Musik.
Ed. H. In so starken Wogen treibt die kaum ent
fesselte Musiksaison vorwärts, daß es für den Einzelnen
schwer wird, ihr in gleichem Tempo zu folgen. Widerfährt
es nun obendrein einem Ex-offo-Schwimmer (das heißt
Musik-Kritiker), daß ihn ein steifer Arm plötzlich am Weiter
segeln hindert, so wirft er wol einen Verzeihung flehenden
Blick zu dem Ufer empor, allwo ein gestrenges Publicum
seine Pünktlichkeit controlirt. Bis zum zweiten Philhar
monischen Concert haben wir heute zurückzugreifen.
Mit Spannung sah man der Eröffnungsnummer entgegen:
einer Ouvertüre zu Shakspeare’s „Romeo und Julie“ von
Tschaikowsky. Der Componist gehört zu den Spitzen
des musikalischen Jungen Rußland; in Petersburg hat er mit
einer Oper, mehreren Orchester- und Kammermusiken Erfolge er
rungen, in Deutschland wenigstens flüchtige Aufmerksamkeit durch
einige pikante Claviersächelchen, welche bei C. Sander in Leipzig
erschienen, erregt. Wie das ganze junge Rußland (dem ja
Rubinstein als ein halb überwundener Classiker gilt), so
ist Tschaikowsky natürlich Zukunftsmusiker. Von vielen
seiner Anhänger wird er als zweiter Beethoven begrüßt, ein
Titel, mit welchem man seit Liszt recht freigebig zu werden
beginnt. Wir haben schon einen zweiten solchen „zweiten
Beethoven“ aller Reussen in Herrn Rimsky-Korsakoff kennen
gelernt — Beide mit sehr gemischten Empfindungen. Gerne
lassen wir uns Unform, Maßlosigkeit und Alles gefallen,
was zum brausenden Jugendmost gehört, gährt nur wirklich
darin die echte Leidenschaft der Jugend. Aber nichts finden
wir seltener als gerade das bei unseren neuesten Dichter-
Maler-Musikern; sie sind nüchtern, prunkend und raffinirt.
Auch in Tschaikowsky’s Ouvertüre qualmt dieser kalte,
glänzende Rauch, tost dieser erhitzte Lärm und ertödtet die
Empfindung für die Hauptsache, den Blick für das Wesent
liche. Das also soll „Romeo und Julie“ vorstellen? rufen
mir enttäuscht am Schlusse der Ouvertüre. Da ist ja
jedes beliebige Adagio von Mozart oder Beethoven
eine passendere Illustration zu Shakespeare’s Liebestragödie!
Offenbar ist es Julie’s Begräbniß, womit Tschaikowsky’s
Tongemälde anhebt, ein feierlich einherschreitendes, halb
choral-, halb marschartiges Andante in Fis-moll, das
schließlich in ein wildes H-moll-Allegro mündet. Wir
meinen, es ist der Leichenschmaus, bei dem viel Spirituosen
vertilgt und zahlreiche Püffe ausgetheilt werden. Für eine
Illustration der Veroneser Familienfehde klingt das Allegro
doch etwas zu — russisch; man hört förmlich die Knuten
hiebe in wuchtigen, an keinen Tact sich bindenden Schlägen
niederfallen. In Petersburg sagt man wahrscheinlich poetischer:
„So pocht das Schicksal an die große Trommel!“ Acht be
sänftigende Tacte, mit welchen Bratsche und Englischhorn zu
dem Gesangsthema in Des-dur hinüberlenken, sagen uns
unzweideutig, daß wir vor der Liebesscene stehen — obendrein
setzen die Geigen ihre Sordinen auf. Aber dieses aus dem
Wechsel zweier dissonirender Accorde bestehende Motiv
erinnert ungefähr an das Kratzen eines scharfen Messers auf
einem Glasteller. Wie eine kalte Schlangenhaut läuft uns
dieses Liebesglück über den Rücken. Zum Schluß vollführen
Harfen-Accorde über einem monotonen Terzen- und Sexten
gezwitscher der Holzbläser eine Theater-Apotheose. Kaum
brauchen wir ausdrücklich zu erwähnen, daß Tschaikowsky’s
„Romeo“-Ouvertüre sich großartig ausdehnt, beinahe zu einer
„symphonischen Dichtung“ in Liszt’schem Formate. Bei
läufig gefragt, wie kommt es wol, daß Shakspeare’s Liebes
tragödie dem symphonischen Geierblicke Liszt’s entgehen
konnte? Vielleicht hielt rühmenswerthe Pietät für Berlioz
ihn von diesem Stoff zurück? Oder wollte er seinen Jüngern
doch ein und die andere berühmte Dichtung übrig lassen?
