Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4386. Wien, Donnerstag, den 9. November 1876 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 4386. Wien, Donnerstag, den 9. November 1876 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 09.11.1876
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Oper und Concert.

Ed. H. Alljährlich bleibt sie stehen, die Komische Oper, so festgerannt und aussichtslos, als wollte sie niemals wieder in Gang kommen. Ein plötzlicher Ruck, ein großer An schlagszettel, ein neuer Director, und — „sie bewegt sich doch!“ rufen wir mit dem von Galilei niemals gesprochenen, aber durch ihn berühmt gewordenen Worte aus. Von viel verheißendem Anfange ist unsere Komische Oper unter einem Halbdutzend Directionen erst stufenweise, dann förmlich ter rassenweise herabgestürzt in ein schmutziges Dorngestrüpp, das wie zum Hohne „Rosenfeld“ hieß. Hier lag sie zuletzt regungslos, unbemitleidet. Und neuerdings bewegt sie sich doch, die Oper am Schottenring, freilich weniger um die Sonne der Tonkunst, als um das „Lustige Elend“ und den Levi auf der Alm“. Volksstück und Posse haben dort die Oper gleichsam ins Schlepptau genommen, sie folgt in de müthigem Abstande, fast widerwillig. Wir glauben nicht, daß ihr, der zu herrschen Gewohnten, solche Vasallenstellung frommen kann. In jedem Theater, das die Oper pflegt, muß diese den ersten Platz einnehmen oder doch ihn mit einem musterhaften Schauspiele redlich theilen. Wien zumal beherbergt ein im Operngenusse verwöhntes Publicum, das sich weder diesseits noch jenseits der Ringstraße anlocken läßt durch ein abgespieltes Repertoire und mangelhafte Darstellun gen. Wir wissen recht wohl, welch kostspieliges Ding eine gute, großstädtisch lebensfähige Opernbühne ist, und deßhalb folgen wir, offen gestanden, selbst den Anstrengungen eines muthigen und erfahrenen Directors, wie Herrn Hirsch, mehr mit guten Wünschen als mit großen Hoffnungen. Wir können unsere Ueberzeugung nicht abschwören, daß eine eigene Komische Oper, wie sie Wien besitzen soll, nur existiren kann, wenn sie eine dem Hofoperntheater coordinirte, vom Staate subventionirte Stellung erhält, wie die Opéra Comique in Paris. Diese wünschenswerthe Lösung — aufgeschoben, aber

nicht aufgehoben — darf uns jetzt nicht beschäftigen; wir haben über die Wirklichkeit zu sprechen, nicht von der Zu kunft zu träume.

Director Hirsch vermochte bisher die beiden ersten Bedingungen eines erfolgreichen Operntheaters nicht zu rea lisiren — treffliches Ensemble und interessantes Repertoire — er greift zu dem dritten Mittel, dem „Star-System“, wie es die Engländer nennen, und fängt einzelne „Sterne“ zum Gastspiel ein. Das Mittel scheint zu wirken. Die erste Vor stellung des königlich bayrischen Kammersängers Herrn Nachbaur als „Postillon von Lonjumeau“ war trotz des abscheulichsten Wetters sehr gut besucht. Herr Nachbaur zählt jetzt bekanntlich zu den gefeiertesten und kostspieligsten Tenoristen Deutschlands. Im Anfang seiner Carrière lernten ihn die Wiener kennen, als er, fast gleichzeitig mit Herrn G. Müller, im Hofoperntheater gastirte. Der Erfolg bei der Sänger hielt sich so ziemlich die Wage, und wenn wir mit dem schließlichen Siege Müller’s sympathisirten, so soll uns dies nicht beirren in der gerechten Schätzung seines Ri valen. Herrn Nachbaur’s Stimme, die an dem Glanz ihrer Höhe nur sehr wenig eingebüßt hat, klingt kräftig, gesund und wohl ausgeglichen. Seine Kehlengeläufigkeit ist sehr acht bar, die Verbindung der Bruststimme mit dem Falsett ge schickt, die Aussprache deutlich, wenngleich nicht von reinstem Hochdeutsch. Die Tonbildung hat mitunter etwas Har tes, Starres. Ob Stimme und Gesangsweise des Herrn Nachbaur zu den „sympathischen“ gehören, muß jeder Hörer für sich entscheiden; das Sympathische ist etwas Relatives, Individuelles und sollte streng genommen nie als allgemeingiltiges Lob zugesprochen werden. Was wir an dem Timbre seiner Stimme, wie auch häufig in seinem Vortrag vermissen, ist Adel und Poesie, jener un definirbare Schmelz, der so sachte und unwiderstehlich sich durch das Ohr in unser Herz schmeichelt. Auch der Dar stellung Herrn Nachbaur’s, so emsig sie alles Erforder liche zusammentrug, fehlte das rechte innere Leben. Freilich ist Chapelou ein eitler, im zweiten Acte sogar geckenhaft

