Musik.
(Concert von
Door. Frau
Nilsson als
Gretchen und
Valentine. Gastspiele
von Frau
Jaide und Fräulein
Lehmann.)
Ed. H. Unter den vielen, einander fast unheimlich
drängenden Concerten interessirte den Musiker zumeist die
Soirée des Herrn Anton Door. Herrn Door’s glückliche
Spürnase für interessante Musik-Raritäten sichert jedem seiner
Concerte ein anziehendes Programm, ein erfreulicher Gegensatz
zu dem stereotypen Repertoire der übrigen Virtuosen beiderlei
Geschlechts. Diesmal brachte Door als Hauptnummer eine
der frühesten Compositionen von J. Brahms: die noch
niemals öffentlich gehörte F-moll-Sonate, op. 5. Eine ebenso
zarte als glühende Phantasie webt in diesem Tongemälde,
das mit manchem Fehler stürmischer Jugend auch alle Reize
derselben birgt. Der ganze Brahms steckt schon darin, aller
dings noch im Banne Schumann’s, dessen geniale Jugend
werke unseren Componisten mit Zaubermacht umstrickt hatten.
Die Eigenart der Melodien, das häufige Abspringen, das
träumerische Durchsingen von Mittelstimmen, die seltsamen
berückenden Harmonien, die weitgriffigen Accorde — das
Alles erinnert an Schumann. Sogar gewisse poetische An
spielungen, wie das Motto über dem Andante, das Ein
flechten eines Burschenschafts-Liedes in das Finale (ähnlich dem
„Großvatertanz“ in den „Davidsbündlern“) und dergleichen.
Der erste Satz mit seiner drängenden Leidenschaftlichkeit hat
etwas Berauschendes, worauf das liebeselige, innige Andante
uns um so rührender anspricht. Auf das kecke, schwunghafte Scherzo
(es könnte ohneweiters in den „Davidsbündler-Tänzen“ von
Schumann stehen) folgt ein kurzes Intermezzo, „Rückblick“
überschrieben. Das As-dur-Thema des Andante klingt hier
in Moll wieder: die Geschichte einer verstörten Liebe, fast
mit der dramatischen Lebendigkeit eines scenischen Vorganges
erzählt. Im Finale geht es etwas bunt und wild zu; die
Motive häufen sich, die Entwicklung, bald stockend, bald über
stürzend, will kein Ende finden; aber wie alle echte Leiden
schaft, auch die thörichteste, nimmt sie mit ihrem Glauben an
sich selbst auch den unseren gefangen. Man muß sich in dieses
Werk eingelebt haben, um es ganz zu verstehen und zu ge
nießen. Technisch gehört es zu den schwierigsten Clavierstücken,
nicht Eine Passage liegt in der Hand. Herr Door, dem wir
auch die erste Aufführung von Brahms’ H-moll-Trio ver
danken, hat mit der Erweckung dieser, gleichfalls seit zwanzig
Jahren gedruckten und ignorirten F-moll-Sonate von Brahms
sich ein neues Verdienst erworben. Wenn sein Vortrag dieser
Sonate der rechten Unmittelbarkeit und Innigkeit des Ge
fühls ermangelte, so traf er um so glücklicher Ton und
Styl verschiedener kleinerer Charakterstücke. Besonders brillant
spielte Door eine neue Gavotte (Es-dur, op. 129) von
Reinecke, die wir zu den frischesten, anmuthigsten Eingebun
gen des Leipziger Gewandhaus-Directors zählen. Reinecke
hat sich neuester Zeit mit Vorliebe instructiven Arbeiten zu
gewendet, aus welchen wir Schülern und Lehrern besonders
die „vierundzwanzig Etüden“ (op. 121) empfehlen, als unschätz
bar für die Ausbildung des gleichmäßigen Zusammenwirkens
beider Hände im Clavierspiel. Eine überaus zarte, fein
sinnige „Berceuse“ von Laskowsky interessirt als merk
würdige Vorausnahme Chopin’s. Der verstorbene Componist,
vor mehr als vierzig Jahren General in Rußland und völlig
unbekannt mit dem eben auftauchenden Chopin, offenbart in
seiner „Berceuse“ eine ganz auffallende Verwandtschaft mit
diesem. Es soll noch eine Menge gedruckter Compositionen
von Laskowsky geben, die selbst in seinem Vaterlande so gut
wie unbekannt geblieben. Unter diesen zwei reizenden Genre
bildchen klang Raff’s „Eclogue“ in C-dur recht trocken und
äußerlich. Ein brillantes Clavierstück von Graun, dem
„Tod-Jesu-Graun“, zu hören, der durch seine italienischen
Opern Friedrich den Großen und später wahrscheinlich Nie
manden mehr entzückte, mußte das Publicum überraschen —
diese lebhaft dahinfließende „Gigue“ von Graun ist uns
wenigstens lieber, als seine berühmten Opern-Arien. Von
einheimischen Componisten spielte Herr Door eine Toccata
von Lewy und ein Phantasiestück von Brüll, Beides mit
entschiedenem Erfolge. Fräulein Marie Ambros, die
Tochter des kürzlich verstorbenen Musikschriftstellers Pro
fessor Ambros, trat in Door’s Concert zum ersten
male als Sängerin vor die Oeffentlichkeit. Große Be
fangenheit hat sie wahrscheinlich an der Entfaltung ihrer
Stimm-Mittel gehindert; die Empfindung, mit der sie eine
alte italienische Arie und zwei deutsche Lieder vortrug, er
warb ihr jedoch den lauten Beifall der Versammlung und
wiederholten Hervorruf. Was wir bei der Production von
Fräulein Ambros am schwersten vermißten, war — ihr Vater.
