Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4444. Wien, Mittwoch, den 10. Januar 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4444. Wien, Mittwoch, den 10. Januar 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien
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Musik.

Ed. H. Eine neue Gesangskönigin, die Nilsson, eine neue Operette von Strauß und eine neue Orchester- Composition von Herbeck waren die drei musikalischen Er eignisse der letzten Woche. Dem Gaste gebührt der Vortritt. Christine Nilsson, gegenwärtig zum erstenmale in Wien, ist seit einem Decennium diesseits wie jenseits des Oceans als ebenbürtige Rivalin der Patti gefeiert. Sie hat diese Höhe nicht so leicht, nicht so rasch erstiegen, wie ihre italienische Nebenbuhlerin. Die kleine Adelina, aus einer Künstlerfamilie stammend, ist unter Opernmelodien und Theatercostümen aufgewachsen und sang schon als vierzehn jähriges Mädchen in Newyork öffentlich mit größtem Erfolg. Anders unsere schwedische Sängerin. Christine Nilsson ist als das achte Kind eines Bauern am 3. August 1843 in dem Dorfe Hussaby, Provinz Smaland, geboren. Der Vater, der mit Hilfe seiner Familie den Boden bebaute, machte Sonn tags auch den Vorsänger in der lutherischen Kirche und lehrte Christine die Noten. Lesen und Schreiben lernte das Kind in der Dorfschule; größer geworden, wurde sie bei der Feldarbeit und in der Hauswirthschaft beschäftigt. Ihr Bruder Karl, ein passionirter Geiger, entdeckte zuerst die schöne Stimme der Schwester und nahm sie bald mit, wenn er als Musikant auf Märkte und Hochzeiten zog. Dort sang sie an seiner Seite schwedische Volkslieder. Auf solch einem Jahrmarkte (zu Ljungby) führte der glückliche Zufall einen angesehenen Kunstfreund aus der Hauptstadt, Herrn v. Thornechjelm, herbei. Entzückt von ihrer Stimme, ihrem Ausdruck, ihrem offenen, kindlichen Wesen, erbat er sich von Vater Nilsson die Erlaubniß, für die Ausbildung des Mädchens sorgen zu dürfen. Zwei Jahre verweilte nun Christine in einem Pensionat zu Gothenburg, erhielt die ersten Gesanglectionen bei Fräulein Valerius, dann weiteren Unterricht im Gesang und Clavier bei Franz Berwald in Stockholm, dem auch in Wien bekannten originellen Kauz

und alten Freund der Jenny Lind. Da bot sich Christinen die Gelegenheit, mit der Malerin Valerius, der Schwester ihrer Gesanglehrerin, nach Paris zu reisen. Hier quartierte sich Christine bei einer englischen Familie ein und trieb drei Jahre lang mit rastlosem Eifer Gesangstudien unter der Leitung von François Wartel und Victor Massé. Durch Wartel bei dem Director des Théâtre Lyrique, Mr. Car valho, eingeführt, wurde sie sofort für diese Bühne auf drei Jahre engagirt. Ihr erstes Debut bestand sie am 27. October 1864 als Violetta („Traviata“), ihr zweites als Königin der Nacht in der „Zauberflöte“. Die Bravour und Reinheit, mit welcher die Debutantin die hohen Staccato stellen und Passagen dieser Rollen bewältigte, wirkten wie ein Blendwerk. Es folgten als nächste Rollen Martha und Elvira im „Don Juan“. Für anstrengende hochdramatische Partien schien damals die Stimme der Nilsson noch zu klein. Erst 1868 wurde sie in der Großen Oper engagirt, um die Ophelia in „Hamlet“, der neuen Oper von Ambroise Thomas, zu singen. Der Componist wollte seine Oper lieber im Pulte zurückbehalten, als die Ophelia irgend einer andern Sängerin anvertraut sehen. Von da an datirt der europäische Ruf der Nilsson. Nach einem glänzenden Gast spiel in London besuchte sie ihre Heimat, wo sie ihrem Vater die Pachtung und das Haus kaufte, in dem sie geboren war. Im Jahre 1870 feierte sie Triumphe in Amerika, 1872 in Rußland. Vor der Abreise nach Rußland heiratete sie Herrn August Rouzaud, einen intelligenten, wohlhabenden Ge schäftsmann in Paris, mit dem sie in glücklichster Ehe lebt. Diese kurzen authentischen Daten dürften wenigstens zur Richtigstellung vielfach verbreiteter Irrthümer und Märchen dienen.

