Musik.
(Hofoperntheater. Carl-Theater. Philharmonie-Concert.
Mosenthal.)
Ed. H. Vermag eine Sängerin mehr, als einzelne
Kunststückchen zu produciren, versteht sie einen Charakter auf
zufassen und durchzuführen, haben wir mit Einem Worte
eine wirkliche dramatische Künstlerin vor uns, dann be
grüßen wir jede neue Rolle von ihr wie ein kleines Fest.
Als ein solches Fest war uns von der Direction des Hof
operntheaters „Robert der Teufel“ versprochen mit Frau
Nilsson als Alice — oder besser: Frau Nilsson als
Alice mit „Robert der Teufel“. Letzterer zählt nicht mehr zu
den dringenden Bedürfnissen, obwol heute noch immer keine
einzige Bühne ohne ihn existiren kann — Alice aber, viel
leicht die sympathischeste Gestalt Meyerbeer’s, konnte unter
den Händen der Nilsson eine Art Neuschöpfung werden.
Man hat uns diese vorenthalten und nur den dritten Act
aus „Robert“, mit drei anderen Opern-Fragmenten zusam
men, als Potpourri gegeben. Wäre dies nach einer vorher
gegangenen vollständigen Aufführung des „Robert“ geschehen,
allenfalls in der Abschieds-Benefice-Vorstellung, nach deren
üblicher oder übler Methode — sei’s darum! So aber
empfand der bessere Theil des Publicums das Bunterlei dieses
Potpourris nicht als eine doppelte Gabe, sondern als
eine halbe, nicht als einen Ersatz für die ver
sprochene Oper, sondern als eine Verkürzung. Das
wollten und mußten wir sagen, schon deßhalb, weil
diese auf die oberflächlichste Zerstreuung abzielenden „ge
mischten Vorstellungen“ in der Oper sich neuester Zeit auf
fallend vermehren. Das vorzügliche Gelingen, welches gerade
die Aufführung des „Robert“-Fragments krönte, ließ die
Verstümmlung der Oper doppelt bedauern. Frau Nilsson
ist für die holde Gestalt des normännischen Landmädchens
wie geschaffen. Für die Naivetät und Treuherzigkeit Alicens,
für deren angstvolles Erbeben, endlich für ihr siegreiches
Gottvertrauen fand sie die rechten Accente, Mienen und Be
wegungen — Alles wahr und schön. Den Strophen: „En
quittant la Normandie“ möchten wir den Preis zuerkennen,
der Vortrag konnte nicht schlichter sein und nicht reizender.
Ueberaus schön gespielt war das große Duett mit Bertram:
den Höhepunkt der Scene, das Umklammern des Kreuzes,
gab sie mit dem ganzen sittlichen Adel einer reinen Seele,
aber nicht mit dem durchschlagenden Effect, den andere Dar
stellerinnen hier erreichen. Sie ringen so lange als möglich
in verzweifelter Abwehr gegen Bertram und schwingen sich
erst im letzten Moment, wie in plötzlicher Eingebung, auf
den Sockel des Kreuzes empor, um da ihr Fortissimo gegen
den Bösen zu schleudern. Christine Nilsson geht von der rich
tigen Auffassung aus, daß Alice, die ja von allem Anfang
das Kreuz gesehen und vor demselben gekniet hat, nicht so
gänzlich auf diese Zuflucht vergessen konnte. Sie erreicht
deßhalb schon viel früher das Kreuz, umfaßt es mit dem
linken Arm und steht, den rechten gegen Bertram aus
streckend, einige Minuten mit stolzem Muthe oben, ehe sie
mit jener Kraftstelle abschließt. Der Effect verliert das
Plötzliche, Ueberraschende und damit einen Theil der „sen
sationellen“ Wirkung. Hier wie in manchen anderen Momenten
der Nilsson mag man vielleicht musikalisch oder dramatisch
verschiedener Meinung sein; an Einzelheiten möge man bei
ihr nicht mäkeln, sondern nehme sie, wie sie ist, ganz, rück
haltlos. Sie ist, was ja so selten auf der Opernbühne, eine
lebendige, in sich klare und gefestigte Individualität, ein
wirklicher Mensch, in dem Alles lebt und harmonisch zusam
menstimmt. An dem großen Eindruck, den das Duett Alicens
mit Bertram hervorrief, hat Herr Rokitansky ein
wesentliches Verdienst; vortrefflich, wie er jüngst als Marcell
italienisch gesungen, sang er diesmal den Bertramfranzösisch;
wir haben ihn in deutschen Vorstellungen niemals so feurig
singen und so deutlich aussprechen gehört. Herr Rokitansky
theilte mit der Nilsson die Ehren des Abends; auch Herrn Mül
ler’s wohlthuend schöne Cantilene fand verdiente Anerkennung.
