R.
Wagner’s
Bühnenfestspiel in
Bayreuth.
1. Die Dichtung.
Ed. H. Der August dieses Jahres wird kurzweg der
Wagner-Monat heißen dürfen. Was jetzt schon an vorberei
tenden Broschüren, Büchern, Zeitungsartikeln über Wagner’s
„Nibelungenring“ erschienen ist, bildet eine kleine Bibliothek,
welche nach der Aufführung vollends zu einer großen an
schwellen dürfte. Manchen Lesern wird das zu viel sein,
anderen noch zu wenig. Unbestreitbar bleibt, daß wir vor
einem in seiner Anlage und seinen Dimensionen großartigen
und ganz ungewöhnlichen theatralischen Ereignisse stehen. Ja
mehr noch: ein culturgeschichtlich merkwürdiges Ereigniß ist
dieses durch vier Abende spielende Musikdrama, die Erbauung
eines eigenen Theaters dafür und der tausendköpfige Wan
derzug aus halb Europa nach einem abgelegenen, halbver
schollenen Städtchen, dessen Name nunmehr unvertilgbar in
der Kunstgeschichte festsitzt. Mag das Werk selbst die Erwar
tungen der Bayreuth-Pilger mehr oder minder erfüllen, in
Einem werden sie Alle zusammentreffen, in der Bewunderung
der außerordentlichen Begabung, Energie, Arbeits- und Agita
tionskraft des Mannes, welcher jenes Ereigniß selbstständig
ins Leben gerufen und durchgeführt hat.
„Der Ring des Nibelungen“ ist die Arbeit
von fast fünfundzwanzig Jahren, eine Arbeit, zu welcher
Wagner nach jeder Unterbrechung („Tristan“, „Meister
singer“) mit verdoppelter Liebe zurückkehrte. Zuerst trieb ihn
der patriotische Enthusiasmus des Jahres 1848, den Kaiser
Barbarossa aus dem Kyffhäuser zu erwecken; die Studien,
die Wagner behufs der dramatischen Bearbeitung dieser Sage
unternahm, führten ihn immer tiefer in die deutsche Sagen
welt. Da fesselte ihn die Heldengestalt des jugendlichen
Drachentödters Siegfried so mächtig, daß der alte Rothbart
weichen mußte. Noch im Jahre 1848 skizzirte Wagner den
Entwurf eines Nibelungen-Dramas, und bald darauf ging
er an die Ausarbeitung von „Siegfried’s Tod“. Der Erfolg
des „Lohengrin“ in Weimar belebt Wagner’s Muth und
Arbeitslust, er versenkt sich neuerdings in die Nibelungen-
Sage. Im Jahre 1853 vollendet er die aus vier selbst
ständigen Dramen bestehende Dichtung: „Der Ring des
Nibelungen“ und beginnt noch im selben Jahre die musika
lische Composition derselben. Zweiundzwanzig Jahre später,
im Sommer 1875, leitet er die ersten Proben in Bayreuth.
Von dort werden wir allernächstens über das Werk selbst
unter dem unmittelbaren Eindrucke seiner Aufführung be
richten; vorher dürfte unseren Lesern eine orientirende Vor
bemerkung über die Dichtung, abgesehen von der Musik,
nicht unwillkommen sein.
Wer hierüber ausführlichere Belehrung wünscht, der findet
sie reichlich in den Broschüren von Otto Gumprecht, Ernst Koch,
Gustav Dullo, u. A.
Also der poetische Stoff R. Wagner’s ist die Ni
belungen-Sage. Das ist schneller gesagt, als verstanden.
Denn diese Sage oder dieser Sagenkreis hat in verschiedenen,
weit auseinanderliegenden Zeiten und Ländern verschiedene
Gestalt angenommen und liegt in sehr abweichenden Fassungen
vor. Es ist genugsam beklagt und uns bis zur Ungerechtig
keit vorgeworfen worden, daß den Deutschen die römische und
griechische Mythologie geläufiger ist, als die altgermanische.