Wir können das nicht entscheiden und wissen nur, daß wir
während Tschaikowsky’s Ouvertüre an die „Romeo“-Phantasie
von Berlioz wie an eine überirdische Erscheinung zurück
denken mußten.
Größere Gegensätze standen selten neben einander, als im
Philharmonie-Concert die Ouvertüre von Tschaikowsky
und die „Orchester-Variationen über ein Haydn’sches Thema“
von Johannes Brahms. Dort eine Programm-Musik, die
trotz des allbekannten Sujets uns fortwährend zu rathen
gibt, was wol diese und jene Stelle „bedeute“ — hier das
rein musikalische Denken und Formen, die auf sich selbst
ruhende, durch sich selbst verständliche musikalische Schönheit.
Wir haben die Wiederholung dieses vor zwei Jahren be
sprochenen Werkes längst gewünscht, muß man es doch immer
wieder sagen, daß Brahms keineswegs schnell und mühe
los zu fassen sei, hingegen mit jeder Wiederholung uns
klarer und schöner aufblüht. Bringt ein Concert-Institut
eine Brahms’sche Novität nur Einmal zur Aufführung,
und sei es mit noch so entschiedenem Erfolg, so hat es kaum
die Hälfte seiner Schuldigkeit gethan. „Du mußt es dreimal
sagen!“ Brahms, vom Publicum mit Acclamation be
grüßt, dirigirte sein Werk, wie uns schien, etwas aufgeregter
als früher, wenigstens in den raschen Variationen der zweiten
Hälfte. Mit reizender Feinheit und Eleganz spielte Henri
WieniawskiMendelssohn’s Violin-Concert. Es ist bei
nahe ein Vierteljahrhundert her, daß die Brüder Henri und
Joseph Wieniawski in Wien zum erstenmale concertirten,
damals schon ungewöhnliche Erwartungen rege machend.
Polnisches Talent und französische Cultur stehen selten weit
von einander. So erhielt auch die Virtuosität Henri’s ihre
eigenthümliche Prägung durch den französischen Violinisten
Massart. Groß und breit ist Wieniawski’s Ton freilich
nicht geworden, so sehr der Virtuose selbst nach beiden Dimen
sionen sich entwickelt hat. Aber süß, einschmeichelnd und zierlich singt
Wieniawski auf seiner Geige, wie Wenige. Daß er ein ge
feierter Gesellschafter ist, berühmt durch graziöses Erzähler
talent, das meint man auch seinem Spiel anzumerken. Wie
niawski spielte mit Orchester das Beethoven’sche und das
Mendelssohn’sche Violin-Concert, die beiden, auf welche
unsere Geigen-Virtuosen immer wieder zurückgreifen müssen
und denen die spätere Zeit nichts halbwegs Ebenbürtiges an
die Seite gestellt hat. Hie und da ein Concert von Spohr
oder Vieuxtemps, wenn es dem Virtuosen nicht zu ver
altet, oder Joachim’s geniales „Ungarisches Concert“,
wem es nicht zu halsbrecherisch erscheint — und wir sind
fertig mit der großen Violin-Literatur. Was die Neuesten
an Violin-Concerten geschrieben, Raff, M. Bruch, Saint-
Saëns und Andere — es will Alles nicht durchgreifen,
nicht Wurzel fassen. Dem Vernehmen nach wird sowol
Wieniawski, als sein spanischer Rivale Sarasate sich
noch hören lassen; gut, wenn es solche Geigen sind, deren
unser Himmel voll hängt.
Mit Vergnügen constatiren wir den glänzenden Besuch,
dessen sich die diesjährigen Quartett-Productionen von Hell
mesberger erfreuen. Wenn diese zahlreiche und elegante
Hörerschaft sich etwas pünktlicher versammeln wollte,
würde es sich noch hübscher machen. Es ist ein unwillkom
mener Anblick, wie die vier Quartettspieler eine starke Viertel
stunde nach der Anfangszeit noch immer atemlos lauernd
hinter ihren Pulten sitzen, gleich Jägern mit gespanntem
Hahn, und noch immer, noch immer nicht losdrücken können,
weil fortwährend neue Karawanen hereinströmen, die mit der
Topographie der ewig rutschenden Sesselreihen in fortwährendem
Kampfe liegen. Endlich beginnt der erste Satz des Quartetts.
So lange er dauert, bleiben gottlob die Thüren geschlossen.
