Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4486. Wien, Mittwoch, den 21. Februar 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4486. Wien, Mittwoch, den 21. Februar 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 21.02.1877
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Musik. (Hofoperntheater. Carl-Theater. Philharmonie-Concert. Mosenthal.)

Ed. H. Vermag eine Sängerin mehr, als einzelne Kunststückchen zu produciren, versteht sie einen Charakter auf zufassen und durchzuführen, haben wir mit Einem Worte eine wirkliche dramatische Künstlerin vor uns, dann be grüßen wir jede neue Rolle von ihr wie ein kleines Fest. Als ein solches Fest war uns von der Direction des Hof operntheaters „Robert der Teufel“ versprochen mit Frau Nilsson als Alice — oder besser: Frau Nilsson als Alice mit „Robert der Teufel“. Letzterer zählt nicht mehr zu den dringenden Bedürfnissen, obwol heute noch immer keine einzige Bühne ohne ihn existiren kann — Alice aber, viel leicht die sympathischeste Gestalt Meyerbeer’s, konnte unter den Händen der Nilsson eine Art Neuschöpfung werden. Man hat uns diese vorenthalten und nur den dritten Act aus „Robert“, mit drei anderen Opern-Fragmenten zusam men, als Potpourri gegeben. Wäre dies nach einer vorher gegangenen vollständigen Aufführung des „Robert“ geschehen, allenfalls in der Abschieds-Benefice-Vorstellung, nach deren üblicher oder übler Methode — sei’s darum! So aber empfand der bessere Theil des Publicums das Bunterlei dieses Potpourris nicht als eine doppelte Gabe, sondern als eine halbe, nicht als einen Ersatz für die ver sprochene Oper, sondern als eine Verkürzung. Das wollten und mußten wir sagen, schon deßhalb, weil diese auf die oberflächlichste Zerstreuung abzielenden „ge mischten Vorstellungen“ in der Oper sich neuester Zeit auf fallend vermehren. Das vorzügliche Gelingen, welches gerade die Aufführung des „Robert“-Fragments krönte, ließ die Verstümmlung der Oper doppelt bedauern. Frau Nilsson ist für die holde Gestalt des normännischen Landmädchens wie geschaffen. Für die Naivetät und Treuherzigkeit Alicens, für deren angstvolles Erbeben, endlich für ihr siegreiches Gottvertrauen fand sie die rechten Accente, Mienen und Be wegungen — Alles wahr und schön. Den Strophen: „En

quittant la Normandie“ möchten wir den Preis zuerkennen, der Vortrag konnte nicht schlichter sein und nicht reizender. Ueberaus schön gespielt war das große Duett mit Bertram: den Höhepunkt der Scene, das Umklammern des Kreuzes, gab sie mit dem ganzen sittlichen Adel einer reinen Seele, aber nicht mit dem durchschlagenden Effect, den andere Dar stellerinnen hier erreichen. Sie ringen so lange als möglich in verzweifelter Abwehr gegen Bertram und schwingen sich erst im letzten Moment, wie in plötzlicher Eingebung, auf den Sockel des Kreuzes empor, um da ihr Fortissimo gegen den Bösen zu schleudern. Christine Nilsson geht von der rich tigen Auffassung aus, daß Alice, die ja von allem Anfang das Kreuz gesehen und vor demselben gekniet hat, nicht so gänzlich auf diese Zuflucht vergessen konnte. Sie erreicht deßhalb schon viel früher das Kreuz, umfaßt es mit dem linken Arm und steht, den rechten gegen Bertram aus streckend, einige Minuten mit stolzem Muthe oben, ehe sie mit jener Kraftstelle abschließt. Der Effect verliert das Plötzliche, Ueberraschende und damit einen Theil der „sen sationellen“ Wirkung. Hier wie in manchen anderen Momenten der Nilsson mag man vielleicht musikalisch oder dramatisch verschiedener Meinung sein; an Einzelheiten möge man bei ihr nicht mäkeln, sondern nehme sie, wie sie ist, ganz, rück haltlos. Sie ist, was ja so selten auf der Opernbühne, eine lebendige, in sich klare und gefestigte Individualität, ein wirklicher Mensch, in dem Alles lebt und harmonisch zusam menstimmt. An dem großen Eindruck, den das Duett Alicens mit Bertram hervorrief, hat Herr Rokitansky ein wesentliches Verdienst; vortrefflich, wie er jüngst als Marcell italienisch gesungen, sang er diesmal den Bertramfranzösisch; wir haben ihn in deutschen Vorstellungen niemals so feurig singen und so deutlich aussprechen gehört. Herr Rokitansky theilte mit der Nilsson die Ehren des Abends; auch Herrn Mül ler’s wohlthuend schöne Cantilene fand verdiente Anerkennung. Auf den dritten Act „Robert“ folgte der dritte von Ros sini’sOthello“. Schon in der letzten „gemischten Vorstel lung“ hat diese Desdemona-Scene, in welcher die Nilsson von Herrn Labatt als Othello gut secundirt wird, verhältniß mäßig schwach gewirkt. Die edle, ausdrucksvolle Leistung