Auf den dritten Act „Robert“ folgte der dritte von Ros
sini’s „Othello“. Schon in der letzten „gemischten Vorstel
lung“ hat diese Desdemona-Scene, in welcher die Nilsson
von Herrn Labatt als Othello gut secundirt wird, verhältniß
mäßig schwach gewirkt. Die edle, ausdrucksvolle Leistung
unserer Künstlerin trägt nicht Schuld daran die Musik selbst
ist uns entfremdet. Der sinnliche Reiz der Rossini’schen Me
lodie welkte längst dahin, und die dramatische Gewalt der
Composition erscheint uns für die Tragik dieser Scene viel
zu schwach. Sehr lange, und selbst im Lager von Rossini’s
Feinden, hat dieser Schlußact des „Othello“ für ein dra
matisches Meisterwerk gegolten; wir gönnen ihm heute sol
chen Ehrentitel höchstens im Vergleich zu den eines tragi
schen Stoffes ganz unwürdigen ersten zwei Acten. Er selbst
ist, offen gestanden, herzlich langweilig. Die langen mono
tonen Recitative der Emilia und Desdemona, bevor Letztere
zu ihrem „Weidenliede“ kommt, sind eine Geduldprobe. Diese
berühmte Melodie: „Assisa a piè d’ un salice“ — wie süß,
aber wie hartnäckig! Einmal gesungen erfreut sie, aber
vier Strophen, ein langes Harfenvorspiel und nach jeder
Strophe ein umständliches, altmodisch gekräuseltes Ritornell —
das wirkt einschläfernd. Der lange Monolog des eintretenden
Othello gehört abermals zu den starken Geduldproben, be
sonders wenn diese Recitative durchwegs langsam, mit orato
rienmäßigem Nachdruck gesungen werden. Endlich hört er auf
zu reden und packt Desdemona — das Duett nimmt einen
Anlauf zum Pathetischen, fällt aber gleich, im Orchester, in
echt Rossini’schen Buffostyl. Die Accuratesse, mit der Othello,
nachdem er Desdemona kaum erstochen, augenblicklich auch
schon selbst todt hinfällt, gehört zu dem Erheiterndsten, was
man in einer Tragödie sehen kann. Nach Desdemona’s
Tod wurde das Drachenfest in Peking (aus dem Ballet
„Brahma“) getanzt, und über diese bunte chinesische Brücke
gelangten wir wieder zu Ophelia’s Tod. Der vierte Act
der Oper „Hamlet“ eignet sich noch am besten zu vereinzelter
Darstellung, er rundet sich zu einem anmuthigen, poetisch
ausklingenden Ganzen, in welchem Tanz und Gesang, Dich
tung und Scenerie harmonisch ineinanderfließen. Es ist der
erste Sonnenstrahl nach dem erdrückenden Düster der drei
ersten Acte. Wir verlieren nicht viel an diesen ersten drei
Acten, und dennoch — die herrliche Leistung der Nilsson
muß durch diese Isolirung doch etwas von ihrer überzeugen
den Kraft und Wahrheit einbüßen. Und wäre es nur, weil
wir diese Ophelia eben erst in zwei anderen Rollen und zwei
anderen Costümen gesehen. An sich gehört diese Leistung zu
dem Entzückendsten, was die heutige Oper bietet. Christine
Nilsson ist nicht nur die beste, sie ist die einzige Ophelia, so
wie Adelina Patti die einzige Rosina ist.
