Musik.
Ed. H. Die beiden Weihnachts-Akademien,
welche das Hofoperntheater, wie alljährlich, für seinen Pen
sionsfonds veranstaltete, bereiteten dem Publicum viel Ver
gnügen, geben uns jedoch wenig Stoff zum Kritisiren. Die
scenische Aufführung des „Manfred“ von Byron mit
Schumann’sMusik glich der vorjährigen aufs Haar.
Sehr beifällig spielte Herr Robert die Titelrolle, wirksam
mehr durch plastische Schönheit und Wohlklang der Rede,
als durch psychologische Tiefe und Wahrheit. Die andere
dieser Weihnachts-Akademien brachte die beiden ersten Acte
der Oper: „Lucia von Lammermoor“. Man lauschte
begierig, Frau Wilt zum erstenmale als Lucia zu hören.
Ihre Stimme ließ an Frische und Kraft, ihre Virtuosität
an Glanz nichts zu wünschen übrig, stellenweise höchstens an
Leichtigkeit; das Spiel blieb gewohntermaßen Nebensache.
Blendend wirkte wieder die Energie ihrer hohen Töne, die Schön
heit des Trillers auf den absteigenden Noten b, as, g im Sextett
und so manches Andere. Schade, daß Frau Wilt in neuester Zeit
einem fast krankhaften Gelüste folgt, ihre so reichen Stimm-
Mittel noch ein klein wenig über ihr natürliches Maß anzu
strengen. Am Schluß des Sextetts stieg sie bewunderungs
würdig, lerchenartig, die Trillerkette as, b, c nach dem hohen
Des empor — aber dieses hohe Des! Es ward mit einer
Gewaltsamkeit forcirt, welche dem Ohr wehthat und die
volle Reinheit der Intonation vereitelte. Aehnlich schloß Frau
Wilt die brillant vorgetragene erste Arie mit einem drei
gestrichenen Dolchstich. Adelina Patti, welche angeblich
rivalisirenden Anstoß gegeben haben soll für die Lucia, Ophelia,
Elvira unserer Wilt, wirkt gerade am schönsten durch
das allzeit Maßvolle ihrer Kunst. Man hat nie einen un
schön gellenden und unreinen Ton von ihr gehört. Frau
Wilt’s unvergleichliche Stimme würde noch viel edler wirken
ohne jenes so kühn und gewaltthätig betriebene Hazardspiel
ihres neuesten Bravourgesanges.
Auf die „Lucia“-Vorstellung folgte eine Reihe von leben
den Bildern, poetisch eingerahmt von Mosenthal und
musikalisch interpretirt von Doppler. Das Ganze heißt
„Das Volkslied“. Genau durfte man das Gebotene
beileibe nicht auf diesen Titel examiniren. Aus der Zeit der
„Trauernden Juden“ (erstes Bild) besitzen wir keine Spur
von hebräischen Volksliedern, können daher auch Doppler’s
orientalische Weise nicht dafür annehmen. Ebenso fälschlich
wird uns die bekannte Romanze Blondel’s aus Grétry’s
„Richard Löwenherz“ für ein altes provençalisches Volkslied
ausgegeben; es ist weder alt, noch provençalisch, noch Volks
lied. Die weiteren Melodien sind gut am Platz („Prinz
Eugen“, „Gaudeamus“ etc.), aber Schubert’s „Linden
baum“, diese Perle unseres modernen Kunstliedes, hat mit
dem Volksgesang nichts zu schaffen, also auch nichts mit dem
eine Apotheose des Volksliedes versinnlichenden Schluß
tableau. In der Orchester-Einleitung spielt Doppler
in ebenso discreten als geistreich harmonisirten Wen
dungen auf die österreichische Volkshymne an; wie
aber letztere in die Nachbarschaft von Spohr’s Symphonie
„Die Weihe der Töne“ (erster Satz) geräth, bleibt uns
räthselhaft. Die Kritik würde sich lächerlich machen, wollte
sie eine reine Unterhaltungs-Production mit der Loupe unter
suchen; aber gänzlich die Augen zuzudrücken, ziemt ihr doch
auch nicht. Für künftige Fälle würden wir empfehlen, die le
benden Bilder nicht so tief in den Hintergrund zu stellen;
die Gesichtszüge der darstellenden Personen müssen jedenfalls
erkennbar sein. Die von Gaul, Brioschi und Telle
effectvoll arrangirten Tableaux gefielen übrigens so allgemein,
daß jedes derselben, kaum verschwunden, auch schon seine
zweite Auflage erlebte. Als das Sextett im zweiten Act der
„Lucia“ applaudirt wurde, erhob sich Lucia aus ihrem Ohn
machts-Fauteuil, Edgar zog wieder den schon eingesteckten
Säbel, und — das ganze Sextett wurde repetirt. Nicht ohne
Schamröthe constatiren wir diese Wiedereinführung einer
ästhetischen Barbarei, welche seit fünfundzwanzig Jahren im
Hofoperntheater streng verpönt war. Wir hatten also richtig
prophezeit, als wir vor Jahr und Tag unsere Klage gegen
Director Jauner über seine Wiedereinführung des „Her
vorrufs bei offener Scene“ mit den Worten schlossen: „Nur
ein Schritt noch und es werden im Hofoperntheater ein halb
Dutzend Schreier das Da capo jeder beliebigen Nummer mit
ten im dramatischen Zusammenhang der Oper durchsetzen
können.“ Dieser Schritt wäre also glücklich auch geschehen zur
gänzlichen Materialisirung unseres Opernwesens.
