Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4312. Wien, Sonntag, den 27. August 1876 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Nr. 4312. Wien, Sonntag, den 27. August 1876 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 27.08.1876
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R. Wagner’s Bühnenfestspiel in Bayreuth. 4. Die Aufführung und ihr Total-Eindruck. Bayreuth, 19. August.

Ed. H. Durch Zufall verspätet. D. Red. In meinem letzten Briefe habe ich den Cha rakter der „Nibelungen“-Musik zu schildern versucht, so gut es mir eben die geistige und physische Bedrängniß dieses Bay reuther Aufenthaltes gestattete. Noch immer unter der nach drückenden Wucht des kaum Ueberstandenen muß der Be richterstatter heute von der Totalwirkung des ganzen Fest spiels erzählen. Für ein abschließendes letztes Wort wird eine größere zeitliche und räumliche Entfernung abzuwarten sein.

Der Eindruck von Wagner’s „Nibelungenring“ auf das Publicum ward nicht vorwiegend von der Musik bestimmt, sonst hätte er schon nach den beiden ersten Abenden ein total niederdrückender heißen müssen. Wagner’s Vielseitigkeit, ohne Frage die glänzendste Seite seiner Begabung, läßt ihn zugleich mit dem Special-Talent des Musikers, des Malers, des Textdichters und des Regisseurs arbeiten und erzielt häufig durch die drei Letzteren, was der Erste allein nicht bewirkt hätte. Insbesondere die malerische Phantasie Wagner’s arbeitet rastlos in den „Nibelungen“, von ihr scheint der erste Anstoß ausgegangen zu mancher Scene. Be trachtet man die Photographien der von Joseph Hoff mann so poesievoll erfundenen Decorationen, so geräth man unwillkürlich auf den Gedanken, es mögen in Wagner’s Einbildungskraft zuerst solche Bilder aufgestiegen sein und dann die entsprechende Dichtung und Musik nachgezogen haben. So ist es gleich mit der ersten Scene des „Vor spiels“. Die im Rheine singenden und schwimmenden Rhein töchter, durch 136 Tacte lang nur von dem zerlegten Es-dur-Dreiklang umfluthet, geben für sich ein Tableau, welches man gar nicht genau auf die Musik ansieht. Die Scene wirkte in Bayreuth um so günstiger, als die Decoration und die von unten dirigirte Maschinerie der Schwimmenden voll ständig gelungen war. Von da an sinkt der musikalische Reiz des „Rheingold“ rasch abwärts, und da parallel damit

die Empfänglichkeit des durch nahezu drei Stunden ohne Unterbrechung festgehaltenen Hörers versiegt, so scheidet man mit dem Eindruck tödtlicher Monotonie. Eine ausführliche Besprechung des „Rheingold“ (auf Grund der Münchener Aufführung) findet man in meiner „Modernen Oper“. Als Ganzes wird dieses „Rheingold“ wirklich nur auf die beispiellose Autorität Wagner’s hin angenommen, theils vom blinden Enthusias mus, theils vom geheuchelten. Ungemein stimmungsvoll be ginnt das zweite Drama, die „Walküre“, mit dem Ein tritte des verfolgten Siegmund in Hunding’s Haus. Die langweilige Breite der Tischscene (Siegmund, Hunding und Sieglinde) verschmerzen wir allmälig im Verlaufe des Liebesduetts zwischen Siegmund und Sieglinde, in welche der B-dur-Satz „Winterstürme weichen dem Wonnemond“ wie langentbehrter Sonnenschein einfällt. Da labt uns doch ein Strahl melodiösen, getragenen Gesanges! Trotzdem wollte dieser erste Act der „Walküre“, den wir nach der Partitur für die Krone des Werkes angesehen, nicht ganz die gehoffte Wirkung erreichen. Die hier unzureichende, des Schmelzes entbehrende Stimme des Tenoristen mochte daran theilweise schuld sein. Mit dem zweiten Acte öffnet sich ein Abgrund von Langweile. Gott Wotan tritt auf, hält erst ein langes Gespräch mit seiner Gemalin und dann (zu Brunhilde ge wendet) einen autobiographischen Vortrag, der acht volle Seiten des Textbuches füllt. Diese im langsamen Tempo, ganz melodielos vorgetragene Erzählung umfängt uns wie ein trostlos weites Meer, in welchem nur die kümmerlichen Brocken einiger „Leitmotive“ uns aus dem Orchester ent gegenschwimmen. Scenen wie diese mahnen an die im Mittel alter beliebte Folter, den schlaftrunkenen Gefangenen, so oft er einnickt, mit Nadelstichen wieder aufzuwecken. Wir hörten selbst von Wagnerianern diesen zweiten Act als ein Unglück für das Ganze bezeichnen — ein sehr unnöthiges Unglück, da mit zwei Strichen die beiden Scenen getilgt wären, die kaum Jemand vermissen wird. Hat doch die „Walküre“ überhaupt nur einen sehr losen Zusammenhang mit der Handlung des Ganzen; wir erfahren darin von dem verhängnißvollen Ring nichts, was wir nicht schon im „Rheingold“ gesehen haben, und für die Folge ist nur der Schluß der Oper, die Bestrafung und Verzauberung