Die rühmlichen Anstrengungen von Sprachgelehrten, Historikern
und Dichtern in den letzten Decennien konnten dem nur all
mälig und theilweise abhelfen. Das größere Publicum ist
indessen mit der Nibelungen-Sage namentlich durch drei Schau
spiele vertrauter geworden: durch Raupach’s „Nibelungen
hort“, Geibel’s „Brunhilde“ und Hebbel’s „Nibelungen“.
Wer in Wagner’s „Bühnenfestspiel“ dieselbe Handlung
voraussetzt, verfällt bereits in den ersten Irrthum. Schon
die Bezeichnung „Nibelungen“ bedeutet bei ihm etwas An
deres. In dem deutschen Heldengedicht heißen „Nibelungen“
sowol die Zwerge (Niflungen), als auch die Burgunden, und
nur Letztere sind gemeint, wenn von „Nibelungenlied“, von
„Nibelungennoth“, von „der Nibelungen Rache“ gesprochen
wird. In diesem Sinne brauchen unsere modernen Dichter
das Wort. Wagner hingegen beschränkt es auf das Ge
schlecht der Zwerge, das in Nibelheim in den Klüften der
Erde wohnt. Seine Dichtung kennt keine „Burgunden“,
sie hat überhaupt alles Historische getilgt und behandelt alle
Vorgänge als sagenhaft, märchenhaft, zeitlos. Nichts läßt
bei Wagner auf das Eindringen des Christenthums schließen,
welches unser mittelalterliches Epos wie eine neue Erdschichte
durchdringt und in Hebbel’sTragödie so genial be
nützt ist. Fast sind es nur einige Namen, die wir bei
Wagner wiederfinden, und selbst diese nicht gleich
mäßig; Chriemhild zum Beispiel heißt bei ihm, nach
der nordischen Ueberlieferung, Gutrune. Sie, Gunther und
Hagen treten erst im vierten Drama auf, fast als Neben
personen. Während unsere modernen Dramatiker aus dem
deutschen Epos das Reinmenschliche, für alle Zeiten Giltige
und Ergreifende herausgearbeitet haben, die treue Liebe
Siegfried’s zu seiner Gattin Chriemhild, die starre Vasallen
treue Hagen’s, schließlich die Rache Chriemhild’s, sehen wir bei
Wagner die Menschen und alles Menschliche absichtlich zurück
gedrängt und Götter, Riesen, Zwerge als handelnde Per
sonen in den Vordergrund gestellt. Brunhilde erscheint
nicht als die vielumworbene Königin von Isenland, sondern
als übermenschliche Walküre, als Lieblingstochter des Gottes
Wotan; Chriemhild (Gutrune) tritt nicht als Rächerin
auf, Hagen nicht als uneigennützig treuer Lehensmann.
Ueberall hält sich Wagner an die ältere, härtere, uns fern
stehende und befremdende Erzählung der „Edda“; in den
drei ersten Dramen („Rheingold“, „Walküre“, „Siegfried“)
fällt die volle Beleuchtung auf die über- und unterweltlichen
Wesen, die personificirten Naturmächte. Wenn wir später
auf die Musik zu sprechen kommen, werden wir sehen, daß
diese Auffassung der glänzendsten musikalischen Specialität
Wagner’s, der Schilderung des Wunderbaren durch die
sublimirteste Tonmalerei, zu statten kommt — allerdings zum
Schaden des Dramas, in welchem wir Menschen in
menschlichen Verhältnissen sehen wollen, Freud und Leid mit
ihnen theilend. Erst am vierten Abend begegnen wir den
uns vertrauten menschlichen Gestalten aus dem deutschen
Nibelungenlied, aber es ist höchst bezeichnend, daß Wagner
dieses von ihm ursprünglich „Siegfried’s Tod“ betitelte
Drama jetzt „Götterdämmerung“ nennt, also auch hier von
vornherein das volle Gewicht nicht auf das Schicksal der
handelnden Menschen, sondern auf jenes der Götter legt.
