Hofoperntheater.
(„
Das goldene Kreuz.“ — „
Coppelia.“)
Ed. H. Kaum ist der Schlußchor der „Folkunger“ ver
hallt — für immer wahrscheinlich — und schon feiern aber
mals zwei Novitäten ihren Einzug in das Hofoperntheater:
Brüll’s zweiactige Oper „Das goldene Kreuz“ und das
Ballet „Coppelia“ von Delibes. Man mag den Werth
dieser Stücke höher oder niedriger anschlagen, die angespannte
Thätigkeit der Direction in so rascher Novitätenfolge fordert
zur Anerkennung heraus. Es geschieht, soweit wenigstens un
ser Erinnern zurückreicht, zum erstenmal, daß im Hofopern
theater binnen zehn Tagen drei Novitäten aufgeführt, und
sehr gut aufgeführt wurden.
Der Componist der neuen Oper, Herr Ignaz Brüll,
ist hier längst als virtuoser Pianist, gesuchter Lehrer und
talentvoller Tondichter bekannt. Wiener von Geburt und
Wohnsitz, verdankt er trotzdem die Aufführung seines drama
tischen Erstlingswerkes keineswegs einer blos patriotischen
Protection; sein „Goldenes Kreuz“ hat bereits in den Hof
theatern von Berlin und Dresden die Feuerprobe bestanden,
kleinerer Bühnen nicht zu gedenken. Die Carrière der „Fol
kunger“ und des „Goldenen Kreuzes“ — beides Erstlings
werke, welchen selbst persönliche Vorliebe einen hohen Rang
nicht einräumen wird — ist uns ein neuer Beweis, daß es
mit der vielbejammerten Zurücksetzung deutscher Opern-Com
ponisten im Vaterlande keineswegs so schlimm steht. Das
alte Klagelied von der „blinden Bevorzugung aller aus
ländischen Musik“ in Deutschland muß doch wol ver
stummen angesichts solcher Thatsachen. Nicht um einen
Stein auf diese durchwegs ehrenwerthen Partituren
zu werfen, sondern um ihn abzuwälzen von dem
verlästerten deutschen Publicum, gestehen wir ehrlich, daß
wir, ganz absehend von Bedeutenderem, in Einem Acte von
Bizet’s „Carmen“ mehr Talent und Geist wahrzunehmen
glauben, als in den „Folkungern“ und dem „Goldenen
Kreuz“ zusammengenommen. Und doch hat außer Wien un
seres Wissens keine deutsche Stadt von „Carmen“ Notiz
genommen. Wir bezweifeln nicht, daß Brüll und Kretsch
mer auch wieder manchen Vortheil haben vor dem Franzo
sen, den wesentlichsten vor Allem: am Leben zu sein, während
Bizet todt ist und nicht weiter fortschreiten kann.
Unser allezeit hilfreicher Mosenthal, poetischer
Nährvater aller bedrängten Opern-Componisten, hat Herrn
Brüll das Libretto geliefert. Es erinnert uns an den schönen
lateinischen Wahrspruch: „Beatus, cui Deus obtulit, parca
quod satis est manu.“ Auch Mosenthal verabreichte seinem
musikalischen Freunde „mit sparsamer Hand das Nothwen
dige“ zur Composition einer Oper, kein Körnchen darüber.
Den Stoff entnahm er einem französischen Vaudeville von
Dumanoir, das in den Dreißiger-Jahren an der Porte
Saint-Martin, später auch unter Carl (der den Invaliden
spielte) im Theater an der Wien gegeben worden. Es hält
schwer, „Das goldene Kreuz“ unter die feststehenden Kate
gorien von Opern einzureihen; der Form nach eine „Opéra
comique“ im französischen Sinne, kann es doch in Deutsch
land kaum eine komische Oper heißen. „Das goldene
Kreuz“ ist ein ländliches Rührstück, um das zeitweilig einige
heitere Lüftchen spielen. Der junge Wirth Nicolas (Herr
Mayerhofer) wird zur Großen Armee conscribirt und
soll, gerade an seinem Hochzeitstage, nach Rußland abmar
schiren. Seine Schwester Christine (Frau Ehnn) verspricht
demjenigen ihre Hand, welcher freiwillig als Ersatzmann für
Nikolaus eintreten würde. Keiner von ihren ländlichen Ver
ehrern findet sich bereit dazu, wol aber ein junger Edelmann,
Gontran (Herr Walter), welcher unbemerkt Zeuge des
ganzen Vorgangs gewesen. Er stellt sich für Nikolaus beim
Regiment und beauftragt den Sergeanten Bombardon (Herr
Scaria), für ihn das Pfand des Verlöbnisses, Christi
nens goldenes Kreuz, in Empfang zu nehmen. Mit dem
Abmarsch der Truppen schließt der erste Act. Der zweite
spielt drei Jahre später und führt uns in die glückliche
Häuslichkeit des Ehepaares Nicolas und Therese (Frau
Dillner). Bei ihnen weilt unerkannt der inzwischen zum
Hauptmann avancirte Gontran, der, im russischen Feldzug
verwundet, unter der Pflege der beiden Frauen eben genesen
ist. Christine liebt ihren Schützling und weiß sich von ihm
geliebt; aber dem unbekannten Stellvertreter ihres Bruders,
der ja täglich mit seinem goldenen Kreuz auftauchen kann,
will sie die Treue nicht brechen. Das Erscheinen des zum
Krüppel geschossenen Bombardon, der dem todtgeglaubten
Gontran das goldene Kreuz auf dem Schlachtfelde abgenom
men, löst endlich alle Schwierigkeiten, und wie der erste, so
schließt auch der zweite Act mit einer Hochzeit.
