Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4342. Wien, Dienstag, den 26. September 1876 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4342. Wien, Dienstag, den 26. September 1876 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 26.09.1876
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Hofoperntheater. („Die Folkunger“, große Oper von H. S. Mosenthal, Musik von Edmund Kretschmer. Erste Aufführung am 23. September.)

Ed. H. Der Held der neuen Oper, Prinz Magnus Laduslas, ist eine historische Person. Sohn König Erik’s und Nachkomme Birger-Jarl’s, des Gründers von Stockholm, ge hört er zum Geschlechte der Folkunger, das 1250 auf den schwedischen Thron gelangte. Zum Mönch erzogen, wurde Magnus nach dem Tode seines Bruders, gegen die Intrigue einer mit den Dänen conspirirenden Partei, vom Landvolke auf den Thron erhoben. Zum Dank dafür begünstigte er das Volk, das ihm den Namen Laduslas „Scheunenschloß“ gab. Er liegt in der Riddarsholm-Kirche neben seiner Gattin begraben. So weit reicht die historische Grundlage, auf welcher Mosenthal eine durchaus freie Erfindung als Hand lung der „Folkunger“ aufbaut.

Wir sehen zu Anfang des ersten Actes den Prinzen Magnus von Patrik, dem Helfershelfer des Herzogs von Schoonen, in eine wilde Gletschergegend geführt. Im Auf trage des nach der Krone strebenden Herzogs soll Patrik den Prinzen tödten. Von einer mitleidigen Regung ergriffen, will er ihm trotzdem das Leben schenken, wenn Magnus einen Eid schwört, daß er niemals verrathen wolle, wer er ist. Prinz Magnus soll fortan für todt gelten. Magnus leistet den Schwur und wird von den Mönchen des nahen Klosters aufgenommen. Als jüngster der Brüder soll er nun, dem Klosterbrauche gemäß, die Nachtwache vor dem Kloster halten. Hier trifft ihn Lars Olafson, ein glühender Patriot und treuer Anhänger der Folkunger, der nach den Spuren des vermißten Prinzen forscht. Magnus gibt sich ihm nicht zu erkennen, folgt ihm jedoch, um sich den Kämpfern für das Vaterland anzuschließen. Der zweite Act bietet zu der düsteren Scenerie des vorhergehen den ein heiteres Gegenbild. Gesang und Tanz im Schlosse Borgnäs zur Feier der Thronbesteigung Maria’s, der Letzten aus dem Stamme der Folkunger. Der Herzog von Schoonen, welcher ihre Hand und damit den schwedischen Thron zu er ringen hofft, geleitet die Prinzessin zur Krönung. Sie folgt

schweren Herzens, da sie treu an ihrem geliebten Magnus dem Todtgesagten, festhält. Lars versammelt die Landleute zum Schutze der Königin und zur Rache an dem verhaßten Herzog von Schoonen; Magnus übernimmt mit dem Nord sternbanner die Führung dieser Freischaar. Der dritte Act spielt vor dem Dom, aus welchem Maria als gekrönte Kö nigin mit ihrem Gefolge hervortritt. Während sie vor allem Volk die Krönungsurkunde verlesen soll, fällt ihr Blick auf Magnus, den sie sofort erkennt und zu sich ruft. Dieser, auch von vielen anderen Anwesenden erkannt, soll erklären, daß er der vermißte Prinz sei. Er schweigt eine Weile, mit sich kämpfend — die Scene erinnerte an die gleiche Situation der Fides im „Propheten“ — dann verneint er, seines Schwures eingedenk, Magnus zu sein. Der Herzog will ihn als Betrüger festnehmen lassen, die Königin jedoch befiehlt, daß man Magnus auf das Schloß führe, wo sie selbst über ihn Recht sprechen wolle. In diesem Königsschloß zu Upsala spielt der (hier mit dem fünften zusammengezogene) vierte Act. Maria und die alte Amme des Erbprinzen beschließen, das Geständniß, welches Magnus freiwillig abzulegen versagt, ihm durch List zu entlocken. Sie belauschen Magnus, der sich allein wähnt und den auf ihn einstürmenden Jugendeindrücken willig sein Herz öffnet. Er hört ein altes Lied, von der Amme gesungen, und stimmt (wie Georges in der „Weißen rau“) in die letzte Strophe desselben ein. Da stürzt Maria ihm entgegen und huldigt ihm als dem rechtmäßigen König. Der Herzog von Schoonen büßt sein Verbrechen mit dem Leben, und Magnus schweigt in dem doppelten Glücke, den Thron der Väter und die Hand seiner treuen Maria errun gen zu haben.

