Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4464. Wien, Dienstag, den 30. Januar 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4464. Wien, Dienstag, den 30. Januar 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musik. (Hofoperntheater. — Concert von R. Heuberger. — Komische Oper: „Der Geist des Wojwoden.“)

Ed. H. Christine Nilsson hat Wien verlassen, nachdem sie binnen wenigen Abenden sich fest und redlich in Aller Herzen eingesungen. Wir geben nicht allzu viel auf das blumen- und lorbeerbelastete Beifallsspectakel einer „Bene fice-Vorstellung“ — dergleichen läßt sich machen, und Lorbeerkränze sind auch für unwürdige Häupter zu kaufen — aber ein durch lange Theaterpraxis geschärfter Sinn unter scheidet leicht den gefühlten Enthusiasmus vom arrangirten und weiß recht gut, was sich nicht machen läßt. Ein Her zenszug von Dankbarkeit und Liebe klang durch die Rufe, duftete aus den Blumen, mit welchen die Wiener Abschied nahmen von der schwedischen Sängerin. Man war sich deut lich bewußt, daß die Nilsson einen tieferen und edleren Ein druck hinterlasse, als den eines oberflächlichen Amusements, einen Eindruck, der dem Einzelnen eine Bereicherung für das Leben der Allgemeinheit, eine Veredlung des Geschmackes be deute. Wie selten begegnen uns solche reine, adelige Naturen, von denen wir sagen müssen, daß sie allenfalls in Einzel heiten zu überbieten, im Ganzen aber nicht zu übertreffen, nicht nachzumachen sind. Unsere Berichte haben etwas aus führlicher bei dem Spiele der Nilsson verweilt, pflegt doch das allgemeine Interesse zuerst zu fragen: Wie hat ein fremder Künstler diese Rolle, wie jene aufgefaßt und in den Hauptmomenten ausgeführt? Trotzdem ist die charakterisirende Kunst, mit welcher sie die verschiedenen Rol len trennt, uns nicht so wesentlich und werthvoll wie das Gemeinsame derselben; dramatisch: die Grazie und seelen volle Bescheidenheit des Spiels, musikalisch: die vollendete Schönheit des Gesanges. Mag sie Gretchen oder Ophelia sein, bewegt von Freude oder von Leid, stets ist es ein wun dervolles Singen, das von ihren Lippen strömt. Das feinste Gehör, wie wir es ja auch bei den schwedischen Quartett sängerinnen bewundert, hat sie als Pathengeschenk ihrer Hei

mat mitbekommen. Jenny Lind klagte manchmal, daß deutsche Sängerinnen so viel mit dem Herzen und dem Kopfe singen und so wenig mit dem Ohr. Die Intonation der Nilsson ist immer so entzückend rein, daß wir eine gute Violinspielerin in ihr vermuthen würden, wenn wir nicht zu fällig wüßten, daß sie es wirklich ist. Wie ihrem Tonansatz, so lauschen wir auch immer ihrer Aussprache, im Fran zösischen wie im Italienischen ein Muster von Correctheit und Deutlichkeit. Ihr musikalischer Schönheitssinn bewahrt sie vor dem sinn- und geschmacklosen Beben der Stimme, vor dem Verrücken der Tactverhältnisse, vor dem krampfhaf ten Hinaufschrauben oder Herausstechen einzelner Töne und ähnlicher Contrebande, welche selbst berühmte Sänge rinnen als angeblich „dramatisch“ ihrem Vortrag ein schmuggeln. Diesen rein künstlerischen, unaffectirten Ge sang der Nilsson in seinem vollen Werth so rückhalt los gewürdigt zu haben, gereicht unserm ein wenig an materielle Effecte gewöhnten Publicum zum Verdienste. Als lebendiges Beispiel für alle singenden Menschenkinder, die überhaupt hörend zu lernen verstehen, ist die Nilsson unschätzbar. Ein Narr macht Hunderte verrückt, aber Ein Weiser erhält auch Hunderte bei Verstand. Und diese Eine große Eigenschaft hat Christine Nilsson mit Adelina Patti gemein: Beide sind wahre Conservatorien, sind Er halter und Fortpflanzer des schönen Gesanges. Mit Pa rallelen zwischen der Patti und der Nilsson verschonen wir den Leser; die Vergleiche mit Sonne und Mond, mit Süd und Nord, mit Rose und Lilie kann der Genügsame so leicht sich selber machen und noch weiter ausspinnen bis auf Champagner und Bordeaux, Strauß und Lanner u. s. f. Jede von ihnen wirkt eigenthümlich und von der Andern so verschieden, wie ihre ganze Persönlichkeit, ihr Blick, ihr Ton verschieden ist, aber Eines sind sie Beide: Königinnen des Gesanges. Durch Pracht und Mannichfalt der Farben und das Brillantfeuerwerk ihrer Bravour ist die Patti im Vor theil — im holden Ausdruck inniger Empfindungen die Nilsson. Dabei denke man sich Letztere ja nicht als die Sängerin des blassen Mondlichts und der zerfließenden Sentimentalität. Ihre Gestalten haben im Gegentheil eine sehr bestimmte Zeichnung,