Aber mit dem letzten Tact beginnt wieder die zweite Völker
wanderung der Zuspätgekommenen und währt in der Regel
so lange wie eine mäßige Symphonie, so daß jede Spur
von Zusammenhang zwischen den beiden ersten Quartettsätzen
verloren ist. Am letzten Quartett-Abend scheint die Ankün
digung einer Novität von Brahms besonderen Zudrang
mit veranlaßt zu haben. Hellmesberger’s Stammgäste hatten
im vorigen Jahre zwei Streichquartette von Brahms kennen
gelernt, sie mußten dem dritten mit freudiger Spannung
entgegensehen. Dieses B-dur-Quartett, Op. 67, ein Werk
reifster Meisterschaft gleich jenen, dürfte Einen Vorzug vor
ihnen noch voraus haben: es klingt heiterer, klarer, menschen
freundlicher. Die Themen sind echt quartettmäßig, die ganze
Durchführung desgleichen — eine selten werdende Eigenschaft
bei modernen Quartetten, die bald an den Claviersatz mahnen,
bald den Hinzutritt des Orchesters zu verlangen scheinen. Die feinste
contrapunktische Kunst, die kühnste harmonische, wir sind sie
bei Brahms gewohnt. Womit er uns diesmal noch über
rascht, ist die heitere Klarheit, welche den Grundcharakter des
Quartetts bildet und in den Themen des ersten und des
letzten Satzes geradezu volksthümliche Färbung annimmt.
Von Mozart oder Haydn könnten diese Motive herrühren.
Wollte man die schönsten Einfälle aufzählen, man würde
nicht fertig werden. Wie reizvoll überraschend wirkt gleich im
ersten Satze der rhythmische Wechsel zwischen dem vorgezeich
neten Sechsachtel- und dem heimlich unterschobenen Drei
viertel-Tacte, im Finale das plötzliche Auftauchen des Haupt
motivs aus dem Allegro! Das Andante (F-dur, vier Viertel)
ist ein breiter, süßer Gesang der ersten Violine, von Hell
mesberger mit der ihm eigenen edlen Sentimentalität
vorgetragen. Das Scherzo, eine Art phantastischen Bratschen-
Solos, das von den anderen drei Instrumenten mit Sor
dinen accompagnirt wird, gehört zu Brahms’ originellsten
Stücken, ist aber beim ersten Hören nicht leicht zu fassen.
Das Finale (Poco Allegretto, zwei Viertel) variirt ein ge
müthlich heiteres Thema, ein Klang aus dem alten Wien,
einfachste Liedform von vier zu vier Tacten, als Begleitung
Tonica und Dominante. Die warme Aufnahme, welche
Brahms’ neues Quartett hier fand, erschien uns um so
werthvoller, als demselben von Berlin aus (wo Joachim es
zuerst vorführte) sehr abschätzige Urtheile vorangegangen waren.
Es kann uns nicht beifallen, den Geschmack anderer Kritiker
hofmeistern zu wollen, am wenigsten solcher, die bezüglich
ihrer Aufrichtigkeit wie ihrer Sachkenntniß in allgemeiner
Achtung stehen. Wünschen wir doch auch, daß man uns
unsere individuellen Sympathien und Antipathien frei aus
sprechen lasse. Aber auffallend bleibt es doch, wenn einer der
bekanntesten Musik-Kritiker Berlins in Einem Athemzug sein
Befremden darüber ausdrückt, wie Joachim das neue
Quartett von Brahms überhaupt zur Aufführung anneh
men konnte, und seine Hoffnung, Herrn v. Herzogen
berg (von dem gleichfalls eine Novität bei Joachim gespielt
worden) recht bald als Quartett-Componisten wieder zu be
gegnen! Einige Bemerkungen, die wir bezüglich des neuen
Quartetts noch auf dem Herzen haben, müssen wir uns für
die nächste Gelegenheit aufsparen.