Christine Nilsson eröffnete ihr Gastspiel im Hof operntheater als Ophelia in A. Thomas’ „Hamlet“. Ein gedrängt volles Haus harrte mit sichtlicher Spannung ihres Auftretens. Und gleich ihr Erscheinen wirkte einnehmend wie die glücklichste Vorbedeutung. Hohe ebenmäßige Gestalt, ein edles, feingeschnittenes Antlitz, aus dem zwei große hellblaue Augen bald rührend blicken, bald leidenschaftlich aufleuchten,

die Haltung aufrecht, ruhig, alle Bewegungen harmonisch. Jetzt öffnet sie den Mund mit seinen perlengleichen Zähnen und flüstert die ersten Töne des Duetts mit Hamlet. Es gibt kaum in einer Oper ein so unscheinbares Entrée der Primadonna, als das Opheliens im „Hamlet“; ja, streng genommen bilden für sie die ganzen drei ersten Acte nur Ein unscheinbares und undankbares Entrée zum vierten Auf zuge, der zuerst ihrer musikalischen und dramatischen Kunst volle Entfaltung gestattet. Allein schon jenes kleine Eingangs duett verrieth die bedeutende, echt künstlerische Individualität der Nilsson. Man kann es nicht anspruchsloser und schlichter vortragen, aber auch nicht überzeugender, inniger. Ihre Stimme, ein hoher Sopran von hellem, offenem Klange und wunderbarer Ausgeglichenheit, besitzt keine imponirende Ge walt, nicht einmal die volle erste Jugendfrische, schmeichelt sich aber mit weichen, reinen Flötentönen unwiderstehlich in Ohr und Herz. Ein leichter Schleier ruht über den mittleren Tönen, ähnlich wie bei Jenny Lind, mit welcher die Nilsson nicht blos die Landsmannschaft, sondern den Grundzug ihres musikalischen Charakters gemein hat. Wir lieben diesen zarten, matten Duft, der meistens auf jenen Organen liegt, die eine empfindungsreiche Innerlichkeit im Gesange auszuströmen be rufen sind. Im zweiten Act hat Ophelia nur Eine Nummer; die Nilsson hielt die beiden Strophen derselben, die erste vor Hamlet’s Eintritt, die zweite nach demselben, mit geist reicher Feinheit auseinander und fand dann für den Schmerz über Hamlet’s Entweichen den einfachsten und rührendsten Ausdruck. Der einfachste und rührendste Ausdruck — das ist der Talisman, durch welchen die Nilsson uns immer und überall gefangen nimmt, auch wo der Componist ihr durch keinen Effect zu Hilfe kommt. Ihre Action beschränkt sich auf das Nothwendige, aber dieses ist mit genialem Instinct erfaßt und vollständig wiedergegeben. Ueberraschend schön und wahr, dabei ihr allein angehörend, ist die Auf fassung des Terzetts im dritten Act. Durch die vernichtende Mahnung Hamlet’s: „Geh’ in ein Kloster!“, wird Ophelia zuerst gegen den Abgrund des Wahnsinns gedrängt; hier schon deutet die Nilsson das Herandämmern der Geistesnacht

an, welche Ophelien im vierten Acte umfangen hält. In der großen Scene des vierten Actes entfesselte Christine Nilsson die schönste Art von Virtuosität, die wir in so tragischer Situation uns denken können: eine Virtuosität, die man nicht merkt, eine Bravour, auf die man vergißt ob der tiefen Empfindung, worein jede Note getaucht ist. Wer nach manchen Berichten nur eine große Virtuosin erwartet hatte, fand jetzt — eine große Künstlerin. Die einzelnen, anscheinend blos der Bravour gewidmeten Coloratursätze und Sätzchen wußte sie durch bezeichnendste Mimik, Action und Tonfärbung drama tisch zu motiviren — sie quollen aus Ophelia’s Seele, nicht blos aus der Kehle. Ophelia entspricht völlig der ganzen Erscheinung und Gesangsmanier der Nilsson; eben deßhalb wäre es gefährlich, gerade nach dieser Einen Rolle ein ab schließendes Urtheil über sie zu wagen. Wie weit die drama tische Verwandlungskunst der Nilsson reicht, ob es ihr ebenso gut gelingen werde, ihre zarte, träumerisch sanfte Individua lität auch in andere Charaktere umzugießen, müssen wir ab warten. So viel ist uns gewiß, daß wir niemals eine voll kommenere poetische Verkörperung der Ophelia erlebt haben und kaum wieder erleben werden. Den nächsten Darstellungen der Nilsson sehen wir mit einer frohen Erwartung entgegen, wie sie uns der Opernbühne gegenüber lange nicht beseelt hat.

