Oper und Concert.
Ed. H. Auf den 16. December 1875 fiel der hundertste
Geburtstag Boieldieu’s, des Componisten der „Weißen
Frau“, des „Rothkäppchen“ und „Johann von Paris“. Alle
Opernbühnen Frankreichs und Deutschlands feierten dieses
Jubiläum mit einer solennen Aufführung der „Weißen
Frau“ — nur unser Hofoperntheater ignorirte den Tag,
sogar das Jahr. Man wird sich erinnern, daß damals ge
rade der prachtvoll verschlimmbesserte „Tannhäuser“ das
Hofoperntheater wochenlang in Anspruch nahm und das
Personal tyrannisirte, „so weit die vorhandenen Kräfte
reichten“. Da verschlang denn auch der vielbesprochene
weiße Schwan die weiße Frau. Nachträglich scheint die Di
rection doch einige verspätete Gewissensbisse empfunden zu
haben, sie weckte die „Weiße Frau“ aus fünfjähriger Archivs
ruhe und brachte sie jetzt neu scenirt und sorgfältig vorbe
reitet zur Aufführung. Es war eine Vorstellung, so schön
gerundet auf der Bühne, so andächtig gehört im Parterre,
daß sie einer nachträglichen Boieldieu-Feier nicht unähnlich
erschien. Der Zufall oder Herr Nachbaur wollte es, daß
obendrein die „Weiße Frau“ gleich am nächsten Abend in
der Komischen Oper sich zeigte, somit wurde die verspätete
Erinnerungsfeier wenigstens zu einer verdoppelten. Im Hof
operntheater sang Herr Müller den George Brown mit
ebenso erfreulichem wie überraschendem Gelingen. Denn er
mußte seiner ganzen Individualität diese widerspenstige Rolle
förmlich abringen, dazu gehört große Willenskraft und ein
heroischer Fleiß. Gibt es überhaupt wenig deutsche Tenoristen,
welche die so ausgeprägt französische Lustspielfigur glaubwür
dig darzustellen vermögen, so mußte sie gerade Herrn Müller
besonders schwerfallen. Ernsthafter Deutscher, weich von Ge
müth, hart von Aussehen, bescheiden bis zur Schüchternheit,
erscheint Müller fast wie ein Gegenstück zu dem lustigen,
kecken LieutenantBoieldieu’s. Leichte Beweglichkeit in Spiel
und Conversation schienen ihm bis vor Kurzem unerreichbar.
Lächeln war ihm eine Anstrengung, Lachen ein Unding. Wo
die komische Oper nicht als selbstständige Gattung gepflegt
wird oder gar (wie im Hofoperntheater) nur als seltene
Ausnahme erscheint, da ist es auch dem talentvollsten Sänger
schwer gemacht, sich den Lustspielton anzueignen. Wie sehr
Herr Müller seit einiger Zeit sich als Darsteller vervoll
kommt hat, ist uns nicht entgangen. Aber es bleibt immer
nach ein großer Unterschied, in ernsten Rollen wie Fernando
oder Ernani dramatische Fortschritte zu zeigen — selbst José
in „Carmen“ und Nemorino im „Liebestrank“ sind durchaus
sentimentale Charaktere — oder als französischer Lieutenant
„alleweil fidel“ zu sein. Zugegeben, daß Müller’s George
Brown noch einige Spuren nicht vollständig überwundener
Mühe aufweist, die Leistung hat uns doch geradezu über
rascht durch ihre Frische und Natürlichkeit. Daß sie im
Gesange warm, ton- und seelenvoll ausklingen werde, war
vorauszusehen, hier gelang Alles gut, das Meiste vortrefflich,
wie insbesondere die große Arie: „Komm’, o weiße Dame!“
(worin Müller die Rarität eines langen schönen Trillers zum
Besten gab) und die schwierige Scene mit Chor im dritten Act.