Gar seltsam stach uns auf dem Programm des vierten
„Philharmonischen Concertes“ (26. December) die
erste Nummer in die Augen: „Ouvertüre zu „Horatius Cocles“
von Méhul, neu“. Selbst die andächtigsten Verehrer von
Méhul’s „Joseph in Egypten“ kennen seinen „Horatius Co
cles“ schwerlich auch nur dem Titel nach. Es war dies eine
einactige Oper (Text von Arnaud) aus dem Jahre 1794,
als man auf allen Pariser Bühnen republikanische Helden
sehen wollte; Méhul, dessen Muse der französischen Re
publik und Armee mancherlei Dienste geleistet, schrieb auch
diese rasch verschollene Oper „Horatius Cocles“ und ließ
sogar einen „Mutius Scävola“ folgen. Die von den Phil
harmonikern gespielte Ouvertüre ist echt französisches Römer
thum, voll theatralischen Pomps und Pathos bei geringfügigem
musikalischen Inhalt. Die auch bei Cherubini häufige Manier,
ein kleines Motivchen von wenig Noten sechs- bis achtmal,
auch noch öfter wiederholen zu lassen, bald höher, bald tiefer,
bald von diesem, bald von jenem Instrument, herrscht auch
in Méhul’s Ouvertüre bis zum Ueberdruß. Das Interessan
teste darin ist die schon an Spohr erinnernde sentimen
tale Chromatik des zweiten Themas. Die französische
Reliquie wurde von unserm Publicum sehr gleichgiltig
aufgenommen; unter den Ouvertüren von Spontini
und Spohr wären manche unseren Concertbesuchern
ebenso neu wie dieser „Horatius Cocles“ und dabei des Wieder
erweckens würdiger gewesen. Fräulein Vera Timanoff
aus Petersburg spielte Rubinstein’s drittes Clavierconcert
mit großer Bravour und elegantem Vortrag der zarten
Stellen. Die Kraft-Experimente des ersten und letzten Satzes
vollkommen à la Rubinstein auszuführen, kann man von
Mädchenhänden, selbst russischen, nicht verlangen; ja diese
Bravour des Walkens, Stechens, Hauens kommt uns recht
unweiblich vor. Fräulein Timanoff kam in diesen starken
Partien gegen das Orchester nicht auf, machte obendrein
durch übermäßigen Pedalgebrauch die Sache nicht besser, son
dern nur undeutlicher. Das Andante — trotz der fatalen
Reminiscenz an Dinorah’s „Heilige Jungfrau!“ eines der
besten von Rubinstein — spielte Fräulein Timanoff mit
feinem Geschmack. Sie wurde wiederholt gerufen. Mit den
Mozart’schen Variationen für Streich-Instrumente und zwei
Waldhörner hatte Herr Hanns Richter dem Concerte eine
äußerst glückliche Wendung und mit Schubert’s C-dur-Sym
phonie ihm den imposantesten Abschluß gegeben.
