Hofoperntheater.
Ed. H. Warum gerade Verdi’s „Ernani“ als erste
Novität oder Halbnovität der wiedereröffneten deutschen
Opernsaison gewählt wurde? Offenbar halb aus Verlegen
heit, halb aus Bequemlichkeit. Liegt doch das Geheimniß von
der Wirkung dieser Oper zum größten Theile in ihrer dank
baren Bequemlichkeit für Sänger und Hörer, für Darstel
lung und Auffassung. Ein tiefgefühltes oder auch nur leicht
gefühltes Bedürfniß nach dieser seit dreißig Jahren hier von
Deutschen und Italienern sattsam vorgeführten Oper wäre
schwer zu behaupten. Was die Verlegenheit betrifft, so scheint
der Noth an guten Opern-Novitäten heute allerdings von
keiner Seite her Abhilfe zu winken. Aber eine gute deutsche
Oper, welche nicht größere Schwierigkeit verursacht und nicht
geringeren Erfolg verspricht, als Verdi’s „Ernani“, war doch
wol zu finden. So oft wir für die Berechtigung und Er
sprießlichkeit einer kurzen italienischen Saison im Hof
operntheater eingetreten sind, geschah es stets mit der aus
drücklichen Reserve, daß unser deutsches Repertoire dann ganz
überwiegend deutschen und französischen Meistern gewahrt
bleibe. In jener Stagione mögen Rossini, Bellini, Donizetti,
Verdi, die ja zu vollständiger Wirkung italienische Worte und
italienische Kehlen brauchen, nach Herzenslust sich aussingen;
mit Beginn der deutschen Saison haben sie das Wort abzu
treten. Darum können wir die Eile, mit der unmittelbar
nach Abzug der Italiener Verdi’s „Ernani“ deutsch studirt
und dem neuen Opernhause als erste Novität einverleibt
wurde, nicht gutheißen. Verdi hat man hier zwei Monate
lang vollauf gehört, und sehr gut gehört. Sollte es mit
„Ernani“ etwa auf eine Demonstration, auf offenen Wettkampf
mit den Italienern auf deren eigenstem Boden abgesehen sein,
so wäre diese Tendenz noch mißlicher als die Wahl selbst.
Gewiß vermag heute keine zweite deutsche Bühne die Haupt
rollen im „Ernani“ so vorzüglich zu besetzen, wie das Hof
operntheater; aber südlich Gluth und Lebendigkeit fehlen der
Vorstellung doch ohne Frage. Am vollständigsten befriedigte
Herr Müller in der Titelrolle. Seine glänzenden Stimm-
Mittel, erwärmt durch den Hauch des Gemüthes und veredelt
durch unablässig fortgesetztes Studium, stellen Müller zur
Stunde in die erste Reihe der deutschen Tenoristen. Vor
Allem Sänger und mehr musikalische als dramatische Natur,
findet Müller im bel canto der italienischen Oper die gün
stigste Entfaltung für sein Talent. In diesen Tenorpartien,
welche allen Reiz verlieren, wenn sie mühsam und angestrengt
herausgepreßt werden, lauschen wir mit besonderem Behagen
der leicht, frei und kräftig anschlagenden Höhe von Müller’s
Bruststimme. Sein Ernani kann überall auf sicheren Erfolg
zählen, am meisten in allen zärtlichen, lyrischen Momenten,
wie in dem Andante der ersten Arie. Da vergaß man gerne,
daß ein Räuberhauptmann, sei es auch ein gründlich ver
liebter, so gar schmachtend kaum singen dürfe. Von Herrn
v. Bignio war ein König Karl zu erwarten, der vornehme
Haltung mit maßvoller, warmer Empfindung vereinigt; der
Sänger erntete reichen Beifall, wenngleich für manche Kraftstellen
sein in der Höhe etwas angegriffenes Organ nicht ganz ausreichen
wollte. Frau Wilt erscheint durch ihre imposante Stimme und
kühne Bravour wie geschaffen für die Elvira. Sie entfesselte einen
Sturm von Beifall nach ihrer ersten Arie. Gleichwol konnten
wir gerade gegen diese Leistung manches Bedenken nicht
unterdrücken. Sie war ein kaltes, maßlos ausschweifendes
Kunststück, und wenn eine Leidenschaft daraus sprach, so ist
es nicht Liebe für Ernani, sondern Eifersucht gegen die Patti.