Seltsam, daß gerade diese Scene, die jetzt das wichtigste, ja
einzig hervorragende Musikstück des dritten Actes bildet, gar
nicht in dem ursprünglichen Plane lag, sondern erst nach
träglich hinzukam. Dieser dritte Act, der durch sein musika
lisches wie dramatisches Versiegen die „Weiße Frau“ noch
immer empfindlich schädigt, machte dem Componisten schwere
Sorgen. „Denken Sie nur,“ klagte er eines Tages seinem
Lieblingsschüler Adolph Adam (dem Componisten des
„Postillon“), „daß ich nach zwei an Musik so reichen Acten
im dritten nichts habe, als einen unbedeutenden Chor, ein
kleines Frauenduett und ein Finale ohne dramatische Ent
wicklung! Da müßte eine effectvolle große Nummer stehen,
statt des Bauernchors „Hoch lebe der Herr!“ Scribe
notirt dazu: „Die Landleute werfen ihre Mützen in die Höhe,“
es muß also ein lustiges, kurzes Stück sein; sie können doch
nicht eine Viertelstunde lang die Mützen in der Luft werfen!
Es kam mir da eben ein Einfall, der vielleicht gut ist. Im
Walter Scott habe ich von einem Mann gelesen, der, in
seine Heimat zurückkehrend, ein Lied aus seiner Kindheit
wiedererkennt. Wie, wenn die Schloßvasallen statt des Vivat-
Chors dem George eine alte schottische Ballade sängen,
deren er sich allmälig so lebhaft erinnert, daß er sie selbst
zu Ende singen kann? Wäre das nicht eine musikalische
Situation? — „Gewiß.“ erwiderte Adam (dem wir
obige Erzählung verdanken), „und sie würde den dritten Act
vortrefflich ausfüllen.“ — „Aber ich habe keinen Text dazu,“
klagte Boieldieu, „bin überdies krank und darf das Bett
nicht verlassen.“ — „Aber ich bin gesund“ ruft Adam aus
und eilt zu dem ganz nahe wohnenden Scribe, dem Text
dichter der „Weißen Frau“. Dieser findet die Idee vor
züglich, erklärt den dritten Act für gerettet, und ehe eine
Viertelstunde vergeht, hat er Boieldieu die Worte zu der
neuen Scene überschickt. Wir haben hier eines der zahlreichen
Beispiele von dem fruchtbaren Zusammenarbeiten, der stetigen
Wechselwirkung, welche in Frankreich zwischen dem Compo
nisten und dem Textdichter stattfindet und noch durch die
Proben hindurch bis zur Aufführung selbst sich fortsetzt. An
dem Gegentheile, der Isolirung des Tondichters vom Poeten,
geht in Deutschland manche Oper zu Grunde.
„Die weiße Frau“ ist im Hofoperntheater sehr nett
ausgestattet, lebensvoll gruppirt und wird unter Capellmeister
Gericke’s Leitung mit feiner Nuancirung ausgeführt.
Fast sämmtliche Rollen sind neu besetzt. Nur Fräulein Ta
gliana war uns bereits bekannt als eine der anmuthigsten
Darstellerinnen, die man für die Rolle der Jenny wünschen
kann. Weniger vermochte Frau Kupfer zu befriedigen,
welche (wenigstens in der hier beurtheilten zweiten Aufführung)
indisponirt schien, wahrscheinlich in Folge ihrer starken Be
schäftigung, und nicht immer rein intonirte. Ein charak
teristisches Gepräge wußte sie der etwas unbestimmten Gestalt
der Miss Anna so wenig zu geben, wie andere Sängerinnen
dieser Partie. Frau Dustmann war die einzige, welche die
Anna gleich bei den ersten Worten als einen energischen,
überlegenen Charakter faßte und selbst einen Anflug von
Härte nicht scheute, um diese Auffassung durchzuführen. Gut
angelegt und sorgfältig ausgearbeitet ist der Gaveston des
Herrn Scaria, desgleichen der Dickson des Herrn Schmitt,
Fräulein Tremel singt, wie fast alle jungen Alti
stinnen, das Spinnlied der alten Margarethe zu schwer und
pathetisch. Classisch erscheint freilich ihre Leistung, wenn man
die Margarethe der Komischen Oper dagegen hält, welche
die Fehler Fräulein Tremel’s im Hohlspiegel zeigte. Es wäre
unbescheiden, an die Aufführung der „Weißen Frau“ am
Schottenring den Maßstab des Hofoperntheaters zu legen;
nicht aber, vor solcher Concurrenz zu warnen. Die Komische
Oper wird kaum ein ausreichendes Publicum heranziehen, so
lange sie Werke entbehrt, die man im Hofoperntheater nicht
zu hören bekommt. Fräulein Vogel brachte als Anna ihren
wohlklingenden hohen Sopran, Fräulein Benetti als Jenny
ihre graziöse Beweglichkeit zur Geltung; die Gesangskunst
ließ hier wie dort Manches zu wünschen übrig. Herr Pirk,
ehedem ein schätzbarer Dickson des Hofoperntheaters, scheint
leider seine Stimme im deutschen Reich gelassen zu haben.