Brunhilde’s, wichtig. Musikalisch erhebt sich der dritte Act wieder zu bedeutenderer Kraft und Fülle. Zunächst durch die Walküren, deren allerdings wüstes Miteinander- und Durcheinandersingen die Scene wohlthätig belebt. Der Walkürenritt und der Feuerzauber sind als zwei Prachtstücke kühner Tonmalerei aus Concert-Auffüh rungen männiglich bekannt. In meinen Berichten über diese Concert-Aufführungen hatte ich, auf den dramatischen Zu sammenhang rechnend, diesen beiden Stücken einen noch viel größeren Effect auf der Bühne prophezeit, als sie in Bay reuth zu erreichen schienen. Ein doppelter Grund dürfte dies erklären: einmal hat der „mystische Abgrund“ des Bay reuther Theaters nicht entfernt den hinreißenden Glanz und Schwung eines freistehenden Concert-Orchesters, sodann be kommt der Hörer diese beiden Effectstücke erst gegen den Schluß der Oper, also von dem Vorhergehenden bereits er mattet und abgestumpft, zu hören. — Wagner’schen Opern und Scenen darf man ihre größere oder schwächere Bühnen wirkung nicht nach der Partitur vorhersagen wollen. Das erfuhr ich wieder am „Siegfried“, dem ich eine weit geringere Wirkung als der „Walküre“ zugemuthet hatte, wäh rend das Gegentheil eintraf. Schon den ersten Act durchweht ein frischer Ton, etwas Realistisches, Naturburschenhaftes, das zwar in den „Schmiedeliedern“ bedenklich in die Rohheit von Hanns Sachsens Schusterlied geräth und durch maßlose Längen die halbe Kraft einbüßt, aber trotzdem im Abstich von dem Stelzengang der beiden früheren Abende erfrischend wirkt. Was soll man aber zu der langen Scene Wotan’s mit dem Zwerg Mime sagen? Einer gibt dem Andern drei Fragen auf, welche Jeder von ihnen mit der Ausführlichkeit eines gut eingepaukten Prüfungs-Candidaten beantwortet — die ganze Scene ist rein überflüssig. Ueberhaupt kann man sicher sein, daß, sobald nur die Spitze von Wotan’s Speer sichtbar wird, eine halbe Stunde nachdrücklichster Langweile garantirt ist. Dieser „hehre Gott“, der überall das Nöthige nicht weiß und das Richtige nicht thut, der im ersten Drama seiner herrschsüch tigen Frau, im zweiten einem dummen Riesen, im dritten einem kecken Knaben weichen muß, dieser salbungsvolle Pe dant soll „von dem deutschen Volk“ als göttliches Ideal ver ehrt werden? Sogar in seiner Abwesenheit weiß er uns das

