Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4217. Wien, Dienstag, den 23. Mai 1876 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4217. Wien, Dienstag, den 23. Mai 1876 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 23.05.1876
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Hofoperntheater.

Ed. H. Warum gerade Verdi’s „Ernani“ als erste Novität oder Halbnovität der wiedereröffneten deutschen Opernsaison gewählt wurde? Offenbar halb aus Verlegen heit, halb aus Bequemlichkeit. Liegt doch das Geheimniß von der Wirkung dieser Oper zum größten Theile in ihrer dank baren Bequemlichkeit für Sänger und Hörer, für Darstel lung und Auffassung. Ein tiefgefühltes oder auch nur leicht gefühltes Bedürfniß nach dieser seit dreißig Jahren hier von Deutschen und Italienern sattsam vorgeführten Oper wäre schwer zu behaupten. Was die Verlegenheit betrifft, so scheint der Noth an guten Opern-Novitäten heute allerdings von keiner Seite her Abhilfe zu winken. Aber eine gute deutsche Oper, welche nicht größere Schwierigkeit verursacht und nicht geringeren Erfolg verspricht, als Verdi’s „Ernani“, war doch wol zu finden. So oft wir für die Berechtigung und Er sprießlichkeit einer kurzen italienischen Saison im Hof operntheater eingetreten sind, geschah es stets mit der aus drücklichen Reserve, daß unser deutsches Repertoire dann ganz überwiegend deutschen und französischen Meistern gewahrt bleibe. In jener Stagione mögen Rossini, Bellini, Donizetti, Verdi, die ja zu vollständiger Wirkung italienische Worte und italienische Kehlen brauchen, nach Herzenslust sich aussingen; mit Beginn der deutschen Saison haben sie das Wort abzu treten. Darum können wir die Eile, mit der unmittelbar nach Abzug der Italiener Verdi’s „Ernanideutsch studirt und dem neuen Opernhause als erste Novität einverleibt wurde, nicht gutheißen. Verdi hat man hier zwei Monate lang vollauf gehört, und sehr gut gehört. Sollte es mit Ernani“ etwa auf eine Demonstration, auf offenen Wettkampf mit den Italienern auf deren eigenstem Boden abgesehen sein, so wäre diese Tendenz noch mißlicher als die Wahl selbst. Gewiß vermag heute keine zweite deutsche Bühne die Haupt

rollen im „Ernani“ so vorzüglich zu besetzen, wie das Hof operntheater; aber südlich Gluth und Lebendigkeit fehlen der Vorstellung doch ohne Frage. Am vollständigsten befriedigte Herr Müller in der Titelrolle. Seine glänzenden Stimm- Mittel, erwärmt durch den Hauch des Gemüthes und veredelt durch unablässig fortgesetztes Studium, stellen Müller zur Stunde in die erste Reihe der deutschen Tenoristen. Vor Allem Sänger und mehr musikalische als dramatische Natur, findet Müller im bel canto der italienischen Oper die gün stigste Entfaltung für sein Talent. In diesen Tenorpartien, welche allen Reiz verlieren, wenn sie mühsam und angestrengt herausgepreßt werden, lauschen wir mit besonderem Behagen der leicht, frei und kräftig anschlagenden Höhe von Müller’s Bruststimme. Sein Ernani kann überall auf sicheren Erfolg zählen, am meisten in allen zärtlichen, lyrischen Momenten, wie in dem Andante der ersten Arie. Da vergaß man gerne, daß ein Räuberhauptmann, sei es auch ein gründlich ver liebter, so gar schmachtend kaum singen dürfe. Von Herrn v. Bignio war ein König Karl zu erwarten, der vornehme Haltung mit maßvoller, warmer Empfindung vereinigt; der Sänger erntete reichen Beifall, wenngleich für manche Kraftstellen sein in der Höhe etwas angegriffenes Organ nicht ganz ausreichen wollte. Frau Wilt erscheint durch ihre imposante Stimme und kühne Bravour wie geschaffen für die Elvira. Sie entfesselte einen Sturm von Beifall nach ihrer ersten Arie. Gleichwol konnten wir gerade gegen diese Leistung manches Bedenken nicht unterdrücken. Sie war ein kaltes, maßlos ausschweifendes Kunststück, und wenn eine Leidenschaft daraus sprach, so ist es nicht Liebe für Ernani, sondern Eifersucht gegen die Patti. Frau Wilt wollte nicht auf ihrem eigensten, vollendet be herrschten Kunstgebiete glänzen, sondern durch Specialitäten, in welchen die Patti durch ihre individuellsten Naturgaben unübertroffen und unerreicht dasteht. Adelina Patti hat die schwindelndsten Passagen dieser Arie mit einer spielenden Leichtigkeit und einer in den Grenzen reinster Schönheit wal tenden Anmuth gesungen, welche nun einmal der Wilt ver sagt sind. Die Bravour der Patti hat dieses Effectstück