Herr Faßbender schwelgte förmlich im schwärzesten Böse
wicht-Bewußtsein, was glücklicherweise dem Gaveston doch
besser zu Gesicht stand, als jüngst seinem Bijou im „Postil
lon“. Mittel- und Anziehungspunkt der Vorstellung war
selbstverständlich der königlich bayrische Kammersänger Herr
Nachbaur als George Brown. Diese Leistung befriedigte
nur in Einzelheiten (vornehmlich des zweiten Actes), im
Ganzen erreichte sie nicht den Chapelou dieses Künstlers. Er
sang mit Anstrengung, und so blieb gleich die große Eingangs-
Arie fast ohne Wirkung. Auch in dem Duett mit Jenny
klang die Stimme spröde, der Ausdruck nicht weich genug.
Nachbaur’s Spiel schien uns zu derb (wir erinnern an die Art
oder Unart, wie er während der ersten Erzählung dem Pächter
Dickson wiederholt auf die Schulter schlägt), die Prosa holperig.
Den Manrico im „Trovatore“ soll Herr Nachbaur am
folgenden Abend mit großem Erfolg gesungen haben; wir
waren am Besuch dieser Vorstellung verhindert. Alles Lob
verdient die Scenirung der „Weißen Frau“ in der Komischen
Oper und die Leistung des Orchesters. In Einem Punkte
war die Vorstellung der „Weißen Frau“ in der Komischen
Oper dem Hofoperntheater voraus: es ist das Haus selbst.
In diesem kleineren Raum, mit diesem schwächeren Orchester
vermag jede Rolle in der „Weißen Frau“ mehr Effect zu
machen, als im Hofoperntheater; besonders die erste Arie
des George Brown ist hier für den Sänger und Schau
spieler ein Kinderspiel gegen die Anstrengung derselben Scene
im Hofoperntheater.
Im großen Musikvereinssaale folgten dem ersten Ge
sellschafts-Concert die „Philharmoniker“, unter Hanns
Richter’s Anführung, auf dem Fuße. Sie begannen ihr
erstes Concert mit Weber’s„Euryanthe“-Ouvertüre, die sie
nun endlich zum Ueberdruß oft gespielt hätten, während die
Aufführung der Oper selbst seit Jahren vergeblich auf sich
warten läßt. Es folgte eine von J. Raff effectvoll
orchestrirte Toccata von Seb. Bach, endlich die B-dur-
Symphonie von Beethoven. Den größten Beifall errang
das kleinste Stück: der hier von Hellmesberger eingeführte
(soeben bei Buchholz in Wien erschienene) Menuett von
Boccherini, von allen Geigern des Philharmonischen
Orchesters ausgeführt.
Am 15. d. M. brachte die Gesellschaft der Musikfreunde
die „Schöpfung“ von Haydn unter Herbeck’s Direction.
Der Saal war überfüllt, der Beifall herzlich und rauschend.