Bei den bescheidenen poetischen Ansprüchen, die man heutzutage an deutsche Textbücher zu stellen sich gewöhnt hat, müssen Mosenthal’s „Folkunger“ als eine der geschicktesten und wirksamsten Arbeiten dieser Art bezeichnet werden. Die Exposition spannt die Erwartung des Zuschauers auf glück lichste Weise, der dramatische Verlauf entwickelt sich, ohne ge wagte Sprünge und lästige Stockungen, klar und verständ lich. In den Hauptpersonen begegnen uns zwar nicht scharf gezeichnete Charaktere, aber doch allgemein verständliche Fi guren, welche die Sympathien des Publicums gewinnen. Die Situationen heben sich in wohlberechneten Contrasten von

einander ab und arbeiten dem Componisten überaus günstig in die Hände. Mit Ausnahme der Exposition erinnern aller dings die Hauptscenen der „Folkunger“ an ähnliche in be kannten Opern, auch holen sie ihre Effecte zum Theil von Außen herein. Ave Maria der Mönche, Hirtengesang hinter der Scene, Ungewitter und Lawinensturz, ländliches Ballet, Festzug, Verschwörungschor, Krönungsmarsch, Orgelklänge — wahrlich, der Dichter müßte denjenigen fordern, der mehr fordern wollte. Genug, daß hier in einer zusammen hängenden Handlung eine Reihe effectvoller Bilder aufgerollt ist und — was so selten zutrifft — musikalische Empfin dung die ganze Diction durchdringt.

Der Componist der „Folkunger“, Herr Edmund Kretschmer, Organist an der katholischen Hofkirche in Dresden, hat mit dieser seiner ersten Oper bereits sehr günstige Erfolge errungen. An mehreren großen Bühnen mit Beifall aufgeführt, an vielen anderen (darunter Berlin) vorbereitet, durften die „Folkunger“ immerhin einigen An spruch erheben, auch in Wien bekannt zu werden. Trotz der vielen praktischen Vorzüge dieser Composition, denen wir sogleich gerecht werden wollen, hätten wir ihr, offen gestan den, doch nimmermehr eine solche Carrière prophezeit. Letz tere erklären wir uns nur aus dem erschreckenden Mangel an brauchbaren deutschen Opern-Novitäten und dem dank baren Entgegenkommen eines musikalisch ausgehungerten Pu blicums, nebenbei aus der bekannten Vorliebe der Deutschen für eine gewisse spießbürgerlich-liedertafelmäßige Gemüthlich keit, welche selbst in Aufgaben großen Styls ihre Liebhaber findet. Herr Kretschmer offenbart sich in den „Folkungern“ als ein tüchtiger, gewandter Musiker, mit einer in allen Theater- Effecten sicheren Hand und einem ehrlichen, weichen Gemüth. Aber was er nicht besitzt, das ist ein starkes Talent. Es fehlt ihm die erste Gabe eines solchen, eine ausgespro chene Persönlichkeit und schöpferische Kraft oder, wie man gewöhnlich sagt, Originalität und Erfindung. Wir wüßten aus seiner Oper nicht eine einzige Nummer zu nennen, die uns durch die Eigenart musikalischen oder dra matischen Geistes gefesselt hätte. „Wenn ich ein Buch lese, so will ich mit Jemandem zu thun haben,“ pflegte Grill parzer zu sagen, und der Zuhörer einer neuen großen Oper darf wohl ein ähnliches Verlangen hegen. Wir wollen einer

