Musik.
(Hofoperntheater. — Komische Oper. — Sing-Akademie.)
Ed. H. Kein guter Freund war es, oder kein weiser,
der dem Director des Hofoperntheaters die Wiederaufnahme
von Auber’s fast verschollener „Ballnacht“ anrieth. Die
Erfolglosigkeit dieser Mühe war leicht vorauszusehen. Ungleich
manchen frisch gebliebenen und noch lange frisch bleibenden
Opern Auber’s („Stumme von Portici“, „Fra Diavolo“,
„Der schwarze Domino“) erzielt gerade seine „Ballnacht“
heute keine Wirkung mehr. Das liegt zum Theil in der
Schwäche und Leerheit der Musik selbst, also in inneren
Gründen, zum Theil in der hinzugetretenen überlegenen Con
currenz des Verdi’schen „Maskenball“. „Gustave III, ou: Le
bal masqué“ gehört durch sein Libretto zu den spannendsten
und lebendigsten Opern Auber’s, der Musik nach zu seinen
kühlsten, oberflächlichsten. Auber wußte dies und entschul
digte sich mit der athemlosen Eile der Arbeit. Als die Proben
von „Gustav“ begannen, hatte Auber kaum die zwei ersten
Acte componirt; vom December bis zum Februar mußte er
die ganze Oper vollenden und instrumentiren inmitten der
über Hals und Kopf betriebenen Theaterproben. Er ver
brachte den ganzen Tag im Theater und arbeitete
die Nächte durch. Für die Große Oper war eigentlich weder
Auber’s Partitur, noch Scribe’s Libretto das Ziel so
begeisterter Anstrengungen, sondern die Scenirung des großarti
gen Maskenballets im fünften Acte. Dieses Ballet verpflanzte
den Glanz und den Sturm der berühmten Pariser Opernbälle auf
die Bühne selbst und begründete den großen Erfolg der Oper.
Seit dem 27. Februar 1833, dem Tage der ersten Auffüh
rung, zog „Gustav III.“ mit seiner Ballnacht das Publicum
massenhaft ins Theater. Die Oper hatte sehr wenige Num
mern von tieferem Gehalte aufzuweisen; fast schien sie dem
Schlußgalopp zuliebe componirt, wie später der „Dom Se
bastian“ von Donizetti wegen des berühmten Trauermarsches.
Nur wenige Partien in „Gustav III.“ verriethen das große,
glänzende Talent des Componisten, am meisten noch die gra
ziöse Rolle des Pagen und einige kleine Stückchen im zweiten
und dritten Acte. Alles das unterschätze ich nicht, ja ich habe
es, in Kinderträumen befangen, lange Zeit sehr überschätzt,
überschätzt bis knapp vor der neuesten Aufführung der „Ball
nacht“ im Hofoperntheater. Da zerriß seufzend der letzte
Schleier von Illusion, welchen die Jugendeindrücke vergol
dend darüber gelegt. Wie lange hält noch solche Vergoldung
auch in der Phantasie! Wie gläubig hofft man, nicht Alles
zwar, aber doch Vieles von dem alten Zauber wiederzufinden in
der seit Jahrzehnten verschollenen Oper! Leider machte ich an mir
die betrübende Wahrnehmung, daß mich die Musik zur „Ball
nacht“ vollständig kalt ließ. Obgleich glückliche Erinnerungen
die besten Resonatoren sind, um das Schöne doppelt stark
aus jedem veralteten Werke herauszuhören — es wollte nicht
gehen. Es ist oft recht heilsam, solche wehmüthige Erfahrung
an sich selbst zu machen, und zu beobachten, daß nicht blos
„die Zeiten“ sich ändern, sondern die Kritiker gleichfalls. Als
Verdi auf dasselbe Libretto die Oper „II ballo in mas
chera“ componirte und diese in Wien erst italienisch, dann
deutsch zur Aufführung kam, fand ich sie zwar in den leiden
schaftlichen Scenen und dramatischen Effecten der Auber’schen
„Ballnacht“ überlegen, erklärte es aber trotzdem für bedauer
lich, wenn diese verdrängt durch Verdi würde. Heute empfinde
ich nichts mehr von solchem Bedauern; aus Auber’s „Ball
nacht“ kommend, weiß ich besser als je, daß Verdi’s Oper
nicht blos mit dem Reize des Neuen über das Alte, sondern
mit dem guten Rechte des Stärkeren über den Schwächeren
gesiegt hat. In Verdi’s „Ballo“ lebt eine reichere musika
lische Erfindung, eine intensivere dramatische Gewalt, eine
glühendere Leidenschaft. Manches darin ist roher als bei
Auber, Alles aber größer und bedeutender. Der erste Act
(bei Verdi nicht viel werth) ist bei Auber von geradezu er
schreckender Leerheit. Wie tief steht des Herzogs Entrée-Arie
bei Auber unter der ersten Romanze bei Verdi!