ihr musikalischer Vortrag fein und scharf gezogene Contouren. Nur erscheint Alles eigenthümlich hell und klar, wie das reine, durch kein Prisma gebrochene Licht. Sie hat vielleicht nicht die energische Persönlichkeit für eine durchaus heroisch angelegte Rolle, aber bedeutende Kraft in einzelnen Momenten; da sehen wir Blicke und Armbewegungen von wahrhaft nieder zwingender Gewalt. Geistige Ueberlegenheit und scharfer Kunstverstand sprechen aus jeder ihrer Rollen. Jenes eigen thümliche, ungebrochen helle Licht, das, gleichmäßig über ihrer Gestalt ruhend, den Zauber und die Gefahr derselben bildet, fließt nicht aus einem Mangel ihrer Kunst, sondern aus der Individualität ihrer Stimme und ihrer Erscheinung. Zu aus geprägt und vollendet erscheint die Nilsson in den ihr ganz homogenen Rollen (Ophelia, Gretchen), um eine sehr viel seitige Darstellerin sein zu können. Von Sängern und Sän gerinnen ist eine Vielseitigkeit und Verwandlungskunst, wie sie großen Schauspielern eigen, überhaupt nicht gefordert und innerhalb der so viel enger gezogenen Grenzen des Ge sanges kaum erreichbar. Wenn ein Schröder, Ludwig Devrient, Seydelmann, La Roche abwechselnd tragische und derbkomische Rollen gleich ausgezeichnet spielten, so hat die Oper große Charakteristiker von gleicher Viel seitigkeit höchstens ausnahmsweise und annähernd er lebt. Bei Opernsängern bleibt in allen Rollen doch die eigene Persönlichkeit weit mehr vorwaltend. Bei Frau Nilsson ist sie das, wie wir gesehen, ganz entschieden. Dabei bleibt es erfreulich, ja oft erstaunlich, wie sie jedem darzustellenden Charakter in seine innersten Motive nachzu gehen weiß, sich von jedem Zuge Rechenschaft legt und Fremd artiges nur innerhalb der Grenzen des Richtigen sich assi milirt. Zu solchem ihr Fremdartigen gehört Mignon. Blond, kräftig und groß gewachsen hat Goethe seine Mignon sich nicht gedacht, und wir denken sie uns auch nicht so. Allein viel mehr noch als bei Gounod’sGretchen müssen wir bei der Mignon des Ambroise Thomas von der Goethe’schen Urgestalt absehen. Nur im ersten Act der Oper trägt Mignon wirklich die Züge des Goethe’schen Originals. Die Nilsson konnte uns zwar unser Bild von Mignon nicht verkörpern, sie setzte aber bald ein anderes, eigenes an dessen