unserer Künstlerin trägt nicht Schuld daran die Musik selbst ist uns entfremdet. Der sinnliche Reiz der Rossini’schen Me lodie welkte längst dahin, und die dramatische Gewalt der Composition erscheint uns für die Tragik dieser Scene viel zu schwach. Sehr lange, und selbst im Lager von Rossini’s Feinden, hat dieser Schlußact des „Othello“ für ein dra matisches Meisterwerk gegolten; wir gönnen ihm heute sol chen Ehrentitel höchstens im Vergleich zu den eines tragi schen Stoffes ganz unwürdigen ersten zwei Acten. Er selbst ist, offen gestanden, herzlich langweilig. Die langen mono tonen Recitative der Emilia und Desdemona, bevor Letztere zu ihrem „Weidenliede“ kommt, sind eine Geduldprobe. Diese berühmte Melodie: „Assisa a piè d’ un salice“ — wie süß, aber wie hartnäckig! Einmal gesungen erfreut sie, aber vier Strophen, ein langes Harfenvorspiel und nach jeder Strophe ein umständliches, altmodisch gekräuseltes Ritornell — das wirkt einschläfernd. Der lange Monolog des eintretenden Othello gehört abermals zu den starken Geduldproben, be sonders wenn diese Recitative durchwegs langsam, mit orato rienmäßigem Nachdruck gesungen werden. Endlich hört er auf zu reden und packt Desdemona — das Duett nimmt einen Anlauf zum Pathetischen, fällt aber gleich, im Orchester, in echt Rossini’schen Buffostyl. Die Accuratesse, mit der Othello, nachdem er Desdemona kaum erstochen, augenblicklich auch schon selbst todt hinfällt, gehört zu dem Erheiterndsten, was man in einer Tragödie sehen kann. Nach Desdemona’s Tod wurde das Drachenfest in Peking (aus dem Ballet Brahma“) getanzt, und über diese bunte chinesische Brücke gelangten wir wieder zu Ophelia’s Tod. Der vierte Act der Oper „Hamlet“ eignet sich noch am besten zu vereinzelter Darstellung, er rundet sich zu einem anmuthigen, poetisch ausklingenden Ganzen, in welchem Tanz und Gesang, Dich tung und Scenerie harmonisch ineinanderfließen. Es ist der erste Sonnenstrahl nach dem erdrückenden Düster der drei ersten Acte. Wir verlieren nicht viel an diesen ersten drei Acten, und dennoch — die herrliche Leistung der Nilsson muß durch diese Isolirung doch etwas von ihrer überzeugen den Kraft und Wahrheit einbüßen. Und wäre es nur, weil wir diese Ophelia eben erst in zwei anderen Rollen und zwei

anderen Costümen gesehen. An sich gehört diese Leistung zu dem Entzückendsten, was die heutige Oper bietet. Christine Nilsson ist nicht nur die beste, sie ist die einzige Ophelia, so wie Adelina Patti die einzige Rosina ist.