Wir haben noch einige Worte nachzutragen über die
neue Symphonie von Brahms. Es ist kaum noch vorge
kommen, daß die gesammte Musikwelt mit so hochgespannter
Erwartung der ersten Symphonie eines Componisten ent
gegensah. Ein Beweis, daß man Brahms gerade in dieser
höchsten und schwierigsten Form Ungewöhnliches zutraute.
Aber je größer die Erwartung des Publicums, je dringender
das Verlangen nach einer Symphonie, desto schwieriger und
scrupulöser zeigte sich Brahms. Eine unerbittliche Gewissen
haftigkeit und strenge Selbstkritik gehört zu den hervorstechend
sten Charakterzügen Brahms’ — jedesmal möchte er sein
Bestes leisten mit Aufgebot aller Kräfte, er kann und mag
nichts „leicht nehmen“. Lange zögerte er mit der Composition
von Streichquartetten, und mehr als Eine Symphonie blieb
als Studie in seinem Pult verschlossen; auf das Drängen
der Freunde antwortete er gewöhnlich, er habe zu viel Re
spect vor seinen großen Vorgängern, und mit einer Sym
phonie könne man heute „nicht spassen“. Diese Strenge gegen
sich selbst, diese Sorgfalt im Kleinsten und Größten zeigt
sich auch in der bewunderungswürdigen Arbeit der neuen
Symphonie. Wenn sie sich vielleicht zu sehr zeigt und der
Hörer über der erstaunlichen contrapunktischen Kunst, die er
meistens gar nicht wahrnimmt, die unmittelbar zündende
Wirkung vermißt, so kann man ihm nicht ganz Un
recht geben. Die neue Symphonie ist ein so ern
stes, complicirtes, von gewöhnlichen Effecten so weit
absehendes Werk, daß es sich schnellem Verständniß nicht
gleich entfaltet. Das ist immerhin, wenn auch kein Fehler,
doch ein Mißgeschick, für den ersten Augenblick wenigstens.
Die nächsten Wiederholungen werden es tilgen. Grill
parzer’s Bekenntniß: „Ich wollte allerdings Effect machen,
aber nicht auf das Publicum, sondern auf mich selbst,“
könnte als Wahlspruch auf der Symphonie von Brahms
stehen. Sie gehört, das leuchtet sofort auch dem Laien ein,
zu den eigenthümlichsten und großartigsten Werken der Sym
phonien-Literatur. Der erste Satz fesselt durch sein leiden
schaftliches Pathos, sein faustisches Ringen, zugleich durch die
ebenso reiche als strenge contrapunktische Kunst. Das Andante
besänftigt diese Stimmung in langgezogenem, edlem Gesang,
der im Verlaufe allerdings überraschende Unterbrechungen
erleidet. Das Scherzo (ein Allegretto grazioso im Zwei
viertel-Tact) dünkt uns nicht auf gleicher Höhe mit den
übrigen Sätzen, das Thema entbehrt des melodischen und
rhythmischen Reizes, das Ganze der Lebendigkeit; der tonlos
abschnappende Schluß wirkt vollends befremdend. Der
vierte Satz beginnt gleich höchst bedeutend mit einem
Adagio in C-moll; aus dunklen Gewitterwolken hebt sich
klar und süß ein Gesang des Waldhorns in C-dur
über tremolirenden Violinen. „Da zittern alle Herzen
mit den Geigen um die Wette,“ äußerte ein entzückter
Kenner. Der Eintritt des Allegros mit seinem einfach schö
nen, etwas an den Freuden-Hymnus der Neunten Symphonie
erinnernden Thema ist überwältigend, und höher, immer
höher schwingt es sich empor bis zum Schlusse. Mit den
Worten, daß kein Componist dem Styl des späteren Beetho
ven so nahe gekommen sei, wie Brahms in diesem Finale,
glaube ich keine paradoxe Behauptung, sondern eine einfache,
kaum anfechtbare Thatsache zu bezeichnen. Ein hohes Lob,
das aber keineswegs einem Componisten alle Vorzüge oder
gar alle im höchsten Maße zuspricht. Jede große Einseitigkeit
wird ja mit dem Zurücktreten von Vorzügen auf der andern
Seite erkauft. Mozart wäre nicht Mozart, Weber
nicht Weber, wenn sie zu ihren eigenen Reizen auch noch
die Erhabenheit und Tiefe Beethoven’s besäßen. Beetho
ven entbehrt wieder, und am meisten in seinen großartigsten
Spätwerken, den zarten Duft, den melodischen Zauber, die
zärtliche Innigkeit, durch die uns Schumann und Men
delssohn so unmittelbar, ohne Mühen und Räthsel ent
zücken. In Schumann’s kleiner D-moll-Symphonie und
Mendelssohn’s „Italienischer“, die wir beide ganz
kürzlich hörten, weht ein süßer Zauber, ein berauschen
der Blüthenduft, wie er in Brahms’Symphonie nur
an einzelnen Stellen, gleichsam verstohlen, athmet.