Im Carl-Theater ging eine neue dreiactige Operette von
Offenbach: „Margot, die reiche Bäckerin“, in Scene.
Ein altes Pariser Volkslied: „La boulangère a des écus“
gab den Herren Meilhac und Halévy den Anstoß zu diesem
Libretto, das den Refrain jenes Volkslieds gleichsam drama
tisch auseinanderlegt und fortsetzt. Eine ziemlich lose Ge
schichte ist mit der Verschwörung von Cinq-Mars in Ver
bindung gebracht; dieser historische Hintergrund und das ganze
Costüm geben der „Reichen Bäckerin“ vielfache Aehnlichkeit
mit „Madame Angot“. Die resolute Bäckerin ist eine gelun
gene Figur, vom Librettisten wie vom Compositeur charakte
ristisch gezeichnet und von Fräulein Link vortrefflich reprä
sentirt. Außerdem sind als komische Würze zwei stets zugleich er
scheinende Polizei-Agenten hinzugethan, welche, von Blasel und
Matras köstlich gespielt, beinahe zu Hauptrollen emporwachsen.
Herr Eppich, der überall Tüchtige und Eifrige, spielt und
singt die Rolle des Friseurs Bernadille sehr gut und muß
seine Couplets wiederholen. Diese Couplets (mit dem Refrain
„c’est comme ça“) sind in ihrer leichten, ungezwungenen
Komik echter Offenbach aus der besten Zeit. Auch sonst
könnten wir unschwer ein halb Dutzend recht gefälliger, melo
diöser, pikanter Nummern namhaft machen, an denen man
das Cachet Offenbach’s sofort erkennt. Nur zu sehr, denn
bei einer so unablässigen, angestrengten Production, wie die
Offenbach’s, der jährlich seine drei Novitäten auf die Bühne
bringt, kann es nicht ausbleiben, daß er sich wiederhole und
immer häufiger zu bereits „bewährten“ Melodien, Rhythmen
und musikalischen Spässen zurückgreife. Die musikalischen
Ideen eines Componisten brauchen auch wie das Wild eine
gewisse „Schonzeit“; unausgesetzt gejagt und ausgenützt, muß
jede Erfindungskraft vorzeitig zu Grunde gehen. Für Offen
bach gibt es seit 25 Jahren keine solche „Schonzeit“, und so
sehr seine neuesten Operetten gegen die älteren zurückstehen,
man muß immer wieder staunen, daß ihm doch noch ein
solches Reserve-Sümmchen von Melodie und Humor ge
blieben ist.
Das sechste Philharmonie-Concert fand am
vorigen Sonntag unter Hanns Richter’s Leitung statt und
enthielt die „Egmont“-Ouvertüre und D-dur-Symphonie
von Beethoven, drei „deutsche Tänze“ von W. Bargiel
und das Violin-Concert von Max Bruch. Eine erste Auf
führung war nicht unter den Programmnummern; es bleibt
somit nur die blendende Virtuosität des Herrn Sarasate
zu erwähnen, welcher mit dem Vortrag des Bruch’schen Con
certes einen Sturm von Beifall erregte. Es ließe sich trotz
dem etwas mehr sagen von dieser oder jener Nummer des
Philharmonischen Concertes; ich gestehe willig, nur mit halbem
Ohr gehört zu haben. Und wie mir, so erging es vielen,
wol den meisten Anwesenden, die unwillkürlich immer wieder
zur Directions-Loge hinaufblickten, wo zum erstenmale ein
wohlbekannter Platz leerstand — der Platz Mosenthal’s.