Noch können wir uns nicht daran gewöhnen, in keiner Oper,
in keinem Concert mehr das von Geist und Heiterkeit strah
lende Gesicht unseres Ambros auftauchen zu sehen, der, be
ständig von lebhaftem Antheil bewegt, selbst überall Leben
und Bewegung verbreitete. Möge sein Name und Andenken
der Tochter hilfreich sein auf ihrer neuen künstlerischen
Laufbahn!
Im Hofoperntheater sang unser gefeierter Gast Chri
stine Nilsson die Margarethe und die Valentine. Daß
sie als die lieblichste Verkörperung Gretchens in Gounod’s
„Faust“ uns entgegentreten werde, ließ sich nach ihrer Ophe
lia vorhersagen. Und schon ihre erste Erscheinung im Zauber
spiegel war von schönster, entscheidender Vorbedeutung für
die ganze Rolle, beinahe eine Art stummer Ouvertüre, welche
den Charakter der einzuleitenden Oper und ihre Haupt
momente ankündigt. In ihrem anschmiegenden weißen Kleide
vor dem Spinnrad sitzend, war sie das echte und doch ideale
Gretchen; und nicht als regungslose Wachsfigur, wie sonst
üblich, erscheint sie hier dem entzückten Faust, sie spinnt und
dreht das Rädchen, von dem Ausdruck ungetrübten Frie
dens zu nachdenklichem Sinnen und tiefer Traurigkeit
übergehend. Die Begegnung mit Faust im zweiten Act
wollte uns nicht recht befriedigen; sie war zu vornehm, zu
gefaßt und erhielt durch das langgezogene Gis in der Schluß
phrase einen Anhauch von ruhiger Ueberlegenheit, welche zu
unserem deutschen Gretchenbild nicht stimmt. Durch das ele
gante Französisch, mit dem sie die deutsche Ansprache Faust’s
beantwortete, mußte dieser Zug noch mehr hervortreten. Man
darf nicht vergessen, daß von Goethe’s Gretchen manche Cha
rakterzüge in dem Operntexte ganz fehlen und die übrigen
vielfach modificirt erscheinen durch das Medium französischer
Musik. Deutsche Sängerinnen, welche das Goethe’sche Drama
oft darstellen gesehen, wissen auch in der Oper das Naive,
Bürgerliche, Realistische Gretchens mehr hervorzuheben, „einer
Seele, deren Einfalt nicht salzlos ist“, wie Vischer hervor
hebt. Die Lichtgestalt der Nilsson hat aber in ihrer Weise
auch Recht, wir möchten den leichten Heiligenschein nicht an
fechten, der ihr Gretchen von Anfang bis zu Ende umschwebt.
Denn von Anfang bis zu Ende ist die Rolle wahr und echt
gefühlt, edel und einheitlich gestaltet, sogar mit Verzicht auf
manchen schlagenden Effect. Zu den vollendetsten Leistungen
der Nilsson gehört die Schmuckscene, sie strahlt von reizend
sten Gesangsdetails, die, den Worten sich eng anschmiegend,
nirgends kokett vordrängen. Ueberraschend gelingt ihr in
Ton und Miene die Verbindung von leichtem Schrecken
und geheimer Freude über den Schmuck. Die Liebes
scenen sang sie überaus keusch und innig; schon auf ihren
ersten Tönen lag das Morgenroth zärtlicher Schmerzen.