Der zweite und dritte Act sind bei Verdi ohne allen Ver
gleich kräftiger, bedeutender, musikalisch reicher und drama
tisch lebendiger als bei Auber. Nur im vierten Acte (Terzett
der drei Verschwornen) möchte ich der Composition Auber’s
den Vorzug geben; hier siegt die Einfachheit des Franzosen
über das triviale Harfen- und Posaunen-Pathos des Ita
lieners. Einige flotte Melodien in der Ballnacht („Alte Sy
bille“ und dergleichen) begrüßten wir als gute alte Bekannte,
fanden sie aber sehr alt geworden. Für die leichte, tän
delnde Grazie solcher Musik sind vierundvierzig Jahre eine
beträchtliche, kaum länger zu tragende Last. Die Achtung vor
Auber, den ich liebe, möchte ich selbst zum Scheine nicht ver
letzen: es galt hier, Oper gegen Oper, Ballnacht gegen Ball
nacht abzuwägen, nicht die Tondichter selbst gegen einander.
Und auch diese Eine Oper, die den Erfolg für sich hat,
Verdi’s „Maskenball“, hat eben zugleich das Glück, fünf
undzwanzig Jahre jünger zu sein, als ihre französische Ri
valin. Sie ist heute die bessere Oper, im Jahre 1833
wäre sie es noch nicht gewesen, und im zwanzigsten Jahr
hundert wird sie es wahrscheinlich nicht mehr sein neben einer
neueren dritten.
Möge man aber den musikalischen Werth von Auber’s
„Ballnacht“ höher oder niedriger taxiren, die Wieder
einführung dieser Oper ist und bleibt ein Fehltritt auf jedem
Theater, welches den Verdi’schen „Maskenball“ im Reper
toire hat. Es ist ein Erfahrungssatz, fast so unanfechtbar
wie ein Naturgesetz, daß zwei Opern mit demselben Libretto
heutzutage nicht neben einander bestehen können und auch
nicht gleichzeitig sollen gegeben werden. Verdi’s „Masken
ball“ hatte hier wie anderwärts die halbvergessene „Ball
nacht“ von Auber vollständig verdrängt. Daß man jetzt den
Stiel umkehren und eine gewaltsame Restauration vornehmen
will, das heißt die effectvollere, modernere Oper durch die
abgesetzte ältere wieder vernichten, ist ein dramaturgischer Un
sinn. Vor dem 31. Januar 1877 konnte die „Ballnacht“
wenigstens noch in unseren rosigen Jugenderinnerungen leben;
jetzt ist sie erst recht verloren. Die Masken-Galoppade wird
sie nicht retten, und der neue pikante Reiz der Hoftracht
Louis’ XV. ebensowenig. Man spielt nämlich jetzt die „Ball
nacht“ in diesem Costüm, gepudert, mit Haarbeutel und
Degen. Für jedes tragische oder heroische Drama ist dieses
Costüm ein Unglück und zu vermeiden, wo dies nur immer mög
lich. Dr. Louis Véron, der berühmte Pariser Opern-Director,
von welchem Auber das (zuerst Rossini zugedachte) Textbuch
zur „Ballnacht“ erhielt, erzählt in seinen Memoiren, daß das
Costüm dem Eindruck diese Oper in Paris sehr geschadet habe.
„Gepuderte Schauspieler,“ fährt Véron fort, „fühlen sich
immer genirt, leidenschaftliche Gefühle auszusprechen; die
Zierlichkeiten und Koketterien jener Epoche passen mehr für
das Lustspiel. Mademoiselle Mars, die berühmte Tragödin,
bestätigte das; sie wollte keine dramatische Rolle mehr mit
gepudertem Haar spielen, weil Eine heftige Bewegung Lachen
erregen kann, indem sie eine Wolke von Puder hervorbringt.