Die Vorstellung des „Hamlet“ ist in ihren übrigen Theilen bekannt. Herr Beck sang und spielte die weit mehr schwierige als lohnende Rolle des Hamlet mit gewohntem Feuer und dramatischem Ausdruck. Nichts verrieth das kaum behobene Unwohlsein dieses Künstlers, als die Weglassung des Trinkliedes im zweiten Act, um das wir uns nicht sonder lich grämen können. Außer Herrn Beck trug wesentlich noch Frau Dillner durch ihre würdevolle und sympathische Darstellung der Königin zu dem Erfolge des Abends bei.

Die neue Operette von Johann Strauß, deren glänzenden Erfolg im Carl-Theater diese Blätter jüngst ge meldet haben, betitelt sich: „Prinz Methusalem“. Mit diesem, gemeiniglich dem Uralter reservirten Namen ist hier ein blutjunger Prinz, der sentimentale Liebhaber des

Stückes, belegt, welches damit die erste Täuschung begeht. Erwartet man doch unter einem „Prinz Methusalem“ eine besonders komische Charakterfigur, während das gerade Ge gentheil stattfindet. Gleich ihrem Titel, so täuscht uns die ganze „komische Operette“, deren hilflose, müde Austren gung, komisch zu sein, nirgends ans Ziel gelangt. Lauter witzlose veraltete Caricaturen und verbrauchte Situationen, wenn man nicht das Accompagnement von verpuffenden Knall erbsen für einen neuen Knalleffect gelten lassen will. „Wer wird es mit einem Operettentexte so genau nehmen?“ — hören wir einwenden — „genug, wenn man nur lachen kann.“ Ja, wenn man nur lachen könnte! Das ist eben das Mißge schick der französischen Textdichter, daß ihr „Methusalem“ zu dem von ihrem großen Landsmann einzig verpönten „genre ennuyeux“ gehört. Wo wir herzlich lachen hörten, da floß die komische Wirkung einzig aus den Gesichts muskeln Knaack’s und den Fisteltönen Matras. Die Erfindung der Textdichter ist unschuldig daran, wie sie unschuldig ist an dem großen Erfolge der Novität. In das Verdienst dieses Erfolges theilen sich die emi nente Aufführung im Carl-Theater und die graziöse, lebens volle Musik von Strauß. Strauß’ erste Operette „Indigo(nach der Summe der darauf verwendeten reizenden Walzer themen die reichhaltigste von allen) verrieth noch große Un geübtheit in der Form, namentlich der Ensemble-Nummern; auch liefen Text und Musik nur so beiläufig nebeneinander. Jede der folgenden Arbeiten von Strauß verrieth einen Fortschritt in der Operntechnik — es sind nicht mehr die Walzer- und Polkathemen allein, welche darin Beifall finden und verdienen. Das Entscheidendste, Eigenthümlichste und Beste bleiben sie allerdings, diese Tanzmelodien, in allen Straußschen Operetten. Sobald ein Walzer-Rhythmus sich regt, offen oder verschämt, geräth das Publicum in eine entzückte Bewegung, da erkennt und begrüßt es seinen Strauß, den unwiderstehlichen „Rattenfänger“ von Wien. Darum wird für Strauß stets jener Operntext der geeignetste sein, der durch seine Situationen die Verwendung von Tanzmelodien