Leben sauer zu machen. Im ersten Act der „Götterdämme rung“ findet nämlich Wagner keine Gelegenheit, Wotan auf die Bühne zu bringen, da muß eine überflüssige neue Person, Waltraute, in die Handlung hinein, welche der Brunhilde von dem schlechten Befinden und der traurigen Stimmung Wotan’s eine endlose Schilderung macht. Der zweite Act von Siegfried“ hinterließ mir den erfreulichsten Eindruck von allen; hier ist die Stimmung des „Waldwebens“ (Siegfried in der Morgenfrühe unter einem Baume dem Vogelgesang lauschend) am innigsten empfunden, am überzeugendsten wiedergegeben. Wagner’s virtuose Tonmalerei feiert da ihren echtesten Triumph, weil sie mit natürlicheren Mitteln arbeitet und von rein menschlicher Empfindung getränkt ist. Wäre nicht die barock-lächerliche Scene mit dem singenden Lindwurm, welcher, von Siegfried zu Tode getroffen, senti mental wird und gleichsam aus Erkenntlichkeit für den Stich ihm seine Biographie erzählt — man könnte diesen Act mit reiner Freude genießen. Im dritten haben wir abermals ein langes Gespräch Wotan’s mit Siegfried zu überstehen; dieser spaltet glücklicherweise den schlafbringenden Speer des göttlichen Nachtwächters und dringt in die „wabernde Lohe“. Für Brunhildens Erwachen findet Wagner die zartesten Töne; auch die folgende Liebesscene blüht anfangs hold und duftig auf, so weit sie dies unter der Tyrannei des „Systems“ darf. Leider verstimmt uns der Schluß dieses Zwiegesanges durch seine rauchende Hitze, es ist die Hitze eines überheizten Dampfkessels. Man kennt das exaltirte Stöhnen, Stammeln und Schreien der neuesten Wagner’schen Muse in solchen brünstigen Scenen, nach welchen der Vorhang „sehr schnell“ fällt.

Die „Götterdämmerung“ dünkt uns das dramatisch ge lungenste von allen vier Stücken; hier wandeln wir wieder auf unserer Erde, unter Menschen von Fleisch und Blut. Es entwickelt sich vor uns eine wirkliche Handlung, in welcher allerdings die schon bei der Lectüre so peinlich berührende Einschiebung des „Vergessenheitstrankes“ noch abstoßender und unbegreiflicher erscheint. Mit wahrem Bienenfleiße aus geführt, noch sorgsamer als die vorhergehenden Dramen, fällt die Musik zur „Götterdämmerung“ doch gegen jene merklich ab. Erschienen uns die drei ersten Dramen steril und unnatürlich in ihrer musikalischen Methode, zum Teile

gewaltsam und abstrus, so durchströmte sie doch, auf frühere Entstehungszeit zurückdeutend, ein rascheres, wärmeres Blut, eine ursprünglichere Erfindung. Auf der „Götterdämmerunghingegen drückt eine eigenthümliche Müdigkeit und Ermattung etwas wie das nahende Mühsal des Alters. Da will nichts von selbst wachsen und blühen, die neuen Motive sind ganz gering fügig, der musikalische Bedarf wird größtentheils mosaikartig aus den früheren Leitmotiven bestritten. Der erste Act, zwei volle Stunden spielend, übersteigt alle Grenzen der Geduld, und was nachfolgt, läßt uns nur die Erinnerung an zwei her vorragende Musikstücke: den charakteristischen Trauermarsch an Siegfried’s Leiche und den Gesang der Rheintöchter, die ser musikalischen Rettungsengel im „Nibelungenring“. Darüber scheint mir kein Zweifel möglich, daß Wagner’s musikalische Er findung, jene schöpferische Kraft, welche durch keine Virtuo sität ersetzt werden kann, stark im Niedergang begriffen ist; das geflügelte Wort von der „Wagner-Dämmerung“, das hier von Mund zu Mund flatterte, birgt eine traurige Wahrheit.