Wie erklärt sich diese fast unerwartete Theilnahme? Zunächst
wol daraus, daß die „Schöpfung“ hier seit vier Jahren nicht
gegeben war. Das hatte wohlgethan und nothgethan. Ueber
ein halbes Jahrhundert lang hörten die Wiener alljährlich
zweimal die „Schöpfung“ und zweimal die „Jahreszeiten“,
das begann ihnen die Sache ein wenig zu verleiden. Es gibt
Tondichtungen, welchen eine bleibende Stelle in den großen
Musikaufführungen gebührt, welche von Zeit zu Zeit immer
wieder gegeben werden müssen, weil sie classisch sind und
zur Bildung der Nation gehören. Von Zeit zu Zeit und in
sorgfältigster, reichbesetzter Aufführung — nur dann werden
sie mit jedesmal neuer Kraft auf die Zuhörer wirken. Die
Aufführung der „Schöpfung“ durch den Tonkünstler-Pensions
verein zu Weihnachten 1872 (unter Dessoff im Burgtheater)
war die letzte dieses Werkes, zugleich die letzte Production
jenes Vereins überhaupt. Kaum hatte der zum „Haydn“
umgetaufte Tonkünstlerverein das Jubiläum seines hundert
jährigen Bestandes in Ehren gefeiert (1871), so hörte er
plötzlich auf, zu musiciren. Als Witwen- und Waisen-Versor
gungs-Institut besteht und wirkt er fort, und zwar im er
freulichsten Wohlstand. Als Concert-Institut besaß er das
Privilegium, an den „Normatagen“ vor Ostern und
Weihnachten Musikaufführungen veranstalten zu dür
fen. Der neuorganisirte „Pensionsfonds des Hofopern
theaters“ löste dem „Haydn“ dieses Privilegium mit
einer bedeutenden Geldsumme ab und veranstaltet nun
selbst an den genannten theaterfreien Abenden große Aka
demien im Hofoperntheater. Beide Theile sollen durch die
Ablösung nur gewonnen haben. Das ist recht schön und
praktisch. Aber daß der erste, ehrwürdigste Tonkünstlerverein
Oesterreichs, daß eine Oratorien-Gesellschaft von europäischem
alten Adel so ganz ohne Abschied und Partezettel verschwinde,
still und geheim, fast wie unser altes Kärntnerthor-Theater,
bleibt doch seltsam und bedauerlich. Ob wir uns nach diesen
meist von Dilettanten besorgten und schleuderisch vorbereiteten
Aufführungen von „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“, wie sie
der Tonkünstlerverein in dem musikfeindlichsten Locale Wiens,
im Burgtheater, abhielt, zurücksehnen, wird uns Niemand
ernstlich fragen; aber ein feierliches Begräbniß hätten sie
wenigstens verdient ob ihrer großen historischen Vergan
genheit.
Was selbst bei so allbekannten, leicht zu spielenden
Werken wie die „Schöpfung“ eine gewissenhafte, gefeilte
Ausführung ausmacht, an der die besten Kräfte sich liebevoll
betheiligen, das hat die Production vom letzten Mittwoch be
wiesen. Wie ein neues Werk trat diese ehrwürdige Cantate
vor uns hin, „mit Würd’ und Hoheit angethan“!
Herbeck hat Haydn’s „Schöpfung“ nicht nur mit
der Pietät, die einem classischen Werke gebührt, son
dern mit jenem warmen, liebevollen Interesse, welches
man bedeutenden Novitäten zuzuwenden pflegt, einstudirt
und dirigirt. Das neunzig Mann starke Orchester, die
dreihundert Sänger und Sängerinnen des „Singvereins“, in
den Fortestellen verstärkt von der brausenden Orgel, wirkten
in den großen Ensemble-Nummern mit hinreißender Gewalt.
Drei Meister im Vortrag classischen Gesangs, Frau Wilt,
Herr Rokitansky und der eigens für diese Aufführung
gewonnene gefeierte Tenorist Herr Vogel aus München,
wetteiferten mit einander um die Palme des Tages. Hoffen
wir, daß Herbeck uns bald in ähnlicher Vollendung Haydn’s
„Jahreszeiten“ hören lasse, die wir ob ihres abwechslungs
reicheren Textes, wie ob ihrer frischeren, blühenderen Musik
der „Schöpfung“ vorziehen. Der Unterschied zwischen beiden
Cantaten ließe sich mit Einem Wort bezeichnen: In der
„Schöpfung“ singen Engel, in den „Jahreszeiten“ Men
schen. Und Vater Haydn war zeitlebens mehr auf der Erde zu
Hause, als im Himmel. Darum klingt auch das Schöpfungs
werk bei Haydn ganz in der Freude der ersten Menschen
aus; zur Erhabenheit bringt er es selten; wir verlieren trotz
des Schlußchors den Schöpfer über dem Mitgefühl am
Geschöpfe aus den Augen. Das ist aber nicht Haydn’s
Fehler, sondern seine Eigenthümlichkeit. Und dieser in der
„Schöpfung“ nicht immer berechtigten Eigenthümlich
keit konnte er in keinem zweiten Werke sich so voll und
rein hingeben, wie in seinen „Jahreszeiten“.