Herrn Brüll ist es gelungen, zu diesem einfach, aber
geschickt gebauten Libretto eine entsprechend anspruchslose
Musik zu schreiben. „Anspruchslos“ nennen wir seine Com
position im lobenden Sinne. Der Componist hält den Ton
der Spieloper gewissenhaft fest und versteigt sich nirgends
(oder doch nur ganz vorübergehend, wie in dem Liebesduett)
in das hochgespannte Pathos oder die grelle Instrumentirung
der Großen Oper. Wer, gleich uns, so oft mit Schrecken
erleben muß, wie Componisten leichter Singspiele, ja lustiger
Vorstadt-Operetten sich zu der Posaunensprache des „Pro
pheten“ oder „Tannhäuser“ aufblasen; wer in jeder neuen
Musikalien-Sendung Lieder antrifft, welche (wie neuestens die
von Herrn Mottl) das einfachste lyrische Gedicht in
Cayenne-Pfeffer sieden und eigentlich Clavier-Etuden mit zu
fälliger Begleitung einer Menschenstimme sind — der muß
die Rückkehr zu natürlicher Empfindung und melodiösem Aus
drucke mit Freude begrüßen. „Das goldene Kreuz“ weiß
nichts von Verdi und Meyerbeer, war auch nicht in Bayreuth.
Brüll schreibt fließend und sangbar, in dem Chor von
Christinens Verehrern und den ersten Couplets des Bom
bardon verräth er ein hübsches Talent für maßvolle Komik,
in dem ersten Finale (der weitaus besten Nummer) ein
munteres Herz und einen offenen Blick für das theatralisch
Wirksame. Die Vortheile der Franzosen hat er sich wohl
hinter’s Ohr geschrieben, wie dies namentlich seine Behand
lung der Romanzenform und vieles Einzelne (Glöckchenchor
im ersten Act etc.) darthut. Zum Glück stechen diese Anklänge
doch nirgends grell ab von dem vorwiegend deutschen Styl
des „Goldenen Kreuzes“, welches an Schubert, Lortzing und
Kreutzer anknüpft. Das sind, unseres Erachtens, für die
deutsche komische Oper die ersprießlichsten Anknüpfungspunkte
und der richtigste Boden. An etwas anknüpfen heißt aber zugleich,
den Faden eigener Erfindung vom Ausgangspunkte weiter
führen. Sich auf den richtigen Boden stellen, reicht in der Kunst
nicht hin; man muß von da höher hinauf bauen. In diesem Be
tracht hätten wir von Herrn Brüll mehr und Größeres gewünscht.