Nur angedeutet mit flüchtigen Strichen ist hier der Eindruck der vier „Nibelungen“-Dramen; von einer eingehenden Analyse dieser viertheiligen Riesenoper kann ja in so engem Rahmen keine Rede sein. An einen rein musikalischen Eindruck darf man, wie gesagt, nicht denken. Wagner fühlte wohl, daß der Genuß des Hörens, dieses Hörens, für so lange Theater haft unzureichend wäre, er gibt daher dem Publicum gar Vielerlei zu sehen. Niemals zuvor ist in einer Oper solche Häu fung scenischer Wunder vorgekommen. Kunststücke, welche man bisher für unmöglich gehalten oder richtiger, an die man überhaupt gar nicht gedacht, folgen einander Schlag auf Schlag: die tief im Wasser schwimmenden Rheintöchter, die über einen Regenbogen spazierenden Götter, die Verwand lungen Alberich’s in einen Lindwurm, dann in eine Kröte, der feuerspeiende singende Drache, der Feuerzauber, die Götter dämmerung u. s. w. Damit hat der Dichter dem Componi sten den weitesten Spielraum für dessen glänzendste Vir tuosität, die Tonmalerei, eröffnet. Sollte es aber wirk lich der höchste Ehrgeiz des dramatischen Componisten sein, zu einer Reihe von Zaubermaschinerien Musik zu machen? Ein erklärter Anhänger Wagner’s, Karl Lemcke, beklagt in seiner überaus wohlwollenden Kritik des

Nibelungenrings“ den schädlichen Einfluß dieser „nach Bosco’s Zaubersaal schmeckenden Kunststücke“, welche einfach zum „Zauberpossen-Cultus“ führen. In der That hat Wagner’s „Nibelungenring“ am meisten Aehnlichkeit mit dem Genre der Zauberstücke und „Feerien“. Zu der reinen Idealität, welche Wagner seinem Werke nachrühmt, stehen diese sehr materiellen Effecte in seltsamem Widerspruch. Wagner arbeitet überall auf den stärksten sinnlichen Eindruck hin, und das mit allen Mitteln. Noch ehe der Vorhang aufgeht, soll das geheimnißvolle Wogen und Klingen des unsichtbaren Orchesters den Hörer in einen leisen Opium rausch versetzen — noch bevor, bei aufgezogenem Vorhang, eine der handelnden Personen den Mund öffnet, werden wir dem anhaltenden Eindruck einer magisch beleuchteten Märchen- Decoration hingegeben; in den zahlreichen Nachtscenen be leuchtet grelles elektrisches Licht die Gestalt der Hauptperson, und farbige Dämpfe wallen ab und zu, jetzt zusammen geballt, dann sich theilend über die Bühne. Diese Dämpfe, die im „Rheingold“ sogar die Stelle des Zwischenvorhangs vertreten, bilden eine Hauptmacht in Wagner’s neuem drama tischen Arsenal. Als formlos phantastisches, sinnlich berücken des Element entspricht der aufquellende Dampf ganz beson ders dem musikalischen Principe Wagner’s. Vergleicht er doch selbst die aus seinem unsichtbaren Orchester erklingende Musik den „unter dem Sitz der Pythia entsteigenden Dämpfen“, welche den Hörer „in einen begeisterten Zu stand des Hellsehens versetzen“! Von da ist nur noch Ein Schritt zur künstlerischen Einführung bestimmter Düfte und Gerüche auf die Scene — sind sie ja von der Psychologie als besonders stimmungserregend und -verstärkend anerkannt. Wir sprechen im vollen Ernste. Wer wüßte nicht aus den Kindermärchen, daß Feen ein süßer Rosenduft umgibt und der Teufel regelmäßig mit Schwefel gestank abzieht? Das Princip, in der Oper alle stimmungsvoll wirkenden Reize zur Verstärkung bestimmter Empfindungen und Vorstellungen zusammenwirken zu lassen, sollte auch die Geruchsnerven zu Mitleid und Mitfreude heranziehen. Alle modernen Fortschritte angewandter Natur wissenschaft hat sich Wagner dienstbar gemacht; mit Staunen haben wir die riesige Maschinerie, die Gas-Apparate, die Dampfmaschinen auf und unter der Bereiche Bühne ge