Stelle, an das wir glauben mußten. „Eigen, eigen — aber schön!“ wie Rafael in Oehlenschläger’s Drama von der Madonna des Correggio sagt. Die Mignon der Nilsson hat unter den Zigeunern den Adel ihrer Geburt, die edlen For men ihrer ersten Erziehung nicht eingebüßt, ja sie hat (wie ihr Lied „Kennst du das Land“ und die Gebetscene im dritten Acte motiviren) Erinnerungen an ihre schöne Kindheit bewahrt. Der ungeberdige wilde Trotz Mignon’s in der ersten Scene wird bei der Nilsson zu einer fast stolzen Opposition; aufrechten Hauptes, furchtlos sogar den ängstlich abwehrenden Lothario beschwichtigend, stellt sie sich dem rohen Principal gegenüber, als wollte sie sagen: Du kannst mich tödten, aber ich tanze nicht! Ueberaus ein fach und schön sang sie den ganzen ersten Act. Im zweiten umgab sie die aus so disparaten Elementen zusammengesetzte „Styrienne“ mit einem Schimmer von Grazie, welcher das Ganze zugleich erklärte und verklärte. Die colorirten Stellen, insbesondere die absteigenden Scalen, perlten so unvergleich lich, daß wir, wie bei der Schmuck-Arie Gretchens, fast be dauerten, ihre Gesangs-Virtuosität nicht häufiger zu verneh men. Aber die Nilsson singt keine Verzierung, die der Com ponist nicht hingeschrieben, und selbst die vorgezeichneten so bescheiden als möglich. Für die Eifersucht gegen Philinen (im zweiten Act) fand Frau Nilsson den überzeugendsten Aus druck und belebte die Scene durch einige ihr allein ange hörige sehr glückliche Details. Der dritte Act, in Handlung und Musik ein kläglicher Abfall nach den beiden ersten, wurde von Frau Nilsson mit dem „tragischen Ausgange“ gespielt. Der einzige Sonnenblick, der tröstlich in das Lamento dieses dritten Actes fällt, das schließliche Erscheinen Phi linens mit Friedrich und Laërtes und der fröhliche Chor der Landleute, ist damit ohne Erbarmen gelöscht. Dieser ursprünglich aus Furcht vor den goethefesten Deutschen nachcomponirte Schluß mit Mignon’s Tod oder Ohnmacht (man weiß es nicht recht) wurde von den allzeit pathetischen Italienern mit Freuden adoptirt und hat seither den versöhnenden Originalschluß der Opéra comique fast überall verdrängt. Der neue „tragische“ Abschluß wird hoffentlich bei uns nicht beibehalten werden, er ist nur langweiliger und

geistloser als der ursprüngliche „gute Ausgang“. Die Nilsson sang diesen dritten Act wie ein Engel; aber gegen die Dummheit singen Engel selbst vergebens.

Für die Abschiedsvorstellung der Nilsson war ein Pot pourri zusammengestellt worden: der dritte Act (Garten scene) aus „Faust“, der dritte aus Rossini’s „Othello“, der vierte aus den „Hugenotten“, dazwischen als recht willkom mene heitere Abwechslung zwei der beliebtesten Ballet-Diver tissements. Trotz der großen Anstrengung dieses Abends blieb Frau Nilsson bis zur letzten Note frisch und kräftig bei Stimme und spielte das große Duett Valentinens mit Raoul noch schöner und ausdrucksvoller als das erstemal. Sie wurde darin von Herrn Müller, unserem besten Raoul, vortrefflich unterstützt. Als Faust fand Herr Walter, als Othello Herr Labatt reichlichen Beifall.