Er stellt sich nicht sowol auf die Schultern seiner Vorgän
ger, als daß er ihnen auf den Fersen folgt. Für einen jun
gen, modernen Componisten verräth Herr Brüll häufig
einen befremdenden Rococogeschmack. Dinge wie die beiden
Duette zwischen Therese und Colas im ersten und zweiten
Acte, wie der Quartettsatz „Sie wankt“, der Chor „Gute
Nacht“, klingen doch stark vor-Lortzingisch, manche Stelle
streift gar an Dittersdorf und Weigl. Es ist und bleibt
rühmlich, wenn ein moderner Componist im Singspiel zu
den schlichten, prahllosen Tugenden der Alten zurückkehrt;
damit allein ist’s aber nicht gethan, das Wichtigste bleibt
immer: im Alten neu zu sein. Und hier steckt der
schwache Punkt von Brüll’s Composition; es fehlt ihr, bis
auf einzelne glückliche Ausnahmen, der Stempel der Origi
nalität, die schöpferische Kraft und Eigenart. Melodien wie
die (obendrein höchst wichtige) Phrase: „Nehmt hin das
Kreuz“, der Schlußsatz des Duetts zwischen Gontran und
Bombardon, des Letztern Couplets im zweiten Acte, die
Hauptstellen des Liebesduetts („Dir gehör’ ich“ und „Welche
Wonne, welch’ Entzücken!“) — wie oft glauben wir das
Alles schon gehört zu haben! Der hervorstechendste Charakter
zug von Brüll’s Musik scheint uns eine gewisse bequeme
Gemüthlichkeit. Man durfte von einem jungen Manne etwas
mehr Feuer und Lebendigkeit erwarten. Sein lauterer Sinn
für Wohlklang und Symmetrie bezeugt die echt musikalische
Natur Brüll’s; allein dieser Wohlklang entbehrt häufig der
geistigen Beseelung, diese Symmetrie, welche nach zwei oder
vier Tacten uns stets die folgenden zwei oder vier errathen
läßt, des Reizes der Zufälligkeit. Der Hörer will in der
Oper nicht blos musikalisch beschwichtigt, er will auch durch
neue Schönheiten oder schöne Neuheiten überrascht und ent
zückt werden. Einen kräftigern Aufschwung erschwerte viel
leicht, aber verhinderte nicht die friedlich idyllische Handlung.
Man kann auch auf dem Dorfe originell sein und neue
Ideen haben im Wirthshaus „zur Mühle“. Indessen der
Componist ist jung und das „goldene Kreuz“ das erste,
das er sich auf den heißen Brettern des Theaters
erworben. Hoffen wir, daß Brüll’s Talent recht bald zu
seiner freundlichen Anmuth auch jenes Maß von Kraft und
Selbstständigkeit hinzugewinne, ohne welche heute ein Opern
componist wol die Achtung, aber nimmermehr die Liebe und
Hingebung des Publicums erringen kann.
Die Aufnahme der Novität war, wie bereits gemeldet,
eine überaus günstige im Hofoperntheater. Dahin paßt sie
eigentlich gar nicht, diese bescheidene Spieloper mit gesproche
nem Dialog und ländlich schmuckloser Scenerie, die wie ge
macht ist für eine kleine Bühne. Um so ehrenvoller ist ihr
Erfolg, der sich noch steigern ließe durch einige herzhafte
Striche in dem ungebührlich ton- und redseligen zweiten Act.
„Das goldene Kreuz“ erlebte unter der sorgfältigen Leitung
Hanns Richter’s eine sehr gerundete Aufführung. Letztere
fand ihr belebendstes Element in den Damen Ehnn und
Dillner, welche die beiden — nach Art einer Agathe und
Aennchen im „Freischütz“ contrastirenden — Frauenrollen
vortrefflich sangen und spielten. Sergeant Bombardon ist
eine der wirksamsten, gelungensten Rollen des Herrn Scaria,
dem sich in den minder dankbaren Partien des Gontran und
Nicolas die Herren Walter und Mayerhofer bei
fällig an die Seite stellten. Die genannten Künstler wurden
sammt dem Componisten wiederholt gerufen.
„Coppelia“? Der seltsame Name wird Manchen
befremdet haben. Er ist das Femininum von Coppelius
und Coppelius selbstverständlich der Name eines halbverrück
ten deutschen Gelehrten, welcher sicherlich von Haus aus
Koppel hieß. Nachdem ihm mit der Gelehrsamkeit auch die
lateinische Endung angewachsen war, verfertigte dieser Ehren
mann nebst anderen Wunderdingen einen weiblichen Auto
maten von großem Liebreiz und absonderlicher Beweglichkeit,
welcher den Namen „Coppelia“ erhielt. Ein jugendlicher
Schwärmer, Franz (Fräulein Mauthner), verliebt sich
über die Straße in die am Fenster sitzende Wachsfigur und
erregt dadurch die Eifersucht seiner Verlobten, Swanilda
(Fräulein Linda). Diese benützt die Abwesenheit des alten
Coppelius (Herr Frappart), um sich selbst an die Stelle
des „Mädchens mit den Glasaugen“ auf das Postament zu
setzen und so als lebendige Coppelia zugleich den alten
Magier zu necken und ihren schnellbekehrten Bräutigam wie
derzugewinnen. Dies ist ungefähr der von allerlei lustigem
und phantastischem Beiwerk umrankte Kern des neuen Ballets,
zu welchem wol gleichmäßig E. T. A Hoffmann’s grauen
volles Märchen vom „Sandmann“ und Adam’s lustige
Operette: „La poupée de Nuremberg“ den Anstoß gaben.