Will man die Grundidee des ganzen Wagner’schen
Cyklus in Ein Wort zusammenfassen, so ist daß der Fluch
des Goldes, welcher den danach jagenden Göttern und Men
schen den Untergang bereitet. Sehen wir, alles Nebensächliche
vorerst beiseite lassend, wie diese Idee in der zusammenhän
genden Handlung der vier Dramen sich verkörpert. Das erste
Drama oder Vorspiel: „Rheingold“, enthält die Vor
geschichte und bringt keine Menschen, sondern nur Götter,
Riesen und Zwerge auf die Bühne. Wie uns Gott Wotan
in seinem späteren Gespräch mit dem Zwerg Mime selbst be
lehrt, sind dies die drei Geschlechter, welche um den Besitz
der Welt streiten; jedes derselben — die hoch in der goldenen
Walhalla thronenden Götter, die wilden, auf hohen Felsen
wohnenden Riesen, die im Innern der Erde emsig grabenden
und schmiedenden Zwerge — trachtet durch Gewalt oder List sich
die beiden anderen zu unterwerfen. Die erste Scene des Vor
spiels geht in der Tiefe des Rheins vor sich. Die Rhein
töchter umkreisen den von ihnen bewachten Schatz, das „Rhein
gold“; der häßliche Zwerg Alberich, der ihnen in lüsterner
Verliebtheit nachstellt, erblickt das Rheingold, reißt es ge
waltsam aus dem Riff und verschwindet damit. Die Rhein
töchter haben dem Gott Loge (dem diplomatischen Mephisto
des nordischen Götterhofstaates) ihre Noth geklagt und um
Wotan’s Schutz gebeten. Wotan, der Allvater, beschließt,
Alberich das Gold abzunehmen — um es für sich selbst zu
behalten. Er läßt sich mit Loge in die Höhle Alberich’s hinab,
bindet diesen und bemächtigt sich des kostbaren Geschmeides.
Aber die beiden Riesen Fafner und Fasolt verlangen
drohend das Gold, als Lösegeld für die von ihnen geraubte
Göttin Freia. Sie erhalten es schließlich, gerathen aber wegen
des Ringes, welcher „zur höchsten Macht verhilft“, in Streit
mit einander; Fafner erschlägt den Fasolt und zieht mit dem
Ring davon. Die Götter schreiten über einen Regenbogen
in ihre glänzende Burg.
Wagner bezeichnet das „Rheingold“ als Vorspiel,
das eigentliche Drama beginnt somit erst am zweiten Abend
mit der „Walküre“. Siegfried, der Held des Ganzen, er
scheint hier noch nicht; das Drama „Walküre“ entwickelt
erst die Geschichte des Wälsungengeschlechts vor
Siegfried’s Geburt. Wälse, der Stammvater dieses Ge
schlechts, ist nach Wagner’s Darstellung Niemand anders
als Gott Wotan selbst; das Geschwisterpaar Siegmund
und Sieglinde sind die „Wälsungen“, die gleich zu An
fang dieses Dramas, einander nicht kennend, auftreten. Sieg
mund, auf der Flucht, geräth in die Wohnung Hunding’s,
dessen junge, schöne Gattin Sieglinde den Fremdling labt.
Die Beiden erglühen in Liebe für einander und thun dieser
Gluth keineswegs Einhalt, nachdem sie sich als Bruder und
Schwester erkannt haben. Sieglinde betäubt ihren Gatten
mit einem Schlaftrunk und verbringt die Nacht mit Sieg
mund in ungestörter Wonne. Am nächsten Morgen kämpfen
Hunding und Siegmund; Beide fallen. Hier tritt Brun
hilde in die Handlung, eine der neun Walküren, welche
auf das Schlachtfeld reiten und die getödteten Helden nach
Walhalla bringen. Brunhilde (nach Wagner die leibliche
Tochter Wotan’s) hat gegen dessen ausdrückliches Verbot
den Siegmund im Kampfe beschützt und wird zur Strafe
von Wotan in Schlaf versenkt und mit einem Flammenkreis
(der „wabernden Lohe“) umgeben. Nur ein Mann, „der das
Fürchten nicht kennt“, soll sie daraus erlösen und sein Eigen
nennen. Mit diesem „Feuerzauber“ schließt das Stück.