idealisirt, die Bravour der Wilt materialisirt es. Die hohen Staccatos der Patti waren springende Perlen, die der Wilt glichen geschleuderten Spitzkugeln. Frau Wilt ließ sich sogar zu der Geschmacklosigkeit verleiten, eine zum Grund ton herableitende Passage, welche nur ligato gedacht werden kann, zu stakkiren. Die Gewalt, mit der sie wiederholt in die dreigestrichene Octave einbrach, konnte man als Kraftprobe bewundern, aber unmöglich schön finden. Wir preisen die außerordentliche Kraft und Höhe von Frau Wilt’s Stimme; überspannt sie aber diese Kraft und diese Höhe gewalt sam bis zu einem Punkt, der sie vom Singen zum Schreien hinüberzwingt, dann fühlen wir uns musikalisch verletzt und unsere bishin bewundernde Theil nahme erkaltet. Im Verlaufe der Oper erschien uns Frau Wilt’s Vortrag viel künstlerischer, namentlich in den Ensembles des zweiten und dritten Actes; dramatisch erhob sie sich leider keinen Moment über die gewöhnlichste Schablone. Minder reich bedacht, aber von einschneidender Wichtigkeit für die Oper ist Don Gomez de Silva, der stets das ganze Pfauenrad der romantischen Feudaltugenden schlägt, um schließlich den armen Ernani mit einem bequemen Horn signal recht schuftig in den Tod zu blasen. Rokitansky wäre der rechte Bassist, als Silva das Quartett mit Müller, Bignio und der Wilt zu vervollständigen. Herr Mayer hofer sang die Partie sehr anständig, doch ohne Wirkung. Stimme und Vortragsweise dieses feingebildeten Charakter spielers eignen sich wenig für den auf sinnlichen Wohlklang angewiesenen breiten Fluß der italienischen Cantilene.

Eine zeitweilige Aushilfe wird die deutsche „Ernani“- Vorstellung dem Hofoperntheater voraussichtlich leisten. An effectvollen Nummern, an packenden Rhythmen und Melodien, selbst an Blitzen eines ungewöhnlichen dramatischen Talentes fehlt es nicht in dieser Oper, die obendrein in der modernen Theater-Geschichte eine sehr markirte Stellung einnimmt. Ernani“ hat zuerst den Ruf Verdi’s über die Grenzen Italiens verbreitet und allenthalben fest begründet. Die beiden früheren Opernerfolge dieses Componisten („Na

bucco1842, „I Lombardi1843) wurden außerhalb Italiens ignorirt; „Ernani“ selbst fand in Deutschland an fangs nur höhnische Mißbilligung. Verdi’sErnani“ er hält sich jetzt seit dreißig Jahren auf allen größeren Opern bühnen der Welt, während Victor Hugo’s gleichnamiges Trauerspiel, welchem der Operntext getreu nachfolgt, längst zur literar-historischen Curiosität geworden ist. Ein Beweis stück mehr dafür, daß die unmittelbare Macht des Compo nisten eine viel größere ist, als die des Dichters. Victor Hugo’s Trauerspiel, mit all seiner revolutionären Genialität hart an die Caricatur streifend, steckt so voll opernhafter Züge, daß es die Musik fast magnetisch heranzieht. Verdi ist nicht der Erste, der dies erfuhr. In einem Briefe von Bel lini findet sich die interessante Mittheilung, er habe (vor der „Sonnambula“) eine Oper „Ernani“ componirt. Diese Oper — so erzählt Bellini — sei verboten und deßhalb nie aufgeführt worden, habe ihm jedoch melodiöses Material für die „Nachtwandlerin“ geliefert. Das Verbot galt schwerlich dem Inhalte des Librettos; denn so mild ausgangslose Ver schwörungen, wie jene Ernani’s im Dom zu Aachen, mußten selbst auf italienischen Bühnen für ungefährlich gelten. Ohne Zweifel hatte Victor Hugo selbst im Interesse seiner Autor rechte das Verbot erwirkt, wie er später die Aufführung von Donizetti’s „Lucrezia Borgia“, von Verdi’s „Rigoletto“ etc. als unbefugte Bearbeitungen seiner Dramen zu verhindern wußte. Interessant genug wäre ein von Bellini compo nirter „Ernani“; die Kluft zwischen seinem Styl und jenem Verdi’s, eine Kluft, die gerade in Verdi’s „Ernani“ zum ersten male ganz entschieden und überraschend zu Tage kam, müßte durch diese Vergleichung bis in die feinste Ritze klar werden. Ein „Er nani“, dessen Melodien für die schüchterne Amina und ihre idyllische Umgebung benützt werden konnten — auch nicht übel! Das zum mindesten läßt der Verdi’sche Räuberhauptmann sich nicht nachsagen. Hat doch gerade er mit kecken Ungestüm die rothe Fahne gegenüber den Vergißmeinnichtbeeten Bel lini’s aufgesteckt. Schon Donizetti ging an Schärfe der Zeichnung und Lebhaftigkeit des Colorits sehr entschieden über