Im Carl-Theater ging eine neue dreiactige Operette von Offenbach: „Margot, die reiche Bäckerin“, in Scene. Ein altes Pariser Volkslied: „La boulangère a des écus“ gab den Herren Meilhac und Halévy den Anstoß zu diesem Libretto, das den Refrain jenes Volkslieds gleichsam drama tisch auseinanderlegt und fortsetzt. Eine ziemlich lose Ge schichte ist mit der Verschwörung von Cinq-Mars in Ver bindung gebracht; dieser historische Hintergrund und das ganze Costüm geben der „Reichen Bäckerin“ vielfache Aehnlichkeit mit „Madame Angot“. Die resolute Bäckerin ist eine gelun gene Figur, vom Librettisten wie vom Compositeur charakte ristisch gezeichnet und von Fräulein Link vortrefflich reprä sentirt. Außerdem sind als komische Würze zwei stets zugleich er scheinende Polizei-Agenten hinzugethan, welche, von Blasel und Matras köstlich gespielt, beinahe zu Hauptrollen emporwachsen. Herr Eppich, der überall Tüchtige und Eifrige, spielt und singt die Rolle des Friseurs Bernadille sehr gut und muß seine Couplets wiederholen. Diese Couplets (mit dem Refrain „c’est comme ça“) sind in ihrer leichten, ungezwungenen Komik echter Offenbach aus der besten Zeit. Auch sonst könnten wir unschwer ein halb Dutzend recht gefälliger, melo diöser, pikanter Nummern namhaft machen, an denen man das Cachet Offenbach’s sofort erkennt. Nur zu sehr, denn bei einer so unablässigen, angestrengten Production, wie die Offenbach’s, der jährlich seine drei Novitäten auf die Bühne bringt, kann es nicht ausbleiben, daß er sich wiederhole und immer häufiger zu bereits „bewährten“ Melodien, Rhythmen und musikalischen Spässen zurückgreife. Die musikalischen Ideen eines Componisten brauchen auch wie das Wild eine gewisse „Schonzeit“; unausgesetzt gejagt und ausgenützt, muß jede Erfindungskraft vorzeitig zu Grunde gehen. Für Offen bach gibt es seit 25 Jahren keine solche „Schonzeit“, und so sehr seine neuesten Operetten gegen die älteren zurückstehen, man muß immer wieder staunen, daß ihm doch noch ein solches Reserve-Sümmchen von Melodie und Humor ge blieben ist.

Das sechste Philharmonie-Concert fand am vorigen Sonntag unter Hanns Richter’s Leitung statt und enthielt die „Egmont“-Ouvertüre und D-dur-Symphonie von Beethoven, drei „deutsche Tänze“ von W. Bargiel und das Violin-Concert von Max Bruch. Eine erste Auf führung war nicht unter den Programmnummern; es bleibt somit nur die blendende Virtuosität des Herrn Sarasate zu erwähnen, welcher mit dem Vortrag des Bruch’schen Con certes einen Sturm von Beifall erregte. Es ließe sich trotz dem etwas mehr sagen von dieser oder jener Nummer des Philharmonischen Concertes; ich gestehe willig, nur mit halbem Ohr gehört zu haben. Und wie mir, so erging es vielen, wol den meisten Anwesenden, die unwillkürlich immer wieder zur Directions-Loge hinaufblickten, wo zum erstenmale ein wohlbekannter Platz leerstand — der Platz Mosenthal’s. Als einer der liebenswürdigsten, wohlwollendsten Menschen hat Mosenthal Freundschaft und Zuneigung in so reicher Fülle genossen, daß wir ihn nunmehr auch zu den Glücklich sten zählen dürfen, die mit und neben uns gelebt. Die viel seitige Thätigkeit Mosenthal’s streifte bekanntlich auch die Musik. Wir verlieren in ihm den gewandtesten und frucht barsten deutschen Operndichter und einen der tüchtigsten Direc toren unserer „Gesellschaft der Musikfreunde“. Wenn man Mosenthal als Libretto-Dichter hie und da den „deutschen Scribe“ nannte, so war das Lob jedenfalls zu hoch gegrif fen: weder qualitativ noch quantitativ erreicht er den fran zösischen Librettisten, der neben zahlreichen anderen Theater stücken achtundzwanzig große Opern und fündundneunzig komische Opern geliefert hat, worunter Muster-Libretto, wie die „Weiße Frau“, „Stumme von Portici“ und viele an dere. Freilich hatte unser Mosenthal auch nicht das Glück, Mitarbeiter wie Boieldieu, Meyerbeer, Halévy, Auber zu finden, die seine Textbücher zu höchsten Ehren gehoben hätten. Das vorzüglichste Libretto, das Mosenthal geschrieben, sind „Die lustigen Weiber von Windsor“, die mit Otto Nicolai’s Musik eine Zierde des deutschen Reper toires bilden. Die komische Oper der Deutschen hat diesem Libretto wenig an die Seite zu stellen. Auch unter den zahl reichen folgenden Textbüchern von Mosenthal findet sich manches Gute; die meistens übermäßige Einfachheit der