Das dritte Drama: „Siegfried“, dessen Handlung
wir uns etwa zwanzig Jahre später als die „Walküre“
denken müssen, bringt einen neuen Helden auf die Bühne,
den jungen Siegfried, den Sohn jenes Geschwisterpaares
Siegmund und Sieglinde. Er wird uns als ein Ideal strotzen
der Kraft und Lebenslust vorgeführt, wie er das Schwert
„Nothung“ schmiedet, einen Bären hetzt, den als Lindwurm
verwandelten Riesen Fafner tödtet und seinen Pflegevater
Mime erschlägt. Durch Verkosten des Drachenblutes lernt
er die Sprache der Vögel verstehen, die ihm von der
flammenumloderten Brunhilde erzählen. Er hat von Fafner
den Ring des Nibelungen und die unsichtbarmachende Tarn
kappe erbeutet und dringt durch das Feuer zu der schlafenden
Brunhilde, die er mit einem Kuß erweckt. Mit der langen
Liebesscene zwischen den Beiden („O hehrster Thaten thöriger
Hort! Leuchtende Liebe, lachender Tod!“) schließt das Stück.
Es folgt das vierte und letzte Drama: „Götterdäm
merung“. Wir sehen Siegfried zu neuen Thaten auszie
hen, nachdem er von Brunhilden zärtlichen Abschied ge
nommen und ihr den Nibelungenring als Zeichen der Treue
an den Finger gesteckt. Er reitet an den Rhein, wo das
stolze Geschlecht der Giebichungen herrscht. König Gunther’s
holde Schwester Gutrune (die Chriemhild des Nibelungen
liedes) erglüht sofort in leidenschaftlicher Liebe zu Siegfried und
reicht diesem, auf Hagen’s Rath, einen Zaubertrank, wel
cher ihn Brunhildens vollständig vergessen macht. Siegfried
begehrt und erhält Gutrune zum Weibe, wogegen er ver
spricht, die nur durch ihn zu bewältigende Brunhildefür
Gunther zu gewinnen. Durch den Tarnheim in Gun
ther’s Gestalt verwandelt, zwingt er Brunhilden ins Braut
gemach und entreißt ihr, zum Zeichen der Vermälung, den
Ring. Hagen (bei R. Wagner ein Sohn des Zwerges Alberich),
will den Ring für sich gewinnen, und deßhalb beschließt er
Siegfried’s Verderben. Brunhilde erkennt ihren Ring an
Siegfried’s Finger und damit die Treulosigkeit des Heißgelieb
ten. Sie fordert seinen Tod, und Hagen ersticht ihn meuch
lings auf der Jagd. Unmittelbar vor Siegfried’s Ende gibt
ihm jedoch Hagen abermals einen Zaubersaft zu trinken,
welcher die Wirkungen des Vergessenheitstrankes wieder auf
hebt. Siegfried erinnert sich plötzlich Brunhildens und stirbt,
einen Gruß an sie auf den Lippen. Gutrune räumt den Platz
an Siegfried’s Leiche ohneweiters Brunhilden, die ihr ihn streitig
macht und sich hierauf in den für Siegfried’s Leiche angezün
deten Scheiterhaufen stürzt. Der Rhein wälzt seine Fluthen
bis in die Halle, die Rheintöchter kommen herangeschwommen,
ziehen Hagen, der sich des Ringes bemächtigen will, zu sich
herab und halten den wiedergewonnenen Ring jubelnd in die Höhe.
Gleichzeitig erscheint am Himmel eine rothe Gluth, der Widerschein
des Brandes, welcher die Götterburg mit all ihrer Pracht
verzehrt.