Individualität gegenüberstehen, wie sie selbst aus den ober flächlicheren Werken von Donizetti, Verdi, Auber, Adam, ja Strauß und Offenbach zu uns spricht. Die „Folkungersind eine achtbare, gewandte Arbeit ohne einen Funken von Genia lität. Der Componist der „Folkunger“ schwankt fortwährend zwischen Wagner, Meyerbeer, Weber und Marschner, ja bei manchen Effectstellen (Schluß der „Bannerweihe“, Allegro des Liebesduetts etc.) drückt er auch Bellini und Donizetti die Hand. Wir wollen nicht sagen, daß er entlehne, aber er erinnert. Directe Reminiscenzen wären uns fast will kommener als diese Melodien, bei denen, wie auf stark ab gegriffenen Münzen, gar kein Gepräge mehr zu erkennen ist „Weß’ ist das Bild?“ Ich weiß es nicht; aber ich weiß, daß ich Kretschmer’s Bilder schon hundertmal gesehen zu haben glaube. Es geschieht nicht selten, daß ein begabter junger Componist sich einen Lieblings-Tondichter zum Vorbild er wählt, ihn nachahmt und dann später von dessen Einfluß sich losmacht. Das ist der bessere, hoffnungsreichere Fall gegenüber der schwankenden Unselbstständigkeit, welche von den verschiedensten Meistern bald dies, bald jenes anempfindet und auf diese Weise nie zu einer Eigenart, zu einem in dividuellen Sonder-Ausdruck gelangt.

Vergebens forschen wir nach irgend einem Element in den „Folkungern“, das wir als Herrn Kretschmer eigenthüm lich herausheben könnten; wir finden keines, es wäre denn jene vierstimmige Männergesang-Vereins-Sentimentalität, welche übrigens auch mehr national als individuell auftritt. Wo Kretschmer in Chören und größeren Ensembles sich diesem Liedertafelstyl nähern, durch üppigen Zusammenklang der Stimmen wirken kann, da wird ihm und auch uns am wohlsten. Die Sologesänge stehen an Werth beträchtlich unter den Chorsätzen und werden am langweiligsten, wo sie in dem längst Gemeingut gewordenen Tannhäuser-Styl sich bewegen. Dahin gehört das Meiste aus dem ersten und dem vierten Act; da will bei Kretschmer nichts Originelles keimen und nichts echt Dramatisches aufkommen, desto mehr sentimentale Phrasen. Man höre gleich Anfangs das Arioso des Abtes Ansgar: „Auf dieser Höh’, in diesen Schlünden“ — wird da nicht die schreckliche Erhabenheit des „ewigen Eises“ zur sächsischen Schweiz abgeglättet? Gibt es etwas Banaleres, als die Melodie der „Bannerweihe“ in B-dur, des Festchors