Handlung unterscheidet ihn auch wieder von Scribe, dem Meister des verwickelten Intriguenspiels. Eines jedoch hatte Mosenthal mit Scribe gemein: was er schrieb, war musi kalisch. Mosenthal hatte ebensowenig Musik gelernt, als Scribe; keiner von Beiden spielte ein Instrument; aber das musikalische Talent steckte in ihnen. Mosenthal’s klangvolle Verse kamen dem Componisten auf halbem Wege entgegen, der geschickte Aufbau seiner großen Ensembles und Finales reizte zu effectvoller musikalischer Erfindung. Ich erinnere an seine „Judith“, „Königin von Saba“, „Folkunger“ — im heiteren Fache an die „Lustigen Weiber“ und „Das goldene Kreuz“. So viel man ihnen auch ausstellen mochte, das Eine sollte man nie vergessen, daß Mosenthal der ein zige namhafte Bühnendichter in Deutschland war, der über haupt Operntexte schrieb. Er und immer nur er hat auf diesem unentbehrlichen und trotzdem in Deutschland so verödeten Gebiete producirt, fruchtbar und erfolgreich producirt. Den „Nähr vater der deutschen Opern-Componisten“ haben wir jüngst Mosenthal scherzhaft genannt; seine Pflegkinder werden die Wahrheit dieses Wortes jetzt einsehen und — hungern. Aber nicht blos sein poetisches, auch sein administratives Talent kam vielfach der Musik zu statten; sein Auftreten war oft entscheidend in der Direction der Gesellschaft der Musik freunde, der er mit dem idealen Eifer des Liebhabers ange hörte. Hier waren Mosenthal’s Ansichten und Vorschläge durchaus nicht ideologische Schwärmereien eines Poeten, viel mehr praktisch und sachgemäß, stets erfüllt vom „bon sens“, den er auch in lebhaft hinfließender Rede wohl zu vertheidi gen wußte. Es gab seit Jahren kaum eine für Wien wich tige musikalische Angelegenheit, welche ich nicht mit Mosen thal mit Nutzen und Vergnügen durchgesprochen hätte. Mit Niemandem verkehrte es sich leichter und angenehmer. Alle Pflegestätten geselliger Bildung und edler Kunstliebe in Wien werden Mosenthal schmerzlich vermissen. Er wird uns Allen lange abgehen, überall abgehen, der immer liebens würdig heitere, herzliche, erfrischende Mensch! Die Welt geht unbekümmert ihren Gang weiter, das wissen wir, und ver kündet, daß Niemand unersetzlich sei. Schade nur, daß das Gegentheil wahr ist: kein Mensch, der uns wohlthat und den wir liebten, kann ersetzt werden. Es kommen nur immer andere.