Das dritte Philharmonische Concert be
gann mit Gade’s bekannter „Ossian“-Ouvertüre, deren
feine und effectvolle Aufführung (vier Harfen) doch nicht
darüber täuschen konnte, daß dieses von Mendelssohn und
Schumann so enthusiastisch begrüßte Tongemälde seither
stark abgeblaßt habe. Eine neue Erscheinung betrat in
Herrn Jules de Swert das Podium — ein sehr
virtuoser Cellist, der seinem Instrument den gewal
tigsten Grundbaß wie das zarteste Flageolet zu ent
locken versteht und in der reinen Ausführung von
Octaven-Passagen kaum einen Rivalen hat. Es gibt Men
schen, die das Alles nicht sehr rührt (wir selbst gehören leider
dazu) und welche ihre Bewunderung und Freude gern, zur
Hälfte wenigstens, an die von dem Virtuosen vorgetragene
Composition abgeben möchten. Herr de Swert hatte aber
offenbar beim Componiren seines Violoncell-Concerts keine
so glückliche Stunde, als heute beim Vorspielen desselben;
einige gebildete Redensarten, verbindliche Uebergänge und
bekannte Bemerkungen — also (mit Hamlet zu reden)
„Worte, Worte, Worte“. Herr de Swert fand lebhaften
Beifall. Einen glücklicheren ersten Schritt aber hat kaum
Jemand in die Oeffentlichkeit gethan, als Herr Robert
Fuchs mit seiner ersten „Serenade“ (im vorigen Jahre)
und heute mit seiner zweiten. Schon nach dem ersten Satze
wurde der Componist, der bescheiden auf einem der letzten
Orchesterplätze hockte, gerufen und, kaum abgetreten, wieder
gerufen mit erneuertem allgemeinen Applaus. Die Fuchs’sche
C-dur-Serenade ist viersätzig, nur für Streichorchester ge
schrieben und ihrer Vorgängerin an Gestalt und Tempera
ment ähnlich. Der erste Satz, weitaus der beste, gewinnt
durch seine liebenswürdige Heiterkeit und Anmuth; in diesem
Genre des Faßlich-Melodiösen ist er eine kleine Perle. Die
folgenden Sätze sind gleichfalls zierlich, gefällig, aber von
geringer Originalität. Der zweite und dritte Satz verharren
zu ausschließlich in der Moll-Tonart; der dritte und vierte
gehören zur Classe besserer Balletmusik. Gespielt wurde die
„Serenade“ unter Hanns Richter’s Leitung ganz un
vergleichlich; sie dürfte auch für kleinere und minder virtuose
Orchester sich als sehr dankbare Nummer erweisen.
Nur aus zweiter Hand können wir über den guten
Erfolg des ersten Concerts des Wiener Männer
gesang-Vereins berichten, in welchem zwei neue hübsche
Kleinigkeiten von E. Kremser und ein effectvoller patrio
tischer Chor von R. Weinwurm (Dichtung von Anasta
sius Grün) mit Beifall zur Aufführung kamen.
Das Hofoperntheater hat nach vieljähriger Pause Ros
sini’s „Barbier von Sevilla“ wieder zur Aufführung ge
bracht. Die Sache machte den Sängern wie den Zuhörern
sichtliches Vergnügen — ein neuer Beweis (wenn es dessen
bedürfte), daß das heitere, komische Element in der Oper
auf die Dauer nicht zu entbehren ist. Die Aufführung, auf
die wir gelegentlich noch zurückkommen, war eine überwiegend
gute und gestaltete sich namentlich für die beiden Gäste Sig
morg Donadio (Rosina) und Herrn Anton Erl (Almaviva)
zum glänzenden Erfolg.
Die Komische Oper am Schottenring macht von
Zeit zu Zeit einen neuen Versuch, eine neue Anstrengung.
So gab sie vor einigen Tagen Herold’s einst so hoch
beliebte, jetzt beinahe verschollene Oper „Zampa“. Es sind
zehn Jahre seit ihrer letzten Aufführung im Hofoperntheater
verflossen, wo die Damen Bettelheim und Krauß, die
Herren Bignio, Prott und Mayerhofer die Haupt
rollen sangen. Mit einer durchaus guten Besetzung (die
Titelrolle verlangt geradezu einen stimmlich und dramatisch
hervorragenden Künstler) vermöchte man „Zampa“ gewiß er
folgreich in das Repertoire wieder aufzunehmen. Das Engage
ment des Baritonisten Herrn Randolfi (aus Graz) scheint
mit weiser Rücksicht auf das geringe Stimmvolumen der
übrigen Sänger und Sängerinnen der Komischen Oper ge
troffen worden zu sein. Es kann sich Keiner und Keine be
klagen, durch Herrn Randolfi’s Stimme gedeckt zu werden.
Die zierlichen und sentimentalen Stellen gelangen ihm am
besten; das heroische und dämonische Element dieses Don
Juans zur See kam nirgends zum Vorschein. Herr Ran
dolfi, der eine günstige Bühnenfigur und einige Gewandtheit
als Schauspieler für sich hat, erntete reichlichen Beifall. Es
ist eine lobenswerthe, von uns auch wiederholt gelobte Eigen
schaft des Orchesters der Komischen Oper, durchaus discret
zu accompagniren. Weiter als im „Zampa“ dürfte es aber
in dieser Tugend nicht gehen, so nahe streifte hier das ge
heimnißvolle Pianissimo des Orchesters an gänzliche Unhör
barkeit.