßi
gen vierstimmigen Männergesangs ist bekanntlich eine Frucht
unseres Jahrhunderts. Sie entwickelte sich mit und in den
Liedertafeln, die Zelter in Berlin (1809), Nägeli in
Zürich (1810) gründeten. Größere Verbreitung und Po
pularität gewann der Männergesang erst durch die Freiheits
kriege, insbesondere mit C. M. Weber’s „Leier und Schwert“.
Für Mozart existirte der vierstimmige Männergesang noch
so gut wie gar nicht; in seinen sämmtlichen Opern findet
sich ein einziger kurzer Männerchor, „O Isis und Osiris“
(dreistimmig) in der „Zauberflöte“. Außerdem weiß man nur
von einigen wenigen Gelegenheitsstücken, welche Mozart für
seine Freimaurerloge schrieb, wo der Verzicht auf Frauen
stimmen sich von selbst dictirte. Also: nicht daß eine kleine
Composition Mozart’s erst jetzt entdeckt worden sei, sondern
daß es ein selbstständiger Männerchor ist, macht uns die
Sache fragwürdig. Wir fragen daher: Wer besitzt das Auto
graph? — Aus der Production des Männergesang-Vereins
ist noch das Mozart’sche Concert für Violine und Viola zu
erwähnen, dessen ersten Satz Frau N. Bauer und Fräu
lein Helene Lechner, ein anmuthiges Schwesterpaar aus
Hellmesberger’scher Schule, sehr beifällig vortrugen.
Zwei gut besuchte Clavierconcerte gaben Herr E. Lö
wenberg, der bereits über eine brillante Technik verfügt,
und Herr Bonawitz, tüchtiger Clavierspieler, Componist
und Orchester-Dirigent, an welchem Wien eine schätzbare
musikalische Kraft gewonnen hat. Eines der reichhaltigsten
und anziehendsten Concerte dieser Saison fand Sonntags im
großen Musikvereinssaale zum Vortheile des Pensions- und
Unterstützungsfonds des Conservatoriums statt. Diesen Wohl
thätigkeitszweck unterstützten zwei ausgezeichnete Gäste: Frau
Wilhelmine Wickenburg-Almasy, welche die Arie
„Parto!“ aus Mozart’s „Titus“ meisterhaft sang, und Herr
Camille Saint-Saëns aus Paris. Außerdem trug der
„Singverein“ unter Herbeck’s Leitung den 43. Psalm
von Mendelssohn vor, und zwar mit so großem Erfolge,
daß die Nummer wiederholt werden mußte. Saint-
Saëns spielte sein Es-dur-Concert (von Zöglingen des
Conservatoriums unter Hellmesberger’s Leitung treff
lich accompagnirt) mit außerordentlicher Bravour. Außerdem
producirte er sich als virtuoser Orgelspieler mit einer
„Rhapsodie über bretonische Volkslieder“ und dirigirte sein
symphonisches Gemälde „La danse macabre“ (Todtentanz).
Diese geistvolle Composition voll verwegen eigenthümlicher
Effecte elektrisirte das Publicum, welches sie stürmisch da
capo begehrte. Eine so hervorragende künstlerische Erscheinung
wie Camille Saint-Saëns möchten wir nicht mit eini
gen Worten abthun, und für mehr steht uns heute nicht
mehr der Raum zu Gebote. Wir ziehen es daher vor, die
eben genannten Compositionen von Saint-Saëns lieber im
Zusammenhange mit seinem nächsten Auftreten zu besprechen,
dem die Musikfreunde Wiens mit besonderem Interesse ent
gegensehen.