Als einer der liebenswürdigsten, wohlwollendsten Menschen
hat Mosenthal Freundschaft und Zuneigung in so reicher
Fülle genossen, daß wir ihn nunmehr auch zu den Glücklich
sten zählen dürfen, die mit und neben uns gelebt. Die viel
seitige Thätigkeit Mosenthal’s streifte bekanntlich auch die
Musik. Wir verlieren in ihm den gewandtesten und frucht
barsten deutschen Operndichter und einen der tüchtigsten Direc
toren unserer „Gesellschaft der Musikfreunde“. Wenn man
Mosenthal als Libretto-Dichter hie und da den „deutschen
Scribe“ nannte, so war das Lob jedenfalls zu hoch gegrif
fen: weder qualitativ noch quantitativ erreicht er den fran
zösischen Librettisten, der neben zahlreichen anderen Theater
stücken achtundzwanzig große Opern und fündundneunzig
komische Opern geliefert hat, worunter Muster-Libretto, wie
die „Weiße Frau“, „Stumme von Portici“ und viele an
dere. Freilich hatte unser Mosenthal auch nicht das Glück,
Mitarbeiter wie Boieldieu, Meyerbeer, Halévy,
Auber zu finden, die seine Textbücher zu höchsten Ehren
gehoben hätten. Das vorzüglichste Libretto, das Mosenthal
geschrieben, sind „Die lustigen Weiber von Windsor“, die
mit Otto Nicolai’s Musik eine Zierde des deutschen Reper
toires bilden. Die komische Oper der Deutschen hat diesem
Libretto wenig an die Seite zu stellen. Auch unter den zahl
reichen folgenden Textbüchern von Mosenthal findet sich
manches Gute; die meistens übermäßige Einfachheit der
Handlung unterscheidet ihn auch wieder von Scribe, dem
Meister des verwickelten Intriguenspiels. Eines jedoch hatte
Mosenthal mit Scribe gemein: was er schrieb, war musi
kalisch. Mosenthal hatte ebensowenig Musik gelernt, als
Scribe; keiner von Beiden spielte ein Instrument; aber das
musikalische Talent steckte in ihnen. Mosenthal’s klangvolle
Verse kamen dem Componisten auf halbem Wege entgegen,
der geschickte Aufbau seiner großen Ensembles und Finales
reizte zu effectvoller musikalischer Erfindung. Ich erinnere an
seine „Judith“, „Königin von Saba“, „Folkunger“ — im
heiteren Fache an die „Lustigen Weiber“ und „Das goldene
Kreuz“. So viel man ihnen auch ausstellen mochte, das
Eine sollte man nie vergessen, daß Mosenthal der ein
zige namhafte Bühnendichter in Deutschland war, der über
haupt Operntexte schrieb. Er und immer nur er hat auf diesem
unentbehrlichen und trotzdem in Deutschland so verödeten Gebiete
producirt, fruchtbar und erfolgreich producirt. Den „Nähr
vater der deutschen Opern-Componisten“ haben wir jüngst
Mosenthal scherzhaft genannt; seine Pflegkinder werden die
Wahrheit dieses Wortes jetzt einsehen und — hungern. Aber
nicht blos sein poetisches, auch sein administratives Talent
kam vielfach der Musik zu statten; sein Auftreten war oft
entscheidend in der Direction der Gesellschaft der Musik
freunde, der er mit dem idealen Eifer des Liebhabers ange
hörte. Hier waren Mosenthal’s Ansichten und Vorschläge
durchaus nicht ideologische Schwärmereien eines Poeten, viel
mehr praktisch und sachgemäß, stets erfüllt vom „bon sens“,
den er auch in lebhaft hinfließender Rede wohl zu vertheidi
gen wußte. Es gab seit Jahren kaum eine für Wien wich
tige musikalische Angelegenheit, welche ich nicht mit Mosen
thal mit Nutzen und Vergnügen durchgesprochen hätte. Mit
Niemandem verkehrte es sich leichter und angenehmer. Alle
Pflegestätten geselliger Bildung und edler Kunstliebe in
Wien werden Mosenthal schmerzlich vermissen. Er wird uns
Allen lange abgehen, überall abgehen, der immer liebens
würdig heitere, herzliche, erfrischende Mensch! Die Welt geht
unbekümmert ihren Gang weiter, das wissen wir, und ver
kündet, daß Niemand unersetzlich sei. Schade nur, daß das
Gegentheil wahr ist: kein Mensch, der uns wohlthat und den
wir liebten, kann ersetzt werden. Es kommen nur immer andere.