In der Domscene versinnlicht sie die ringende Trostlosigkeit
Gretchens vor dem Madonnenbild mit ergreifendem, dabei
stets malerisch schönem Geberdenspiel. Sie verharrt aber nicht
durchwegs in Verzweiflung; stellenweise beruhigt sich ihr Auf
ruhr durch das Bewußtsein innerer Schuldlosigkeit, und sie
singt die C-dur-Stelle mit dem Ausdruck kräftigsten Gott
vertrauens, bis schließlich der Anblick Mephisto’s sie nieder
wirft. In Paris wird diese Scene richtiger und poetischer so
gegeben, daß Gretchen den bösen Geist, der, von ihr unge
sehen, ganz nahe hinter einem Pfeiler singt, beim Hinaus
gehen erblickt. Der Anblick des unbeweglich an dem Pfeiler
lehnenden Mephisto wirft sie nieder, ohne daß er sein bruta
les „Sei verflucht!“ ihr direct ins Gesicht schleudert. In
der Kerkerscene markirt die Nilsson den Wahnsinn Gretchens
nur wenig und mildert ihn zu einer traumartigen leichten
Trübung des Bewußtseins, das sie beim Eintritt Mephisto’s
vollständig wiedergewinnt. Wir wollen diese Auffassung der
Nilsson durchaus nicht als die schlechtweg oder allein richtige
hinstellen, haben wir doch von bedeutenden Künstlerinnen die
Scene weit greller und doch auch überzeugend wahr spielen
sehen. Aber die Darstellung der Nilsson fließt nicht blos
aus ihrem obersten ästhetischen Princip, das Häßliche, Ver
zerrte überall zu mildern, soweit es nur die dramatische
Wahrheit erlaubt, sondern auch aus ihrer eigenthümlichen
und stylvoll durchgeführten Auffassung der ganzen Rolle. Ihr ist
das Gretchen der Schlußscene bereits ein mit Gott versöhn
tes, halb schon dem Himmel angehörendes Wesen, deren gei
stige Störung nicht grell und nicht bis ans Ende vorherrschen
darf. Wer so lange, zusammenhängende, innige Gebete spricht,
wie Gretchen in der dreimal sich steigernden Strophe „Anges
purs!“ (wieder eine bedeutende Abweichung Gounod’s von
dem Goethe’schen Original), der ist nicht mehr wahnsinnig.
An realistischem Detail und Theater-Effect ist die Kerkerscene
der Nilsson zu übertreffen, aber die verklärende Darstellung
des Ausganges schließt, harmonisch zum Anfange zurück
deutend, das Ganze zu einem idealen Ring. Gesang, Spiel
und Erscheinung der Nilsson schaffen aus Gounod’s „Mar
garethe“ eine Lichtgestalt, die Niemand vergessen kann, der
aus ihrem Zauberkreis getreten. Wenn ich gegen Einzelheiten
Bedenken äußerte, so that ich es mehr, um zu erzählen, als
um zu tadeln. In Christine Nilsson begegnet uns die
seltene Erscheinung einer nur aus innerster Ueberzeugung
heraus schaffenden, immer wahren und reinen Künstlerin.
Das Recht einer solchen Persönlichkeit achte ich so hoch, daß
ich, von Einzelheiten ihrer Auffassung beirrt oder befremdet,
lieber die Schuld in mir selbst, als in ihr suchen mag.