„Heil Mariä!“, des Liebesduetts im vierten Act u. s. f.? Kann man zwischen dem „Tannhäuser-Marsch“ und dem „Pro pheten-Marsch“ kläglicher auf die Erde sitzen, als es Kretschmer mit seinem Krönungsmarsch im dritten Act passirt? Selbst die wirksamsten, durch Wohlklang und effectvolle Steigerung hervorragenden Stücke der Oper, wie die Finale des zweiten und dritten Actes, bergen in ihren prächtig aufgebauschten Hüllen doch nur einen dürftigen musikalischen Kern. Das Beste findet sich, wie gesagt, in den abgerundeten, älterer Opern form angehörigen Chorsätzen. „Der Brauttanz von Falun“, der F-dur-Chor: „Sprich, bist du Erik’s Sohn?“, das Ensemble: „Lebewohl!“ — sämmtlich im zweiten Act — sind sehr hübsche Musikstücke und unseres Erachtens die gelungensten in der ganzen Oper. Sie dienen uns zugleich als erwünschte Bei spiele für des Componisten Vorzüge: Sinn für Wohlklang und Form, gute Stimmführung, geschickte Berechnung des Theater-Effects. Auch in der Ausdehnung der einzelnen Musik stücke hält sich Kretschmer, mit wenigen Ausnahmen, maß voll. Freilich hat Capellmeister Gericke einige hundert Tacte aus der Oper herausgestrichen (möge er ebenso viel Jahre leben!), aber der Componist, ein Muster liebenswür diger Bescheidenheit, erhob nicht die leiseste Einwendung da gegen. Diese, Herrn Kretschmer als Menschen zierende Eigen schaft verfehlt auch nicht des Einflusses auf seine Musik: er sucht nicht sich größer zu strecken, als er gewachsen ist, und verschmäht es, sich mittelst erquälter Bizarrerien für ein Genie auszugeben. Wagner folgt er nur bis zu dem mittleren Niveau des Dialogs im „Tannhäuser“ und „Lohen grin“. Den gewaltthätigen Neuerungen des jüngsten Wagner- Styls bleibt er fern — freilich, dazu gehören Mittel. Höchst anerkennenswerth, ja für eine Erstlingsoper über raschend, ist seine sichere Handhabung der musikali schen Technik, insbesondere der Instrumentirung. Gleich wol darf hier nicht verschwiegen bleiben, daß auch in dieser geschickten, stellenweise brillanten Orchestrirung sich Neues oder Originelles gar nicht vorfindet. Kretschmer instrumentirt eben, wie die effectvollsten Opern-Componisten der Jetztzeit ähnliche Situationen instrumentirt haben. Da kann es denn nicht fehlen, daß man seinen Orchester-Effecten das Aeußerliche oft anmerkt, zum Beispiel in den zahlreichen „dankbaren“ Soli der Clarinette, des Englisch-Horns, des

Cellos u. s. f. Die langweilige Violin-Figuration zu der Liedstrophe „Keine Thräne“ im Anfange des zweiten Actes stammt direct von der Romanze Raoul’s in den „Huge notten“, und von der „Bannerweihe“ kommt sogar ein Lüft chen vom Manzanillobaum in Gestalt eines Geigen-Unisonos auf der G-Saite herangeweht. Die beiden mittleren Acte sind weitaus die besten; hier walten die großen Ensembles vor. Der erste Act wirkt matt und unbedeutend; ein starkes dramatisches Talent hätte aus der ersten Scene zwischen Magnus und Patrik etwas Bedeutendes schaffen müssen, das der ganzen Oper wie eine Fackel voranleuchtete. Noch schwächer ist, zu schwerem Nachtheil des Ganzen, der vierte Act, eine monotone Fläche, deren Hügel, die Arie Mariens und das Gebet Magnus’, zugleich Höhenpunkte musikalischer Langweile bezeichnen. Ueberdies ist der wichtigste Wendepunkt, das Lied der Anna, in welches Magnus schließlich einstimmt, vergriffen. Hieher gehörte ein echtes, melodiös eindringliches Volkslied von größter Einfachheit und größter Schönheit, nicht aber eine lahme Melodie, die, mit künstlichen Orchester- Ritornellen aufgeputzt, in ein banales Opern-Unisono aus mündet.

Wie wir bereits unmittelbar nach der Vorstellung ge meldet, erfreuten sich die „Folkunger“ einer überaus freund lichen Aufnahme. Der Componist mußte an der Seite der Hauptdarsteller nach jedem Act — nach dem zweiten und dritten wiederholt — erscheinen, um für den Beifall des Publicums zu danken. Dem Autor eines neuen Werkes steht gewiß die erste Stimme darüber zu, ob eine Aufführung seinen Intentionen entsprochen habe; wir können daher über die Leistung des Hofoperntheaters Besseres nicht referiren, als daß der Componist von derselben entzückt war. Durchaus gut scenirt und sehr hübsch ausgestattet, fand die Oper in den Hauptpartien treffliche Darsteller in Herrn Labatt (Magnus), Frau Kupfer (Maria) und vor Allen in Herrn Beck (Lars Olafson). Ebenso waren die kleineren Partien durchaus gut besetzt mit den Damen Siegstädt und Tremel, den Herren Scaria, Mayerhofer und Hablawetz. Wir gönnen dem Hofoperntheater und Herrn Kretschmer vom Herzen diesen jüngsten Succeß. Mögen sie beide noch viele ebenso lohnende Erfolge erringen — mit besseren Opern.