eitler Bursche, der wenig Anlaß zu seelenvollem Vortrag gibt, höchstens zu elegantem. Wir wollen daher zur Be festigung unseres Urtheils Herrn Nachbaur’s weiteres Gast spiel abwarten, dessen Anfang — wie wir bereits gemeldet — von rühmlichstem Erfolg begleitet war. Dem geschätzten Gaste stand in der Vorstellung des „Postillon“ nur Frau Charles-Hirsch ebenbürtig zur Seite, ja sie übertraf ihn häufig an feinem musikalischen Geschmack. Durch den zarten Wuchs ihrer Stimme auf ein kleines Genre ange wiesen, auf den Ausdruck des Anmuthigen und Zierlichen, zeigt sich Frau Hirsch doch gleich mit den ersten Noten, die sie anschlägt, als eine Sängerin von bester Schule. Wie be stimmt, rein und zart faßt sie den Ton, weiß ihn zu tragen, zu schwellen und in glitzerndem Zierrath zerstauben zu lassen! Der Silberfaden, den sie so graziös spinnt, ist nicht nur sehr fein, sondern (wie bei dieser Art hoher Sopranstimmen oft vorkommt) einfärbig; er läßt keine Mannichfaltigkeit, kein Colorit zu und wird dadurch im Verlaufe einer längeren Arie etwas monoton und eindruckslos. Dies schmälert nicht das künst lerische Verdienst dieser Sängerin und nur sehr wenig das Vergnügen, womit wir ihr lauschen. Die übrige Besetzung war auffallend traurig, das Wort auch subjectiv gewendet. Der Marquis de Corcy, in der Oper als Lebemann und Courmacher geschildert, glich dem alten Moor, wie er aus dem Hungerthurm geholt wird. Der Darsteller des Wagners Bijou, dieser hochergötzlichen Figur, sang und sprach mit dem langweiligen Pathos eines Leichenbitters. Beiden schien jeder Hauch von Humor und Laune zu versagen. Und diese witzlose, übellaunige Stimmung lastete auf der ganzen Vor stellung. Trotzdem freuten wir uns, nach längerer Zeit wie der einmal den „Postillon von Lonjumeau“ zu hören mit seiner gut erdachten, amüsanten Fabel und seiner so frischen, anspruchslos heitern Musik. Bei dem andauernden Mißwachs auf dem Felde des musikalischen Lustspieles wäre es wol gerathen, sich zeitweilig Adolph Adam’s zu erinnern. Eine beträchtliche Anzahl seiner Opern gehört bleibend der Ver gessenheit — schrieb er doch so viel und so flüchtig — aber

Werke wie „Giralda“ und „Der Torreador“ ließen sich mit Vortheil dem deutschen Repertoire einverleiben. „Giralda“, eine der gelungensten Compositionen Adam’s auf eines der allerbesten Textbücher von Scribe, füllt gegenwärtig wie der die Räume der Opéra Comique in Paris. „Giraldaund „Der Torreador“ gelten den Franzosen für Perlen ihrer Opern-Literatur und wurden selbst von Halévy hochge stellt, noch über den „Postillon von Lonjumeau“. Letzterer, im October 1836 zuerst gegeben, hat sein vierzigstes Jahr zurückgelegt, ein respectables Alter für eine leichte komische Oper. Ein interessanter Zwischenfall aus der Entstehungsgeschichte des „Postillons“ dürfte wenig bekannt sein und deßhalb hier ein Plätzchen finden. Wir entnehmen denselben einer hand schriftlichen Aufzeichnung A. Adam’s und lassen diesen selbst sprechen.