Die Sänger (in der „Ballnacht“) waren also zu einer
Reserve und Unbeweglichkeit genöthigt, welche über alle
Situationen Kälte verbreitet.“ Aehnliches war hier zu be
merken, sogar mit einem leichten Stich ins Komische: der
tapfere Held Reuterholm sah in seiner rothen Weste und
hohen Stiefeln, gepudert und behaarbeutelt einem fürst
lichen Kutscher bedenklich ähnlich. Da man nun auf dem
Theaterzettel die beiden historischen Namen, Gustav III.
von Schweden und Ankarström, gestrichen und durch
frei erfundene Olafs und Reuterholms ersetzt hat, so ist
nicht einzusehen, warum die historische Correctheit sich gerade
auf das Costüm werfen muß, das zur Zeit Gustavs III. am
Hofe zu Stockholm getragen wurde. Die neue Besetzung hat
für den Erfolg der „Ballnacht“ keineswegs Besonderes ge
leistet. Am passendsten waren Fräulein Tagliana als
Page und Herr Müller als Herzog Olaf verwendet;
unseres Erinnerns ernteten nur sie im Laufe des Abends einen
halbwegs lebhaften Beifall. Uebrigens schienen Herr Müller
sowie Frau Materna (Amalie) sich fortwährend zu erinnern,
welch dankbarere Aufgabe sie Scene für Scene bei Verdi haben.
In der Auber’schen Rolle fühlen die meisten deutschen Sän
gerinnen sich genirt durch die quecksilberne Beweglichkeit der
Melodie und die ganz französische Coloratur. Das schöne,
etwas schwere Organ der Frau Materna kann sich weder in
das flüchtige Parlando der einen, noch in die etwas krausen
Schnörkel der andern fügen. Wo der Gesang leidenschaft
licher wird und sich getragener ausbreitet, da leistet Frau
Materna selbst mit etwas angegriffener Stimme, wie in der
„Ballnacht“, Effectvolles. Eine Hauptsache für diesen Opern
styl, die Deutlichkeit der Aussprache, vermißten wir fast bei
allen Mitwirkenden, am empfindlichten bei Herrn Roki
tansky (Reuterholm), dessen Text ein tiefes Geheimniß
blieb. Ueberhaupt wurde dieser hochgeschätzte Sänger seiner
Rolle nur in den beiden ruhiger hinfließenden ersten Acten
gerecht; im dritten und vierten will es ihm nicht gelingen,
eine anhaltend leidenschaftliche Erregung auszudrücken. Stimme
und Gesichtsausdruck kommen bei Rokitansky selten über
einen gewissen trotzigen Gleichmuth hinaus. Im dritten Acte
raffte er sich, beim Erkennen seiner Gattin, zu einer Geste
äußersten Schreckens auf, eine Anstrengung, für die er sich in
den folgenden Acten gründlich als wahrer Philosoph ent
schädigte. Die für das Ensemble sehr wichtigen kleineren
Rollen der Zigeunerin, dann der beiden Edelleute Dehorn
und Warting wurden von Frau Jaïde, den Herren Alexy
und Schittenhelm ganz befriedigend gegeben. Das Beste
an der neuen Mise-en-scène blieb das Maskenballet und die
malerische Schneelandschaft (Aussicht auf Stockholm) im
dritten Acte. Das Publicum hatte sich zahlreich eingefunden,
ging aber mit allen Symptomen einer ansteckenden Ent
täuschung auseinander.
Wir haben jüngst in Kürze von Großman’s komi
scher Oper „Der Geist des Wojwoden“ gesprochen. Ein
doppelt erfreulicher Erfolg, weil er ein neues, schönes Talent
ans Licht gezogen und weil er endlich die Komische Oper
wieder einmal in ihr eigentliches Fahrwasser gelenkt hat.
Dieses Theater hatte beinahe jede Erinnerung an seinen
Namen und jede Selbstkritik verloren, gab in jüngster Zeit
fortwährend Opern, welche die Kräfte seines Personals weit
überschritten und dem abgespieltesten Repertoire des Hof
operntheaters angehörten. Das unbegreiflich lange Gastspiel
eines einst berühmten Tenoristen, welcher schon vor vierzig
Jahren die Karlsruher und Frankfurter erfreut hat, über
gehen wir mit Stillschweigen. Wenn ein bejahrter, sehr be
leibter, von Athemnoth geplagter Mann, der nur noch in
der Maske eines bösen alten Juden (Eleazar) auf der Bühne
möglich ist, so wenig Selbstkenntniß oder Selbstachtung besitzt,
um in Wien als jugendlicher Liebhaber, wie George Brown,
Fra Diavolo, Lyonel u. s. w., aufzutreten, dann entzieht er sich
eigentlich jeder ernsthaften Kritik. „Der Geist des Wojwoden“
hingegen findet in der Komischen Oper eine gute Darstellung,
ergötzt durch harmlose Luftigkeit das große Publicum, interessirt
in nicht gewöhnlichem Grade den Musiker und ist durch die
glückliche Charakteristik nationaler Besonderheiten (Polen,
Ungarn, Czechen) speciell für Oesterreich wie gemacht. Die
Musik Herrn Großman’s gewinnt vor Allem durch Frische
und Natürlichkeit; wenn sie auch nicht überall bedeutend oder
originell klingt, so klingt sie doch auch nirgends affectirt und
geschraubt. Der Componist weiß manche Nummer von unbe
deutenderer Erfindung durch geschmackvolle, distinguirte In
strumentation überraschend zu heben; auch mancher geist
reiche, harmonische und rhythmische Zug zeichnet die Partitur
aus. Kräftigste Wirkung machen natürlich die nationalen
Nummern (darunter eine ganz reizende Ballet-Mazurka mit
Chor); aber auch die ernsten Stücke, in welchem der deutsche
Styl durchwegs vorherrscht, enthalten allerliebste Einzelheiten.