Betrachtet man das Gedicht im Großen und Ganzen,
ohne sich bei zahlreichen, theils ermüdenden, theils abstoßen
den Einzelheiten aufzuhalten, so muß man den außerordent
lich geschickten Aufbau der Handlung rühmen. Ein Zug von
Größe und Strenge, ein starker Hauch entfesselter Natur
gewalt zieht durch das Ganze; die Höhenpunkte der drama
tischen Wirkung sind mit kundiger Meisterhand vorbereitet
und in die glühendste Beleuchtung gestellt. Als selbstständi
ges Drama betrachtet, das angeblich der Musik gar nicht be
dürfe, um als dramatisches Werk oder Meisterwerk dazuste
hen, wird „Der Ring des Nibelungen“ nur von den Unzu
rechnungsfähigsten unter den Wagner-Enthusiasten angesehen
werden können. Ohne Musik, nicht gesungen, sondern gespro
chen, würden diese stammelnden und stotternden Stabreime
überall eine mit Aergerniß gemischte Heiterkeit erregen. Allein,
so hat es Wagner auch nicht gemeint, wenngleich er den Text
lange vor der Partitur selbstständig veröffentlichte und ge
legentlich versichert, seinen „Nibelungenring“ „als durch
aus dialogisirte Handlung demselben Urtheil unter
werfen zu können, dem wir ein für das recitirte
Schauspiel geschriebenes Stück vorzulegen gewohnt sind“.
Hätte Wagner dies ernstlich geglaubt, so würde er nicht
Musik dazu geschrieben haben. Wir halten uns lieber an die
andere Versicherung des Autors, daß „dieses dramatische
Gedicht ganz der Möglichkeit einer vollständigen musika
lischen Ausführung seine Entstehung verdankt“. (Gesam
melte Schriften IX. p. 366.) Vom musikalischen Gesichts
punkte muß man zwar das Störende vieler ungebührlich
langer, mitunter recht prosaischer Dialoge beklagen, anderer
seits aber dem Textbuch eine Fülle poetisch angeschauter und
mit genialem Theaterblick ausgeführter Situationen nachrühmen,
welche geradezu die höchsten Anstrengungen der Musik heraus
fordern. Man braucht, mit der Musik noch völlig unbe
kannt, das Buch nur zu lesen, um der gewaltigen Effecte,
welche Wagner’s scenische und musikalische Kunst daraus
ziehen müsse, sicher zu sein und nur unsicher darüber, ob der
Hörer diesen Effecten durch vier Abende hinter einander werde
Stand halten können.
Bezüglich der Grundanschauung und des substanziellen
Gehaltes des „Nibelungenrings“ haben wir unser Haupt
bedenken bereits oben ausgesprochen: es trifft das Zurück
drängen des Reinmenschlichen zu Gunsten der Götter, Riesen,
Zwerge und ihrer verschiedenen Zauberkünste. Diese Tendenz
herrscht am störendsten, weil ausschließlich, im „Rheingold“,
wirkt noch vorwiegend in „Siegfried“ und „Walküre“, läßt
aber glücklicherweise bedeutend nach in der „Götterdämme
rung“, dem poetisch weitaus gelungensten von den vier
Stücken. Die von Wagner’s Interpreten gerühmte „sittliche
Hoheit“ und „reinigende ethische Wirkung“ dieser Dich
tung vermögen wir schwer aufzufinden. Die treibenden Mo
tive im „Rheingold“ sind durchwegs Betrug, Lüge, Gewalt
und thierische Sinnlichkeit; sogar bei den Göttern: Habsucht,
List und Vertragsbruch. Nicht ein Strahl eines edleren sitt
lichen Gefühles bricht durch diesen athemversetzenden Nebel.
„Die Walküre“ glänzt unter allen vier Stücken zumeist durch
große dramatische und musikalische Schönheiten (erste Scene
bei Sieglinde, Walkürenritt, Feuerzauber); das sittlich Wider
wärtige der mit so viel Gluth ausgemalten Blutschande
werden wir aber niemals überwinden. Man kennt die Vor
liebe Wagner’s für dergleichen Scenen und Probleme. Hier
ist der Gräuel um so tadelnswerther, als er vollständig un
nöthig ist. Wo liegt die geringste Nöthigung vor, Sieglinde
und Siegmund zu Geschwistern zu machen? Daß es so in
den alten Edda-Gesängen steht? Das verpflichtet nicht im
mindesten den Dramatiker, der für seine dichterischen Zwecke
frei schalten darf und soll. Es ist nicht Alles im Drama
erlaubt, was im Epos vorkommen darf, und unsere sittlichen
Anschauungen sind andere, als es die des elften Jahrhun
derts waren. Den schwächsten dramatischen Fortgang, am
wenigsten Geist, Schönheitsgefühl finden wir in dem dritten
Stück „Siegfried“. Die beiden Hauptpersonen, der Zwerg
Mime und Siegfried selbst, streifen hier an die Cari
catur, der Kampf mit dem singenden Lindwurm ans
Komische. Erst der dritte Act, die Erlösung Brunhil
dens durch Siegfried, hebt sich auf bedeutende Höhe.