Frau Wilt wollte nicht auf ihrem eigensten, vollendet be
herrschten Kunstgebiete glänzen, sondern durch Specialitäten,
in welchen die Patti durch ihre individuellsten Naturgaben
unübertroffen und unerreicht dasteht. Adelina Patti hat die
schwindelndsten Passagen dieser Arie mit einer spielenden
Leichtigkeit und einer in den Grenzen reinster Schönheit wal
tenden Anmuth gesungen, welche nun einmal der Wilt ver
sagt sind. Die Bravour der Patti hat dieses Effectstück
idealisirt, die Bravour der Wilt materialisirt es. Die hohen
Staccatos der Patti waren springende Perlen, die der
Wilt glichen geschleuderten Spitzkugeln. Frau Wilt ließ
sich sogar zu der Geschmacklosigkeit verleiten, eine zum Grund
ton herableitende Passage, welche nur ligato gedacht werden
kann, zu stakkiren. Die Gewalt, mit der sie wiederholt in die
dreigestrichene Octave einbrach, konnte man als Kraftprobe
bewundern, aber unmöglich schön finden. Wir preisen die
außerordentliche Kraft und Höhe von Frau Wilt’s Stimme;
überspannt sie aber diese Kraft und diese Höhe gewalt
sam bis zu einem Punkt, der sie vom Singen
zum Schreien hinüberzwingt, dann fühlen wir uns
musikalisch verletzt und unsere bishin bewundernde Theil
nahme erkaltet. Im Verlaufe der Oper erschien uns
Frau Wilt’s Vortrag viel künstlerischer, namentlich in den
Ensembles des zweiten und dritten Actes; dramatisch erhob
sie sich leider keinen Moment über die gewöhnlichste Schablone.
Minder reich bedacht, aber von einschneidender Wichtigkeit für
die Oper ist Don Gomez de Silva, der stets das ganze
Pfauenrad der romantischen Feudaltugenden schlägt, um
schließlich den armen Ernani mit einem bequemen Horn
signal recht schuftig in den Tod zu blasen. Rokitansky
wäre der rechte Bassist, als Silva das Quartett mit Müller,
Bignio und der Wilt zu vervollständigen. Herr Mayer
hofer sang die Partie sehr anständig, doch ohne Wirkung.
Stimme und Vortragsweise dieses feingebildeten Charakter
spielers eignen sich wenig für den auf sinnlichen Wohlklang
angewiesenen breiten Fluß der italienischen Cantilene.
Eine zeitweilige Aushilfe wird die deutsche „Ernani“-
Vorstellung dem Hofoperntheater voraussichtlich leisten. An
effectvollen Nummern, an packenden Rhythmen und Melodien,
selbst an Blitzen eines ungewöhnlichen dramatischen Talentes
fehlt es nicht in dieser Oper, die obendrein in der modernen
Theater-Geschichte eine sehr markirte Stellung einnimmt.
„Ernani“ hat zuerst den Ruf Verdi’s über die Grenzen
Italiens verbreitet und allenthalben fest begründet. Die
beiden früheren Opernerfolge dieses Componisten („Na
bucco“ 1842, „I Lombardi“ 1843) wurden außerhalb
Italiens ignorirt; „Ernani“ selbst fand in Deutschland an
fangs nur höhnische Mißbilligung. Verdi’s „Ernani“ er
hält sich jetzt seit dreißig Jahren auf allen größeren Opern
bühnen der Welt, während Victor Hugo’s gleichnamiges
Trauerspiel, welchem der Operntext getreu nachfolgt, längst
zur literar-historischen Curiosität geworden ist. Ein Beweis
stück mehr dafür, daß die unmittelbare Macht des Compo
nisten eine viel größere ist, als die des Dichters. Victor
Hugo’s Trauerspiel, mit all seiner revolutionären Genialität
hart an die Caricatur streifend, steckt so voll opernhafter
Züge, daß es die Musik fast magnetisch heranzieht. Verdi ist
nicht der Erste, der dies erfuhr. In einem Briefe von Bel
lini findet sich die interessante Mittheilung, er habe (vor
der „Sonnambula“) eine Oper „Ernani“ componirt. Diese
Oper — so erzählt Bellini — sei verboten und deßhalb nie
aufgeführt worden, habe ihm jedoch melodiöses Material für
die „Nachtwandlerin“ geliefert. Das Verbot galt schwerlich
dem Inhalte des Librettos; denn so mild ausgangslose Ver
schwörungen, wie jene Ernani’s im Dom zu Aachen, mußten
selbst auf italienischen Bühnen für ungefährlich gelten. Ohne
Zweifel hatte Victor Hugo selbst im Interesse seiner Autor
rechte das Verbot erwirkt, wie er später die Aufführung von
Donizetti’s „Lucrezia Borgia“, von Verdi’s „Rigoletto“ etc.