Allerdings darf man nicht vergessen, daß die holde
Eigenart dieser Künstlerin nicht allen Aufgaben gleich günstig
entgegenkommt, ja daß der Umkreis dessen, was sie ganz
vollendet zu verkörpern vermag, ein begrenzter ist. Aussehen,
Stimme, Temperament der Nilsson schließen sie zwar nicht
aus von hochdramatischen Rollen, sie werden aber nicht hin
reichen, wo nur durch Gewalt der Stimme und ungestüme
Leidenschaftlichkeit zu wirken ist. Dies ist der Fall in Meyer
beer’s „Hugenotten“. Schon in dem ziemlich eng gezo
genen Rollenkreise der Jenny Lind bezeichnete Valentine
den Punkt, wo der vollendetsten Virtuosität und edelsten
Empfindung nicht mehr die volle Wirkung antwortete. Auch
die Valentine der Nilsson ist ein seelenvolles, fein aus
geführtes Bild, das aber mit lauter lichten Farben gemalt
scheint. Wo der Gegenstand ein brennendes Dunkelroth, ein
mitternächtiges Schwarz erheischt, da versagt die höchste
Kunst eines Malers, auf dessen Palette gerade diese Farben
fehlen. Wie wir seinerzeit nach der „Hugenotten“-Vorstel
lung der Lind die Rede gerne auf ihre Amina oder Vielka
ablenkten, so antworten wir auf die Frage nach der Valen
tine der Nilsson am liebsten: Hört sie als Ophelia, als
Gretchen! Und doch war die ganze Rolle edel und liebens
würdig dargestellt und überaus schön gesungen. Dennoch
haben wir Sängerinnen, welche die Kunst der Nilsson nicht
entfernt erreichen, gerade die Valentine mit ungleich packen
derer Wirkung singen hören. Der überwältigende Liebesdrang
und all die heroischen Entschlüsse, die aus Valentinens unge
heuren Erlebnissen wie Feuersäulen aufsteigen, sie verlangen
eherne Stimmen und ein bis zur Rücksichtslosigkeit leiden
schaftliches Spiel. Die Wiener zumal sind so sehr gewöhnt, diese
Rolle von stimmgewaltigen und passionirten Sängerinnen zu
hören, daß sie sich hier eher mit dem Hohlspiegel der Ueber
treibung befreunden, als mit einer mild und maßvoll ab
schwächenden Darstellung. Daß es des Schönen noch vollauf
gab in dieser jüngsten Leistung der Nilsson, bedarf
ebensowenig der Versicherung, als daß das Publicum es mit
Begeisterung aufnahm.
Von der Unterstützung, welche Frau Nilsson als Gret
chen und Valentine fand, gibt es wenig Neues zu berichten.
Herr Rokitansky befriedigte von Allen am meisten, zu
mal als Marcell, dessen Charakteristik ihm vollkommen
natürlich ist, während er zum Mephisto sich zwingen muß.
Mit Freuden bemerkten wir, daß er diesen Zwang sich wenig
stens weit mehr angelegen sein ließ, als früher, und nament
lich den ersten und zweiten Act lebendiger spielte. Im Ge
sang war Alles lobenswerth, bis auf das bellende offene D
in der Kirchenscene und das unmotivirte Ritardando in der
Serenade. Als Marcell hat Herr Rokitansky gegenwärtig
kaum einen Nebenbuhler. Herr Walter sang die Romanze
und das Liebesduett im Garten so gefühlvoll, daß man ihm
seine Verlegenheit und seine abscheuliche weiße Perrücke im
Studirzimmer gern nachsah. Herrn v. Bignio, unserem
bewährten Valentin, möchten wir nur empfehlen, in der
Schwerterscene seine Stimme nicht so übermäßig zu forciren,
sie intonirt dann meistens zu hoch. „Die Hugenotten“ be
sitzen in Fräulein Tagliana eine reizende Königin, in
Frau Dillner einen ganz vortrefflichen Pagen. Ohne
Herrn Alexy’s sehr anständige Leistung als Nevers schmä
lern zu wollen, vermißten wir doch die elegante Repräsenta
tion des Herrn Bignio in dieser Rolle.
Zwei mit der Bayreuther Kriegsmedaille geschmückte
Sängerinnen gastiren gegenwärtig abwechselnd mit der
Nilsson am Hofoperntheater: die Altistin Frau Jaide
aus Darmstadt und die Sopranistin Fräulein Marie Leh
mann aus Köln. Frau Jaide, eine sehr verständige,
gut geschulte und in manchen Momenten excellent drama
tische Sängerin wurde als Azucena und Amneris
mit verdienter Anerkennung aufgenommen, ohne jedoch mit
ihrem bereits verblühenden Organ einen tieferen Eindruck
hervorzubringen. Fräulein Lehmann, im Vortheil durch
ihre einnehmende, jugendlich schlanke Erscheinung, beein
trächtigte ihre recht angenehme Stimme durch häufiges Tre
moliren und hatte mit Verdi’s „Gilda“, welche ein süd
licheres Temperament verlangt, keine glückliche Wahl ge
troffen für ihr erstes Debüt. Was diesen beiden, in
Deutschland sehr beliebten Sängerinnen überdies schadete
und schaden mußte, ist die Gleichzeitigkeit ihres Gastspiels
mit dem der gefeierten Nilsson. Durch diesen unerforsch
lichen Rathschluß der Direction, welcher das allgemeine
Interesse zerstreut, das Publicum abstumpft und die Kritik
ermüdet, waren von vornherein die beiden deutschen Sängerinnen
in den Schatten der allgemeinen Theilnahmslosigkeit gestellt.