Das große Quintett im dritten Act („Ich höre Geräusch“),
zu welchem sich nach und nach die einzeln im Waldesdunkel
heranschleichenden Personen vereinigen, erinnert an die besten
ähnlichen Ensembles von Lortzing. Freilich sollten alle
darin Mitwirkenden und nicht blos einige derselben Stimmen
haben und singen können. Wie immer, müssen wir Frau
Charles-Hirsch, diesen musikalischen Solitär der Komi
schen Oper, zuerst nennen; die Mazurka im zweiten Act singt
sie ebenso virtuos als geschmackvoll. Die Komiker Hanno
und Stelzer zeichnen sich durch eminente nationale Charak
teristik aus und werden von Fräulein Tomsa, den Herren
Grengg, Steiner und Groß lobenswerth unterstützt.
Wir wünschen nur, daß der Erfolg der Novität den Compo
nisten Herrn Großman zu neuer, lebhafterer Thätig
keit anspornen möchte.
Am 2. d. M. gab die Wiener Sing-Akademie
unter Herrn Weinwurm’s Leitung ein sehr gut besuchtes
Concert. Den Anfang machte ein tiefernster, kunstvoll ver
schlungener Chor von Brahms („Heimat“); es folgte ein
recht wohlklingender, von J. Rheinberger („Maienthau“),
endlich ein schon durch die unglückliche Wahl des Textes halb
gelieferter Chor von Grädener („Des Sängers Harfe“).
Ein König und ein Harfner liegen todt in zwei Särgen
neben einander; der erste das Schwert, der zweite die Harfe
an der Seite. Nach allerlei Umwälzungen streifen „milde
Lüfte“ über die Särge, des Sängers Harfe ertönt, aber das
Schwert nicht, was wir ganz natürlich finden. Aus dieser
Thatsache, daß wol Harfen, nicht aber Schwerter im Winde
klingen, macht der Dichter ein allegorisches Aufhebens, das
der Poesie zusteht, in der Musik jedoch ein sehr mate
rielles Aufhebens wird. Herr Grädener feiert diesen
Harfennachklang mit einem so maßlosen Fortissimo der
Stimmen in angestrengtester hoher Lage und so opernmäßi
gem Verweilen, daß es für ein Concert von Schwertern
eben auch ausreichte. — Die zweite Abtheilung des Concerts
füllte das „Italienische Liederspiel“ von En
gelsberg, Text von Paul Heyse. Wir haben diese
ebenso reizende wie charaktervolle, an schönen Melodien
geradezu überreiche Composition bei Gelegenheit ihrer ersten
und zweiten Aufführung gewürdigt. Seither ist das Werk in
sehr hübscher Ausstattung (bei Buchholz und Diebel in Wien)
erschienen und darf somit einer weiteren Verbreitung und
häufigeren Wiederholungen getrost entgegensehen. Die jüngste
Aufführung des „Italienischen Liederspiels“ konnte zwar jene
vorletzte im großen Musikvereinssaal (mit Fräulein Raba
tinsky, den Herren Müller, Bignio und Krauß)
nicht erreichen, wußte aber dennoch den Schönheiten des
Werkes gerecht zu werden und die Hörerschaft zufriedenzu
stellen. Fräulein M. Widl, deren starke Sopranstimme
nach dem Theater hinweist, dann die Herren Schultner,
Schmidtler und Maas wurden mit reichem Beifall
gelohnt. Nur Eines dünkt uns noch erforderlich für die volle,
richtige Wirkung des „Italienischen Liederspiels“: eine
Orchester-Begleitung. Das Clavier, möge es auch so vor
trefflich behandelt werden, wie diesmal von Professor Lands
kron, bietet den vollen Chören ein zu schwaches Fundament
und den wechselnden Stimmungen des Gedichtes ein zu gleich
mäßiges, monotones Colorit. Gutem Vernehmen nach hat
der Componist eine vollständige Orchester-Begleitung zu seinem
„Italienischen Liederspiel“ geschrieben, welche uns zu einem
lohnenden Versuch sehr einladend erscheint.