sehen. Vor Erfindung des elektrischen Lichtes konnten Wagner’s Nibelungen“ ebensowenig componirt werden, als ohne die Harfe und Baßtuba. So ist es das Colorit im weitesten Sinne, das in Wagner’s neuestem Werke die dürftige Zeich nung verdeckt und eine unerhörte Selbständigkeit usurpirt. Die Analogie des Musikers Wagner mit dem Maler Makart und dem Dichter Hamerling liegt auf der Hand. Durch ihren sinnlich berückenden Zauber wirkt diese Musik als directer Nervenreiz so mächtig auf das große Publicum, das weibliche zumal. Dem Fachmusiker bleibt das Interesse an der hochgesteigerten Orchester-Technik, das ge spannte Aufhorchen, wie das Alles „gemacht“ ist. Wir halten das Eine wie das Andere nicht für gering; nur darf keines gewaltsam vorherrschen. Weder die technische Gourmandise des Capellmeisters, noch der Haschischtraum der Schwärmerin erfüllen das Wesen und den Segen echter Tondichtung; sie beide sind denkbar und gar oft vorhanden ohne die Seele der Musik.

Mit welchen Hoffnungen oder Befürchtungen man nun immer nach Bayreuth gewandert sein mochte, darin vereinigte sich die Ueberzeugung Aller, daß wir ein außerordentliches theatralisches Ereigniß erleben würden. Aber auch diese Erwartung ist nur sehr unvollständig in Erfüllung gegangen. Die sinnreichen Neuerungen Wagner’s in der Anordnung des Theaters haben wir gebührend anerkannt, bezüglich der Maschinerie auch die Scene der schwimmenden Rhein-Nixen im Vorspiel. Von da an ging es jedoch allmälig abwärts. Daß gleich die erste Verwandlung versagte und von allen Seiten ins Stocken gerieth, wollen wir nicht hoch anschlagen, das kann jedem Theater passiren, wenn es auch gerade dieser seit Jahr und Tag vorbereiteten und ausposaunten Bayreuther „Mustervorstellung“ hätte lieber nicht passiren sollen. Allein Beispiele von geradezu unrichtiger und mangelhafter Sceni rung gab es, und auf den entscheidensten Stellen. Der Re genbogen, über welchen die Götter nach Walhalla promenir ten, stand so niedrig, daß man ihn für eine bemalte Garten brücke nahm. Der Zweikampf Siegmund’s mit Hunding und die Einmischung Wotan’s in der „Walküre“ ging weit hinten in solcher Dunkelheit vor sich, daß kein Zuschauer von diesem entscheidenden Vorgang eine Ahnung bekam. Die Walkü ren erschienen keineswegs zu Pferde, sondern zogen in sehr

mißlungenen, undeutlichen Dissolving-views (ähnlich der wilden Jagd im „Freischütz“) über den Horizont. In München hatte man junge Stallknechte, als Walküren gekleidet, über dicke Teppiche hin- und zurücksprengen lassen; ihr Ritt, ge spenstisch schnell und lautlos, war von unbezahlbarer Wir kung. Was so ein schnödes Hoftheater zuwege bringt, das sollte die Musterbühne von Bayreuth doch auch treffen. Die Feuerwand, welche Brunhilderingsum einschließen soll, loderte in Bayreuth nur hinter ihr auf, von drei Seiten lag die Schlafende vollkommen frei und zugänglich da. Auch wie das gemacht werden soll, hat die Münchener Oper vor Jahr und Tag gezeigt. Wir übergehen das lächerliche Widder gespann der Göttin Fricka, das altersschwache Pferdchen, das von Brunhilde nicht geritten, sondern am Zügel geführt und mittelst einer Schnur unter dem Podium festgehalten wurde, desgleichen die zahlreichen mißlungenen Beleuchtungs-Effecte, und erwähnen blos die Schlußscene der „Götterdämmerung“, in welcher die scenische Kunst des Wagner-Theaters ihr Höchstes leisten sollte und wollte. Wer hätte sich nicht auf den Augenblick gefreut, wo Brunhilde nach ausdrücklicher Versicherung des Text buches „sich stürmisch auf das Roß schwingt und mit Einem Satze in den brennenden Scheiterhaufen springt“? Statt dessen führt Brunhilde ihre jämmerliche Rosinante gelassen zwischen die Coulissen und denkt nicht daran, weder sich zu „schwingen“, noch zu „springen“. Auch der kühne Hagen, der sich „wie wahnsinnig in die Fluth stürzen“ soll, schreitet zur rechten Coulisse heraus und erscheint erst einige Augenblicke nachher mitten im Rhein. Dieser Rhein endlich, der, „mäch tig angeschwollen, seine Fluthen bis in die Halle wälzt“, wackelte mit seinen schlecht gepinselten und sichtbar oben an genähten Wellen wie das Rothe Meer in einer Provinzvor stellung von Rossini’s „Moses“. Wenn in solchen Haupt scenen die Aufführung nicht vermag, nicht leistet, was Wagner ausdrücklich im Textbuche vorschreibt und dem Zu schauer verspricht, dann läßt sich von einer „Mustervorstel lung“ nimmermehr sprechen. Weitaus das Gelungenste waren die ebenso malerischen wie originellen Decorationen von Jo seph Hoffmann; sie hätten bei ganz getreuer Ausführung und zweckmäßigerer Beleuchtung ohne Zweifel noch bedeuten der gewirkt. Der Decorations-Maler hat nur eine Hälfte des Effectes in der Hand, die andere hängt an der Kunst