Die Handlung hat den Balletmeister Saint-Léon zur Ent
faltung reizender Tänze und den Componisten Delibes zu
einer ebenso graziösen wie charakteristischen Balletmusik an
geregt. Leo Delibes ist den Wienern kein Fremder. Seine
allerliebste Spieloper: „Le roi l’a dit“, eines der besten
neueren Werke dieser Gattung, hat hier zahlreiche Wieder
holungen erlebt und über die „Komische Oper“ am Schot
tenring einen letzten Glanz gebreitet. Seither verdankt ihm
die Pariser Große Oper drei Ballette: „La source“, „Cop
pelia“ und „Sylvia“ (nach Tasso’s Schäferspiel „Amynta“),
deren Musik Kenner wie Laien heranzieht und fesselt. In
Deutschland ereignet es sich kaum, daß namhafte Schriftsteller
und Componisten sich entschließen, mitunter auch für das
Ballet zu arbeiten. Anders in Paris. Der Dichter Theophil
Gautier hat der Großen Oper nicht weniger als sechs
Ballet-Poëme geschrieben; berühmte Operncomponisten wie
Auber, Halévy, Herold, Adam („La Gisella“) ver
schmähten es nicht, Balletmusik zu componiren. Deutsche
Componisten sind mit ihren Melodien viel zu geizig, um die
selben für Ballette auszugeben; sie antworten ähnlich wie
unsere Dichter auf das Ansuchen um ein Opern-Libretto:
„Wenn ich einen guten Bühnenstoff habe, so mache ich ein
Drama daraus.“ Dieser Ideengeiz, dem oft ein noch un
edlerer zur Seite steht, verschuldet den Mangel an guten
Operntexten, an guten Balletmusiken in Deutschland. Der
Balletcomponist muß sich allerdings manchen beschwerlichen
Bedingungen fügen, welche die Technik des Ballets dictirt.
Er muß nachgiebiger sein gegen den Balletmeister, als der
Libretto-Dichter gegen den Operncomponisten. Schreibt aber ein
talentvoller Componist gute Musik zu einem Ballet, so ist
der Erfolg des letzteren zur Hälfte gesichert. Wie viel hat
Hertel’s melodiöse Musik zum Erfolg der „Satanella“
beigetragen! Das ist eine Ausnahme. In der Regel wird in
Deutschland und Italien der musikalische Theil der Ballette
viel zu nebensächlich und schleuderhaft behandelt. Und
doch könnte man die paradoxe Behauptung wagen
und begründen, es sei die Aufgabe der Musik noch
wichtiger und dankbarer im Ballet als in der Oper.
Wichtiger: denn die taubstumme Handlung bedarf weit drin
gender als das Wort der musikalischen Deutung und Be
lebung; dankbarer: weil der Balletcomponist, unbeengt von
Wort- und Stimmrücksichten, sich mit der Freiheit des reinen
Instrumental-Componisten bewegen kann, ohne je, wie dieser,
ein Mißverständniß seiner Absichten zu befürchten. De
libes’ Musik zu „Coppelia“ hat das zweifache Verdienst,
melodiös reizend und zugleich überall dramatisch bezeichnend
zu sein. Wie fein und genau schmiegt ihr Rhythmus sich
den getanzten Rhythmen auf der Bühne an, wie lebendig
erklären seine Instrumente, was der Mimik des Tänzers
auszudrücken nicht vergönnt ist! Wir erinnern an das ge
heimnißvoll flüsternde Geigenmotiv (mit Sordinen) beim
Eintreten der furchtsamen Mädchen in Coppelia’s Atelier,
an den „Tanz der Puppe“ im zweiten Acte, der die komisch
abgemessenen, mechanischen Bewegungen des Automaten so
köstlich illustrirt u. s. w. Aus rein musikalischem Gesichts
punkt sind die Orchester-Variationen (über ein polnisches Lied
von Moniuszko) im ersten Act ein kleines Cabinetsstück,
wie es selten in Balletten vorkommt. Die anziehende Hand
lung, die brillanten Tänze, Delibes’ graziöse Musik,
Brioschi’s malerische Decorationen, endlich die unüber
treffliche Ausführung der beiden Hauptrollen durch Fräulein
Linda und Herrn Frappart — das Alles vereinigte
sich in „Coppelia“ zu einem Ensemble, das den rauschend
sten Beifall entfesseln mußte und ihn voraussichtlich noch in
vielen Wiederholungen entfesseln wird.