Aber weder Mendelssohn noch Schumann knüpfen in
ihren Symphonien an den späteren Beethoven an,
wir könnten sie uns recht gut denken ohne die Voraussetzung
von Beethoven’s dritter Periode. Weit eher biegen Mendels
sohn’s und Schumann’s Symphonien wieder zur An
schauungsweise Haydn’s und Mozart’s zurück und führen
diese weiter. Die Quartette und die Symphonie von
Brahms hingegen sind nicht zu denken ohne die letzte
Periode Beethoven’s. Brahms hat sich in diesen ihm von
Haus aus verwandten Vorstellungskreis ganz hineingelebt, er
ahmt nicht nach; aber was er aus seinem Innern schöpft,
ist ähnlich empfunden. So erinnert denn Brahms in dem
eigenthümlich geistigen oder übersinnlichen Ausdruck und durch
die schöne Länge seiner Melodien, durch die Kühnheit und
Originalität der Modulationen, durch die polyphone Gestal
tungskraft, vor Allem durch den männlichen hohen Ernst des
Ganzen an Beethoven’s symphonischen Styl. Man hat als
einen Hauptcharakterzug das ethische Element in Beetho
ven’s Musik hervorgehoben, welche stets überzeugen, nicht
blos erfreuen will. Dies sondert sie so auffallend von aller
„Unterhaltungsmusik“, womit wir noch keineswegs etwas künst
lerisch Werthloses bezeichnen wollen. Diesen strengen, ethischen
Charakter von Beethoven’s Musik, welche selbst im Frohsinn
und Muthwillen einen ernsten Geist, eine dem Ewigen zuge
wendete Seele verräth, finden wir sehr entscheidend auch in
Brahms. Jedoch auch von den Schattenseiten des späteren
Beethoven lagert ein gutes Stück auf Brahms’ neuesten
Werken. Beethoven’s Styl ist zuletzt häufig unklar, ver
worren, willkürlich geworden; seine Innerlichkeit versank oft
in ein launisches grüblerisches Wesen. Die schöne Klarheit,
der melodische Reiz, die edle Popularität seiner ersten und
zweiten Periode scheinen verschwunden; fast möchte man das
Goethe’sche Motto umkehren und sagen: Was Beethoven
im Alter wünschte (oder wir ihm wünschten), dess’ hatte er
in der Jugend die Fülle. Zu einseitig scheint auch Brahms
das Große und Ernste, das Schwere und Complicirte zu
pflegen auf Kosten der sinnlichen Schönheit. Wir gäben oft
gern die feinsten contrapunktischen Kunststücke (wie sie in
Brahms’ Symphonie zu Dutzenden vergraben liegen) um
ein Stück warmen Sonnenscheins, bei dem uns das Herz
aufgeht. Drei Elemente, welche in der modernsten deutschen
Musik eine große Rolle spielen, verwendet Brahms mit auf
fallender Vorliebe: die Synkope, den Vorhalt und die
Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Rhythmen und
Tactarten. In diesen Punkten, der Synkope namentlich,
dürfte Brahms kaum mehr weiter gehen, als er in neuester
Zeit gegangen. So hätten wir uns denn auch unsere kleinen
Bedenken vom Herzen geredet und können in den freudigen
Ton, in dem wir begonnen, wieder einfallen. Die neue
Symphonie von Brahms ist ein Besitz, auf den die Nation
stolz sein kann, auf lange hinaus ein unausgeschöpfter Born
ernsten Genusses und fruchtbaren Studiums, ein Buch
musikalischer Weisheit, das öfter gesehen sein will und das
unsere musikalischen Vormünder und Nährväter uns hoffent
lich oft zu lesen geben werden.