am besten motivirt, am natürlichsten hervorruft. Das ist der Fall in der „Fledermaus“, welche wir deßhalb als Ganzes unbedenklich für die wirksamste Operette von Strauß halten. Ganz auf realem Boden spielend, in einer Atmosphäre bür gerlicher Heiterkeit und harmlosen Spasses, lockt dieses Libretto ungezwungen die lustigen Walzer- und Polka geister herbei, welche Strauß im Finale des zweiten Actes zu einem hinreißend lustigen Bacchanale vereinigt. Das Textbuch zu „Cagliostro“ bot dem Componisten wenigstens Eine solche Scene, wo die Tanzmelodie gefordert ist, das berühmte Walzerduett, welches hauptsächlich den Er folg des „Cagliostro“ begründete. In diesem wichtigen Punkt bleibt das neue Libretto „Methusalem“ dem Componisten, diesem Componisten, so gut wie Alles schuldig. Das Stück wäre um seine zündendsten Momente ärmer, um die speci fisch „Strauß’schen“, ließe nicht zur rechten Zeit der Com ponist, gleichsam hinter dem Rücken des Librettisten, zum Tanze aufspielen. Strauß hat als brillantesten Abschluß der Operette dem Liebespaar einen Walzer in den Mund gelegt, welcher zu seinen hinreißendsten Einfällen gehört und den im nächsten Frühjahre ohne Zweifel die Lerchen in der Luft nachsingen werden. „Methusalem“ dürfte, gut aufgeführt, überall bedeutenden Erfolg erringen, am meisten vielleicht in Paris, denn offenbar hat Strauß bei dieser Arbeit den französischen Geschmack im Auge gehabt. Einige der hübsche sten Musikstücke, wie die ersten Couplets Ausim’s: „Der Schelm ist todt“, das effectvolle Quintett des Trombonius mit den vier Räubern u. A., nähern sich mit Glück dem Style der französischen Opéra comique, von manchen feine ren Zügen in der musikalischen Conversation ganz zu schwei gen. Daß auch Unbedeutendes und bekannt Klingendes unter läuft, versteht sich bei solcher rasch hingeworfenen Unterhal tungs-Musik von selbst. Lobenswerth ist die richtige Einsicht mit der Strauß den Ton harmloser Fröhlichkeit festhält, also im Style bleibt und nicht, wie manche seiner Wiener Collegen, jeden Augenblick in das brausende Meer Verdi’s oder Meyerbeer’s hineinpurzelt. Strauß, der schon von

Haus aus als Walzer-Componist sich durch Sorgfalt und Geschmack in der Instrumentirung hervorthat, hat auch im Methusalem“ diese Erwartung nicht getäuscht: das Orchester blinkt und glitzert von feinen Klangeffecten, die um so an genehmer wirken, als sie anspruchslos auftreten.

Das „Philharmonische Concert“ vom letzten Sonntag begann mit dem „Römischen Carneval“ von H. Berlioz. Glänzend componirt und glänzend gespielt, machte dieses geistreiche Tonstück seine gewohnte Wirkung. Wir hätten die ursprünglich annoncirte Ouvertüre zu „König Lear“ von Berlioz vorgezogen, eine nicht so populäre, aber gewaltigere, tiefsinnigere Composition, überdies in Wien sehr lange nicht gehört. Es folgte Schumann’s unverwelklich schönes Clavier-Concert in A-moll, das von keinem späteren Werke dieser Gattung auch annähernd erreicht ist. Herr Louis Brassin, Professor am Conservatorium zu Brüssel, spielte das Concert, wie ein echter Künstler spielt. Mit keiner Passage, mit keiner Note suchte er den Virtuosen geltend zu machen und aus dem Rahmen der Tondichtung heraus zutreten. Mit vollkommener Beherrschung der Technik wollte er doch nur die Composition treu wiedergeben, und es ge lang dies seinem durchaus ernsten, männlichen Vortrag voll kommen. Der ungewöhnlich lebhafte und anhaltende Beifall, der nach Herrn Brassin’s Leistung losbrach, ehrt nicht min der das Publicum als den Künstler. Director Her beck löste hierauf Herrn Hanns Richter am Pulte ab und dirigirte seine neueste Orchester-Composition: „Künstlerfahrt“. Diese fünfsätzige Tondichtung läßt sich nicht genau unter eine der gebräuchlichen Kunstformen einschieben; am leichtesten fügt sie sich dem Begriff der älteren „Serenade“ oder auch der Lachnerisch modernisirten „Suite“. Eine Symphonie ist sie am wenigsten, will es auch gar nicht sein. Gleich der erste Satz spricht dies deutlich aus, mit seinem, ohne jedes Vor spiel anhebenden Ländlerthema und seiner Menuetform, welche nach einem Trio als Mittelsatz den ersten Theil, nur wenig gesteigert, wiederholt. Die Sonder-Ueberschriften der einzelnen Sätze deuten blos auf das poetische Band, welches