der Beleuchtung, sie gleicht der Instrumentirung eines musi kalischen Gedankens. Diese zweite Hälfte war in Bayreuth nicht voll, und Hoffmann’s Ideen erscheinen in den Photo graphien melodischer gedacht, als sie in dem Festspielhaus geklungen haben.

Um die musikalische Ausführung hatten das größte Verdienst der Dirigent Hanns Richter und die Sängerin der Brunhilde, Frau Materna. Es darf uns freuen, daß somit drei der allerhervorragendsten Kräfte — Richter, Hoffmann und die MaternaWien angehören. Dem von Richter dirigirten Orchester rühmen wir nicht blos die treffliche Leistung, sondern auch die übermenschliche Selbstverleugnung nach, mit welcher es, abgesperrt von Luft und Licht, ohne jeden Contact mit der Bühne wie mit dem Zuschauerraume, seine Kellerarbeit verrichtete. Die erste Vio line spielte der ruhmvoll bewährte A. Wilhelmj, das Instrument selbst, dem er so süßen Klang entlockt, pries er uns als eine Arbeit unseres Wiener Geigenmachers Zach. Ueber alle Sängerinnen ragte Frau Materna empor; durch Stimmkraft und Gestalt eine geborne Brunhilde, be wies sie auch in dramatischer Hinsicht erstaunliche Fort schritte. Möge sie uns aus diesem mörderischen Feldzuge mit heiler Stimme zurückkehren! Vortrefflich war das Ensemble der drei Rheintöchter, sehr tüchtig Frau Jaïde in der kleinen Rolle der Erda, unbedeutend die Darstellerin der Sieglinde, ganz unzureichend die der Gutrune. Im Ganzen zeichneten sich die Herren mehr aus, als die Damen; insbe sondere die Herren Vogel (Loge), Schlosser (Mime), Niemann (Siegmund), Betz (Wotan), Hill (Alberich) und Reichenberg (Fafner).

Daß die große Majorität der Bayreuther Pilgerschaft nach jedem der vier Dramen in jubelnden Applaus aus brach, ist selbstverständlich, sie war ja mit diesem Vorsatze hergekommen. Meine im ersten Bericht ausgesprochene Ueber zeugung, daß Wagner’s neuestes Werk seine Lebensfähigkeit und seine Wirkung auf das Publicum erst auf anderen Bühnen werde erproben müssen, bleibt aufrecht. Ein Zweifel kann jetzt nur darüber obwalten, ob nach dem Eindruck des Bayreuther Festspiels unsere Theater-Directionen ein beson ders lebhaftes Verlangen äußern werden, die Mühe und Ge fahr dieser Goldprobe auf sich zu nehmen.