„Nachdem mein Ballet („La fille du Danube“) glück lich vom Stapel gelaufen, beschäftigte ich mich eifrig und ausschließlich mit den Proben zum „Postillon von Lonjumeau“. Das Publicum, das so streng und leichthin über uns urtheilt, hat keine Ahnung von den Mühen und Verdrießlichkeiten, welche die Proben einer neuen Oper bereiten. Die Arbeit selbst ist ein Vergnügen, ist das Paradies; die Proben sind die Hölle. Man ist da nicht nur den Launen und Ansprüchen der Sänger unterworfen, sondern obendrein den Wechselfällen ihrer Privatleidenschaften. Als die Rollen für den „Postillonvertheilt wurden, lebten Chollet (der Sänger des Chapelou) und Mlle. Prévost (Madeleine) in gemeinschaftlichem Haushalt und innigster Harmonie. Aber leider zerstörte vor Beginn der Proben ein Zufall in Gestalt der reizenden Jenny Colon dieses Liebesverhältniß! Chollet hatte seine Woh nung verlassen, und die Verzweiflung der Prévost war so groß, daß man glaubte, sie werde nie wieder mit ihm zugleich auftreten können. Die Textdichter (Leuven und Brunswick), desgleichen der Director, wollten die Rolle einer andern Sän gerin zutheilen. Ich allein wehrte mich dagegen. Die Prévost war mir lieb, und ich zweifelte nicht, daß sie an der eigens für sie geschriebenen Rolle hing. Es schien mir grausam,

dieser armen Frau zu gleicher Zeit den angebeteten Mann und eine schöne Rolle wegzunehmen. Ich suchte sie daher auf und fragte, ob sie den Muth hätte, mit Chollet eine Rolle zu spielen, die so viel Aehnlich keit mit ihren eigenen Erlebnissen habe. „Ja, mein Freund,“ erwiderte sie, „ich werde den Muth haben! Ich will, daß es meine schönste Leistung werde. Und wer weiß? Chapelou kehrt auch zurück zu seiner Madeleine.“ . . . „Ja, aber nach zehn Jahren!“ — „Wolan denn, ich werde war ten! Ich verspreche Ihnen, stark zu sein, und Ihr Werk soll nicht leiden unter meinem Schmerz.“ — In der That hatte die arme Frau viel zu erdulden. Und wir Uebrigen auch, in anderer Weise! Jenny Colon wich nicht von Chollet und erschien mit ihm auf der Probe. Die Prévost bekam einen Nervenkrampf, als sie ihre Rivalin erblickte. Fast jeden Tag hatten wir dieselbe störende und traurige Scene. Doch muß ich zum Lobe Chollet’s und der Prévost bestätigen, daß die Proben darunter nicht litten, sondern mit größtem Eifer fort gesetzt wurden. Aber ich that einen Schwur, nie wieder eine neue Oper zu schreiben, bevor ich nicht der Gefühle und Herzens geschichten meiner Sänger völlig sicher sei. Die erste Vor stellung fand am 13. October statt, mit ungeahnt glän zendem Erfolge. Das Publicum hatte keine Ahnung beim Anblick von Chapelou und Madeleine, daß dieses Pärchen tief entzweit sei. Chollet, der sich im Unrecht fühlte und im Grunde nicht böse, sondern nur schwach war, hatte vor der Vorstellung die arme Prévost ermuthigt und ihr nach dem ersten Act ein schönes Armband mit dem eingravirten Da tum der Vorstellung verehrt. Diese Aufmerksamkeit gab ihr Muth und Hoffnung.“