Bellini hinaus. Völlig verdrängt erscheint Letzterer aber erst durch Verdi, welcher durch seinen starken Alkohol den Ge schmack an Bellini’s schwachen, aromatischen Thee gründlich verdorben hat. Bellini’s Opern begannen seit Verdi’s Auf treten allmälig zu verschwinden und gehören heute, trotz ihrer für den Sänger so dankbaren Partien, fast zu den Seltenheiten. Es ist eine merkwürdige Thatsache und unseres Erinnern der erste Fall, daß eine zweimonatliche italienische Saison im Hofoperntheater keine einzige Oper von Bel lini brachte! Noch in den letzten Gastspielen der Patti im Theater an der Wien kamen von Bellini die „Puritaner“ und Sonnambula“ an die Reihe — beide mit einem Erfolg unverholener Langweile. Niemand wird sich nach dem ein schläfernden Zuckerwasser dieser Partituren zurücksehnen, so wenig wie nach der „Straniera“ oder dem „Piraten“. Ein Anderes ist es mit „Norma“, dem weit hinausragenden Höhenpunkte von Bellini’s Schaffen. Sie sollte unvergessen bleiben und ihren sicheren Platz finden überall, wo tüchtige italienische Sänger zusammenwirken. Es spricht für den edle ren künstlerischen Gehalt der „Norma“, daß gerade sie allein von allen Bellini’schen Opern noch auf den deutschen Büh nen fortlebt.

Die deutsche Vorstellung des „Ernani“ im Hofopern theater, von Herrn Capellmeister Gericke dirigirt, verdient in Bezug auf musikalische Präcision, auf Scenirung und Ausstattung alles Lob. Der Chor griff im zweiten und dritten Acte energisch ein, und zwar, wie uns schien, in deutscher Sprache. Wir freuen uns dieses Glaubens im Interesse der Spracheneinheit der Vorstellung. In den italienischen Auf führungen übte jedesmal das unerwartete deutsche Drein singen des Chors eine komische Wirkung. Seltsam genug: wenn der Chor in deutschen Opern deutsch singt, so erräth man regelmäßig nichts vom Text; er braucht aber nur mitten unter Italienern seinen deutschen Mund zu öffnen, „Ja, wir Zigeuner!“ oder dergleichen, und man versteht, ohne zu wollen und zu wünschen, jedes Wort! Als unerwünschter Nachklang der italienischen Saison machte sich im „Ernani

die Unsitte des Hervorrufes bei offener Scene häufiger als zuvor geltend. Es gehört zum Charakter der italienischen Operngesellschaften, daß sie, als Gegenbild zu ihren großen musikalischen Vorzügen, die naivste Nichtachtung des Dra matischen an den Tag legen. Bei den Künstlern der letzten Wiener Stagione äußerte sich dieser Zug zunächst im Ver schmähen jeder charakteristischen Maske, sodann in dem lustigen Zerreißen des dramatischen Zusammenhanges durch Hervorruf bei offener Scene und Wiederholung einzelner applaudirter Musikstücke. Es sind uns namentlich zwei Scenen unvergeßlich wie sie in tragischen Situationen nicht komischer gedacht werden können. Zunächst das Miserere im „Trovatore“, während dessen Leonore an dem verschlossenen Thurm rüttelt, in welchem, unsichtbar, der gefangene Manrico seine Romanze mitsingt. Stürmischer Applaus, Leonore knixt dankend nach allen Seiten, aber auch Manrico kommt ungenirt aus seinem Kerker heraus, verbeugt sich, Leonore bei der Hand fassend, vielemale und kehrt dann — quasi re bene gesta — wieder in den Thurm zurück, an dessen Thüren nun Leonore (welche das Stück repetiren muß) von neuem so trostlos rüttelt, als hätte sie den theuren Tenor wochenlang nicht gesehen. Eine zweite komische Episode spielte sich zwar nicht so aus führlich, aber desto überwältigender im vierten Act der Afrikanerin“ ab. Capoul besingt als Vasco de Gama die Reize der tropischen Landschaft in einer Arie, bei deren Schlußnote er sich bereits von den keulenschwingenden In dianern bedroht sieht. Ein unbegreifliches Versehen von Meyerbeer, der sonst keinen Sänger zugleich um Leben und Beifall bringt. Capoul wird nach seiner Arie anhaltend applaudirt und macht lächelnd ein Dutzend dankende Ver beugungen, während die halbnackten Unholde die erhobenen Keulen geduldig grinsend über seinem Kopf halten. Wir sind neugierig, ob diese beiden gar nicht kostspieligen und doch außerordentlich unterhaltenden Zwischenspiele auch in den deutschen Aufführungen der „Afrikanerin“ und des „Trou badour“ vorkommen werden.