Die „Götterdämmerung“ übertrifft schon aus dem
Grunde die drei vorhergehenden Dramen, weil sie lauter
echt musikalische Situationen enthält. Ueberdies welch gewal
tige Exposition, welche Spannung und Steigerung bis zum
Ende! Das Menschliche tritt uns hier näher, die Gespenster
der „Edda“ weichen zurück vor den Helden des Nibelungen
liedes. Freilich, wie weit hat Wagner auch in dieser An
näherung an das deutsche Heldengedicht sich wieder davon
entfernt! In Einem Punkte zum Vortheile des Ganzen: er
ignorirt die unsäglich rohe Scene der Brautnachtbalgerei
zwischen Brunhild und Gunther; auch Siegfried holt Erstere
für Gunther blos aus dem Feuerkreise und geleitet sie un
erkannt ans Lager. Hingegen hat Wagner ein anderes wi
derwärtiges Motiv unterschoben, daß es nämlich nicht eine
Fremde, sondern seine eigene Geliebte und Gattin
ist, welche Siegfried für einen Andern bezwingt und ihm
ausliefert! Mit diesem Momente schwindet in unserer Brust
jede Sympathie für Siegfried, dem wir sein gewaltsames
Ende nicht ungerne gönnen. Das Aushilfsmittel mit dem
Vergessenheitstrank, den man Siegfried credenzt und dessen
Wirkung dann wieder durch einen andern Zaubertrank auf
gehoben wird, ist doch gar zu kindisch und abgeschmackt.
Wenn man den handelnden Personen alle Augenblicke etwas
Anderes zu trinken gibt, dann hört jedes Drama auf. Solche
Willkür, einmal zugelassen, braucht auch keine Grenzen zu
achten; warum nicht ein dritter Trank und neue Vergeßlich
keit, ein vierter und abermals Rückkehr der Erinnerung u. s. w.?
Daß auch diese Zaubertränke aus der „Edda“ hergenommen
sind, kümmert uns wenig. Wer hieß den modernen Drama
tiker aus trüber Quelle schöpfen, da doch hart daneben die
reinere sprudelt? Man vergleiche die Tragödie Hebbel’s,
namentlich die tief ergreifende Scene an Siegfried’s Leiche,
die rührende Klage Chriemhild’s, die nur ihn liebte, einzig
und allein von ihm geliebt! Bei Wagner ist, Brunhilden
zuliebe, die Gestalt Chriemhild’s um ihre ganze Schönheit
und Bedeutung gebracht. Sie ist neben dem Sarge Sieg
fried’s nicht viel mehr werth, als dieser in demselben. Ein
kühner, origineller Gedanke, mit welchem Wagner weit über
das Heldengedicht hinausgeht, ist die Verbindung dieser Vor
gänge mit der Götterdämmerung, das ist dem aus
dem Kampfe zwischen Licht und Finsterniß einst hervor
gehenden Untergang der Götter. Aus Wagner’s Anschauungs
weise heraus, der in seinem „Nibelungen“-Cyklus überall das
Mythische und Uebernatürliche hervorhebt, erscheint dieser
Gedanke künstlerisch berechtigt und motivirt. Die Götter, die
anfangs, im Vorspiel, als Mitschuldige an dem ungerechten
Besitze des Rheingolds erschienen, wir sehen sie am Schlusse
aus weiter Ferne im flammenden Zusammensturze Walhallas
untergehen.