Gehen wir zur Concertsaison über, welche durch Her beck mit dem ersten Gesellschaftsconcert würdig eingeweiht wurde. Neu war darin blos ein kurzer Vocalchor von Hanns Leo Hasler (geboren 1564). Durch seinen Text ist er wie prädestinirt zum Eröffnungsstück eines beginnenden Musikjahres: „Nun fanget an ein gut’s Liedlein zu singen, laßt Instrument’ und Lauten auch erklingen!“ Nur ist selt

samerweise diese fröhliche Aufforderung in Moll gehalten. Wir machen dieselbe Wahrnehmung häufig bei Chören aus dem sechzehnten Jahrhundert, wo nicht nur die Herrschaft der Kirchen-Tonarten die Grenzen zwischen Dur und Moll ver wischte, sondern überdies Vorliebe herrschte für Moll-Tonarten und gemessenes Tempo, selbst in heiteren Stoffen. In man chen protestantischen Chorälen wird noch heutzutage in Moll frohlockt. Hasler’s Chor wirkt übrigens in seiner herben Kraft und Naivetät sehr anziehend. Der Mann ist uns nicht umsonst aus einer Menge verschollener Zeitgenossen erhalten als eine Hauptsäule der vor-Bach’schen Periode deutscher geistlicher Tonkunst, uns Oesterreichern noch näherstehend durch seinen mehrjährigen Aufenthalt in Wien und Prag als Hofmusikus Kaiser Rudolph’s II. — Der „Schnitterchor“ aus Liszt’s Cantate „Prometheus“ wird für eine der klarsten und melodiösesten Compositionen dieses Feuerbrandes angesehen und deßhalb häufiger in Concerten aufgeführt. Hört man den Chor an seiner ursprünglichen Stelle, nämlich mitten unter den musikalischen Qualen der Prometheus-Cantate, so wirkt er allerdings wie ein Labsal. Herausgenommen, selbstständig und zwischen zwei einfach edle, gemüthvolle Chöre von Men delssohn gestellt, kann er doch sein raffinirtes Wesen nicht verleugnen, das durch den überreichen Klingklang der Instrumentirung dürftig und banal durchblickt. Mendels sohn’sAbschied vom Walde“, vom Singvereine ausdrucks voll vorgetragen, konnte unmittelbar darauf des Da-Capo- Rufes sicher sein. Herr R. Joseffy spielte Chopin’s E-moll-Concert, das wir im vorigen Jahre von ihm bei den Philharmonikern gehört. Er spielte es genau so wie da mals, bis auf den kleinsten Tupfer oder Stecher auf eine bestimmte Taste und das dazugehörige jähe Aufschnellen der Hände. Bei diesem Virtuosen ist Alles bis auf die ge ringste Nuance ausgefeilt und unabänderlich festgestellt, der Inspiration des Augenblicks bleibt nicht die leiseste Regung überlassen. Es gibt heute wenige Pianisten, deren fein und glänzend ausgearbeitete Technik uns größere Bewunderung ab zwänge, als die Joseffy’s, aber auch wenige, die uns dabei

so kalt lassen, wie er. Die zierlichen Blüthen, denen Cho pin’s Vortrag Duft und Farbe verlieh, sie werden unter Joseffy’s Fingern zu Eisblumen am gefrornen Fenster. Das Publicum hielt sich an die blendende Seite dieses Virtuosen und rief ihn nach Verdienst hervor.

Das Concert schloß mit Beethoven’sC-moll-Sym phonie, deren Aufführung unter Herbeck’s anfeuernder Leitung vortrefflich gelang und uns nur zwei Bedenken ver ursachte: das allzu rasche Tempo des ersten Satzes und die fast unabsehbar lange Dehnung der beiden ersten Fermaten. Der Saal war in allen Räumen gefüllt; ein gutes Omen für — gute Concerte.