dieselben zu einer „Künstlerfahrt“ verbindet; von eigentlicher Programm-Musik oder Tonmalerei keine Spur. Wir durch leben mit einer fröhlichen Gesellschaft von Künstlern einen heiteren Sommertag; die Grundstimmung, ein gemüthliches Behagen an der Natur, steigert sich bald zur Lustigkeit, bald dämpft sie sich zu sanfter sorgloser Melancholie. Kein lei denschaftliches Ringen, kein tiefsinniges Nachdenken, kein enthusiastischer Aufschwung unterbricht das wohlige Gleichmaß des Tages — ein klein wenig von alledem hätte vielleicht nicht geschadet. Das Ganze erinnert an gewisse anmuthige Bildnisse, deren weiches, rosiges Fleisch nur ein stärkeres Knochengerüste wünschen läßt. Von reizender Frische ist der erste Satz B-dur 3/4 „Wanderer im Walde“, mit seinem zarten Mittelsatz in Des-dur. Dem zweiten Satz („Auf grünem Plan“), gleichfalls im Dreiviertel-Tact, hätten wir ein bedeutenderes Thema oder wenigstens eine andere Stellung gewünscht; er contrastirt mit seinem Mazurka- Rhythmus zu wenig von dem ländlerartigen ersten Satz. Ein Adagio in D-moll, „Im Bergschloß“ überschrieben, schlägt die elegische Saite stimmungsvoll an, unterbricht aber zu häufig diese Grundstimmung durch Zwischensätze, denen ent weder eine uns unverständliche poetische Beziehung oder die Freude des Componisten an dem bloßen Wohlklang einzel ner Instrumental-Effecte zu Grunde liegt. Das Adagio hinter läßt keinen tieferen Eindruck und scheint uns für die Quali tät seines musikalischen Inhalts zu lang ausgesponnen. Desto siegreicher dringt das folgende „Intermezzo“ in das Gemüth des Zuhörers: ein an Schumann’s Weise mahnender Zwie gesang, anfangs zwischen Flöten und Clarinett, dann zwischen den Geigen und Cellos. Der Satz ist duftig und blühend. Die „Heimkehr“ der Sänger (letzter Satz, B-dur) erfolgt in geschlossenen Reihen, Marschtempo „maestoso“. Der Satz wirkt nicht durch bedeutende Themen, aber durch energische Rhythmik und ist weislich kurz gehalten. Posaunen und Lärm instrumente, bishin pausirend, erst ganz am Schlusse des Finales eintreten zu lassen, war ein glücklicher Einfall des Componisten. Herbeck’s „Künstlerfahrt“ athmet lauter Blüthen

duft und Sonnenschein und nimmt dadurch die Hörerschaft rasch gefangen. Die Erfindung ist nicht überall bedeutend oder originell, ihre saubere, ja geistreiche Ausführung jedoch in dem feinsten Instrumental-Colorit fesselt durchwegs. Schade, daß zwischen den einzelnen Sätzen nicht mehr Steigerung und Contrast stattfindet und die ganze „Künstlerfahrt“ in keinem derselben einen eigentlichen Gipfelpunkt erreicht. In Einem der fünf Sätze, dachten wir, dürften doch die Künstler aus voller Brust aufjauchzen und müßte der Becher überschäumen. Da für war die rechte Stelle entweder das Finale oder, wenn dieses der Marschform vorbehalten bleiben sollte, der (das Scherzo vertretende) zweite Satz. Da lagert die Gesellschaft „auf grünem Plan“ und dürfte schon etwas begeisterter sin gen von Liebe und Freiheit. In anmuthig frischen Bildern wie die „Künstlerfahrt“ scheint Herbeck’s echt österreichisches, an Schubert anklingendes Naturell sich besonders heimisch zu fühlen. Es ist selten, daß heutzutage ein die Orchester- Technik souverän beherrschender moderner Componist ein großes symphonisches Werk auf den einfachsten Grundformen: Lied, Tanz, Marsch, aufbaut und die selbstständige, streng sym metrisch gegliederte Melodie durchwegs vorherrschen läßt. Die Künstlerfahrt“ schließt sich nahe verwandt an Herbeck’s Tanzmomente“ und „Orchester-Variationen Wir machen das musikalische Publicum aufmerksam, daß die im vorigen Jahre von uns ausführlich gewürdigten Orchester-Varia tionen von Herbeck jetzt in Partitur und vierhändigem Arrangement bei Fr. Schreiber in Wien schön ausgestattet erschienen sind. an. In letzteren hat sich ohne Frage der Musiker bedeutender hervor gethan; dem großen Publicum, das gerne den Poeten vor zieht, dürfte vielleicht die „Künstlerfahrt“ noch mehr zusagen. Mit Ausnahme des Adagios, das durch einige Kürzungen ge winnen würde, hat jeder Satz der „Künstlerfahrt“ im Phil harmonischen Concert vollständig eingeschlagen. Besonders leb haft wurden der erste Satz und das Intermezzo (die beiden weitaus besten Theile) applaudirt, am meisten wol der Com ponist selbst, der auf den Ruf des Publicums wiederholt er scheinen mußte.