als unbefugte Bearbeitungen seiner Dramen zu verhindern
wußte. Interessant genug wäre ein von Bellini compo
nirter „Ernani“; die Kluft zwischen seinem Styl und jenem
Verdi’s, eine Kluft, die gerade in Verdi’s „Ernani“ zum ersten
male ganz entschieden und überraschend zu Tage kam, müßte durch
diese Vergleichung bis in die feinste Ritze klar werden. Ein „Er
nani“, dessen Melodien für die schüchterne Amina und ihre idyllische
Umgebung benützt werden konnten — auch nicht übel! Das
zum mindesten läßt der Verdi’sche Räuberhauptmann sich
nicht nachsagen. Hat doch gerade er mit kecken Ungestüm
die rothe Fahne gegenüber den Vergißmeinnichtbeeten Bel
lini’s aufgesteckt. Schon Donizetti ging an Schärfe der
Zeichnung und Lebhaftigkeit des Colorits sehr entschieden über
Bellini hinaus. Völlig verdrängt erscheint Letzterer aber erst
durch Verdi, welcher durch seinen starken Alkohol den Ge
schmack an Bellini’s schwachen, aromatischen Thee gründlich
verdorben hat. Bellini’s Opern begannen seit Verdi’s Auf
treten allmälig zu verschwinden und gehören heute, trotz
ihrer für den Sänger so dankbaren Partien, fast zu den
Seltenheiten. Es ist eine merkwürdige Thatsache und unseres
Erinnern der erste Fall, daß eine zweimonatliche italienische
Saison im Hofoperntheater keine einzige Oper von Bel
lini brachte! Noch in den letzten Gastspielen der Patti im
Theater an der Wien kamen von Bellini die „Puritaner“ und
„Sonnambula“ an die Reihe — beide mit einem Erfolg
unverholener Langweile. Niemand wird sich nach dem ein
schläfernden Zuckerwasser dieser Partituren zurücksehnen, so
wenig wie nach der „Straniera“ oder dem „Piraten“. Ein
Anderes ist es mit „Norma“, dem weit hinausragenden
Höhenpunkte von Bellini’s Schaffen. Sie sollte unvergessen
bleiben und ihren sicheren Platz finden überall, wo tüchtige
italienische Sänger zusammenwirken. Es spricht für den edle
ren künstlerischen Gehalt der „Norma“, daß gerade sie allein
von allen Bellini’schen Opern noch auf den deutschen Büh
nen fortlebt.
Die deutsche Vorstellung des „Ernani“ im Hofopern
theater, von Herrn Capellmeister Gericke dirigirt, verdient
in Bezug auf musikalische Präcision, auf Scenirung und
Ausstattung alles Lob. Der Chor griff im zweiten und dritten
Acte energisch ein, und zwar, wie uns schien, in deutscher
Sprache. Wir freuen uns dieses Glaubens im Interesse der
Spracheneinheit der Vorstellung. In den italienischen Auf
führungen übte jedesmal das unerwartete deutsche Drein
singen des Chors eine komische Wirkung. Seltsam genug:
wenn der Chor in deutschen Opern deutsch singt, so erräth
man regelmäßig nichts vom Text; er braucht aber nur mitten
unter Italienern seinen deutschen Mund zu öffnen, „Ja,
wir Zigeuner!“ oder dergleichen, und man versteht, ohne zu
wollen und zu wünschen, jedes Wort! Als unerwünschter
Nachklang der italienischen Saison machte sich im „Ernani“
die Unsitte des Hervorrufes bei offener Scene häufiger als
zuvor geltend. Es gehört zum Charakter der italienischen
Operngesellschaften, daß sie, als Gegenbild zu ihren großen
musikalischen Vorzügen, die naivste Nichtachtung des Dra
matischen an den Tag legen. Bei den Künstlern der letzten
Wiener Stagione äußerte sich dieser Zug zunächst im Ver
schmähen jeder charakteristischen Maske, sodann in dem lustigen
Zerreißen des dramatischen Zusammenhanges durch Hervorruf
bei offener Scene und Wiederholung einzelner applaudirter
Musikstücke. Es sind uns namentlich zwei Scenen unvergeßlich
wie sie in tragischen Situationen nicht komischer gedacht
werden können. Zunächst das Miserere im „Trovatore“,
während dessen Leonore an dem verschlossenen Thurm rüttelt,
in welchem, unsichtbar, der gefangene Manrico seine Romanze
mitsingt. Stürmischer Applaus, Leonore knixt dankend nach
allen Seiten, aber auch Manrico kommt ungenirt aus seinem
Kerker heraus, verbeugt sich, Leonore bei der Hand fassend,
vielemale und kehrt dann — quasi re bene gesta — wieder
in den Thurm zurück, an dessen Thüren nun Leonore (welche
das Stück repetiren muß) von neuem so trostlos rüttelt,
als hätte sie den theuren Tenor wochenlang nicht gesehen.
Eine zweite komische Episode spielte sich zwar nicht so aus
führlich, aber desto überwältigender im vierten Act der
„Afrikanerin“ ab. Capoul besingt als Vasco de Gama
die Reize der tropischen Landschaft in einer Arie, bei deren
Schlußnote er sich bereits von den keulenschwingenden In
dianern bedroht sieht. Ein unbegreifliches Versehen von
Meyerbeer, der sonst keinen Sänger zugleich um Leben und
Beifall bringt. Capoul wird nach seiner Arie anhaltend
applaudirt und macht lächelnd ein Dutzend dankende Ver
beugungen, während die halbnackten Unholde die erhobenen
Keulen geduldig grinsend über seinem Kopf halten. Wir sind
neugierig, ob diese beiden gar nicht kostspieligen und doch
außerordentlich unterhaltenden Zwischenspiele auch in den
deutschen Aufführungen der „Afrikanerin“ und des „Trou
badour“ vorkommen werden.