Mitten unter concertirenden Geigern und Pianisten tauchte diesmal ein concertirender Tondichter auf: Herr Richard Heuberger, Chormeister des Akademischen Gesangvereins. Es gibt für einen Kritiker, der seit vielen Jahren der musikalischen Production den Puls fühlt, nichts Angenehmeres, als wenn einmal wieder ein Symptom be schleunigter Lebensthätigkeit sich zeigt. Ist es doch keine Phrase, sondern bittere Wahrheit, daß wir an schöpferischen Talenten in der Musik heutzutage arm sind, die alte Garde sich lichtet, der Nachwuchs immer spärlicher wird. Da be grüßt man denn mit Freude, oft mit allzu vorschneller Freude, jeden halbwegs talentvollen Jünger, dessen glückliche Anfänge Gutes und Neues theils bringen, theils verheißen. Dies ist der Fall mit dem brünetten, schlanken Sohn der Steiermark, Richard Heuberger. Er ist begabt und auf dem rechten Wege, verdient also aufrichtige Ermunterung. Viel hat er noch zu lernen; aber wenigstens steckt er nicht in Manieren und Fehlern, die er erst verlernen müßte. Am wenigsten befriedigte uns sein Clavier-Quintett, dem es nicht an hübschen Einfällen und Anfängen fehlt, wol aber an Selbstständigkeit der Erfindung, an Stetigkeit und zusammen haltender Kraft der Ausführung. Ueberdies dehnt der Componist alle Sätze viel zu weit aus: er redet noch lange, nachdem er schon Alles gesagt hat. Viel

rückhaltloser können wir seine Vocal-Compositionen, Chöre und Lieder, loben. Zwei Frauenchöre („Mitternacht“ und Herbstlied“) verrathen poetische Auffassung und echt musi kalischen Sinn für wohlklingenden stimmgemäßen Vocalsatz. Noch eindringlicher wirkte ein größerer gemischter Chor, Sommermorgen“. Einen frischen Burschenton schlägt der Männerchor „Lied fahrender Schüler“ an. Von warmer Empfindung, wenn auch nicht überall von kräftiger Eigenart sind mehrere Lieder von Heuberger, welche eine stimmbegabte junge Sängerin, Fräulein Widl, sehr beifällig vortrug. Vor zwei Dingen möchten wir, auf Grund der genannten Gesänge, den Componisten warnen: vor allzu großer Länge und vor rhythmischer Monotonie. Wo vollends beide Fehler zu sammentreffen, erscheint jeder in doppelter Vergrößerung. Herr Heuberger erntete reichlichen Beifall. Er hat nunmehr ein ihm wohlwollend entgegenkommendes Publicum gefunden und, was noch seltener ist, einen rührigen Verleger, der be reits eine Reihe Heuberger’scher Compositionen in schöner Ausstattung publicirt hat: Buchholz in Wien.

Schließlich sind wir auch in der durch ihre Seltenheit doppelt erfreulichen Lage, einen neuen, sehr begabten Operetten- Componisten und einen echten Erfolg unserer Komischen Oper signalisiren zu können. Die gestern daselbst zur ersten Auf führung gelangte Novität heißt „Der Geist des Woj woden“, Text nach dem Polnischen von Anton Langer, Musik von Louis Großman. Es herrscht in dieser komischen Oper eine durchaus frische, gesunde, melodiöse Erfindung, die, weit entfernt von naturalistischer Unbeholfenheit, eine tüchtige musikalische Bildung und vollendete technische Ge wandtheit verräth. „Der Geist des Wojwoden“ hat in Warschau über vierzig Wiederholungen erlebt und dürfte auch hier ein Zugstück werden. Zugleich ist es die beste Vor stellung, welche wir in der Komischen Oper unter deren ge genwärtiger Direction gesehen. Sobald wir wieder über den Anfang eines Feuilletons und nicht, wie heute, blos über den Schluß desselben zu verfügen haben, wollen wir den Geist des Wojwoden zu etwas längerer Unterhaltung nochmals heraufbeschwören.