Das „Florentiner Quartett“ mit Jean Becker an der Spitze, ein oft und gern gesehener Besuch, stellte sich diesmal mit einer interessanten Novität ein: dem neuen Streich quartett von Verdi. Es ist ein rühmlicher Ehrgeiz, der den italienischen Opernkönig im Spätherbst seines Lebens an treibt, sich als ernsten, gediegenen Musiker zu legitimiren. Zwei dieser großen Versuche darf man gelungen nennen: Aïda“, wo ihm sein theatralisches Talent, und das Requiem, wo ihm wenigstens seine Kunst in klangvollem Vocalsatz zu statten kam. Anders und schwieriger geartet ist für ihn jede Aufgabe in reiner Instrumental-Musik, vor Allem in deren prunklosestem, geistigstem Zweige: dem Streichquartett. Seit dem alten Boccherini, dem Rivalen unseres Haydn in der Priorität der Quartett-Composition, und dem gelehrten Cherubini hat kein italienischer Com ponist sich mit Kammermusik herausgewagt. Erst Verdi nahm den Versuch wieder auf und ist, unseres Erachtens, damit verunglückt. Man kann allenfalls bewundern, daß der Componist des „Trovatore“ es auch nur zu dieser Selbstverleugnung und Rührigkeit auf so ganz fremdem Boden gebracht, das Werk selbst bleibt durchaus unbedeutend und unerfreulich. Das Thema des ersten Satzes (Allegro, E-moll), etwa im Style Onslow’s oder Reissiger’s, scheint etwas Quartettmäßiges zu versprechen; aber sehr schnell fühlt der Componist das Bedürfniß, Feuer und Leidenschaft

in den Satz zu bringen, und thut dies ganz äußerlich durch einen Theatersturm in Sechszehntel-Passagen. Besser, und das beste Stück von allen, ist das Andantino in C-dur, das in Rhythmus und Melodie an manche elegische Mazurka von Chopin erinnert. Auch diese Stimmung unterbricht, auch diesen Satz verdirbt sich der Autor durch einen ganz un passend stürmischen, nichtssagenden Mittelsatz. Den dritten Satz, ein Prestissimo in E-moll, finden wir einfach abscheu lich, eine Art Balletmusik zu einer Höllenscene, unterbrochen durch eine unter gemeinklingenden Terzen-Pizzicatos fort schleichende alltägliche Cello-Cantilene. Zu unserer großen Ueberraschung wurde gerade dieser Satz da capo be gehrt, vielleicht weil das Publicum hier wenigstens etwas von seinem alten, ungenirten Opern-Verdi wiederfand. Ernster gemeint, mühsamer ausgeführt, aber nicht weniger unerquicklich ist das Finale, ein fugirtes Allegro molto in E-moll. Das fünf Tacte lange, aus lauter gleichen stakkirten Achtelnoten gebildete Thema hebt sich wegen dieses Mangels an rhythmischen Einschnitten nicht prägnant heraus bei den verschiedenen Eintritten; es wird ein ganz uninteres santes Gewirre, halb Schulaufgabe, halb Violin-Etüde. „Ein Quartett componiren — warum sollte sich das nicht lernen lassen für einen Mann von Talent?“ scheint Verdi sich ge fragt zu haben. Es ist aber unsäglich schwer für einen Com ponisten, sich in einen Styl, eine Kunstform einzulernen, die nicht nur ihm selbst, sondern seiner ganzen Nation fremd ist. Daß Verdi den Quartetten von Beethoven und Mendelssohn einige Aeußerlichkeiten ablernte, macht den Abstand fast noch schlimmer. Ungleich geringer begabte deutsche Componisten schreiben mit Leichtigkeit bessere Quartette, als dieses Verdi’sche, weil die Anlage ihres Volkes, ihre ganze musi kalische Erziehung, alle großen Traditionen da mitarbeiten. Jean Becker und Genossen verwendeten ihre glänzendste Virtuosität auf das Verdi’sche Quartett, das trotzdem nur kurze Zeit von der rasch gesättigten Neugierde des Publicums leben dürfte.