Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4552. Wien, Sonntag, den 29. April 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4552. Wien, Sonntag, den 29. April 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien
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Musik. (Hölzel’s Jubiläum. — Komische Oper. — Italienische Oper.)

Ed. H. In unserer raschlebigen Zeit, welche die fünf undzwanzigjährigen Jubelfeste erfunden hat, gehört ein aus gewachsenes fünfzigjähriges Jubiläum zu den Seltenheiten. Zumal in der Oper! Ein halbes Jahrhundert Comödie zu spielen, zu singen und dann noch frischweg in einer Haupt rolle vom Publicum Abschied nehmen, wie unser Gustav Hölzel — das ist nur Wenigen vergönnt. Mit zehn Jahren figurirte er schon auf dem Pester Theaterzettel zwischen Herrn und Madame Hölzel, seinen Eltern. Mit fünfzehn Jahren wurde er selbstständig und avancirte zum „Musje“ oder „Mosje“, wie — komisch genug — die halb wüchsigen Burschen genannt waren, selbst auf den Wiener Hoftheaterzetteln vor 1848. Schon Anfangs der Dreißiger- Jahre finden wir Hölzel als Mitglied des Hofoperntheaters, meistens in ernsten Rollen beschäftigt — sein komisches Talent wurde verhältnißmäßig spät entdeckt, entfaltete sich dann aber um so kräftiger und bewußter. Wie oft und herzlich haben wir über Hölzel gelacht! Ihn selbst aber sah man niemals lachen auf der Bühne; die komischesten Dinge brachte er mit dem ernsthaftesten Gesicht, mit unerschütterlicher Gelassenheit vor. Der trockene Humor war Hölzel’s Specialität und ver fehlte nie seine komische Wirkung. Unter den vielen Charakter figuren, die er schuf, ist uns sein köstlicher Bürgermeister in Czar und Zimmermann“ die liebste Erinnerung. Neben Hölzel als van Bett sang Beck den Czar, Erl den Ivanoff, Ander den Marquis Chateauneuf — „das war eine köstliche Zeit!“

Fast wären einundfünfzig Jahre aus den fünfzig ge worden, so oft und lange ward die Hölzel’sche Festvorstel lung in der Komischen Oper verschoben und wieder ver schoben. Endlich kam sie doch zu Stande. Lortzing’sWild schütz“ war am Schottenring noch gar nicht, im Hofopern

theater seit dem Januar 1860 nicht gegeben worden. Da mals, vor siebzehn Jahren, galt Hölzel’s Schulmeister Ba culus als die beste Leistung im „Wildschütz“, und in der Aufführung vom letzten Samstag — was war das Beste vom ganzen Abend? Herr Hölzel als Baculus. Wir wollen dem alten Herrn nicht schmeicheln, aber es war so — leider. An Talent, guter Schulung und charakteristischer Erscheinung konnte keines von den jungen Mitgliedern sich mit ihm messen. Hölzel wirkt heute noch durch seine musterhaft deut liche Aussprache, seine klare, behagliche Auseinandersetzung der Phrase, endlich durch eine gesunde Laune, die jederzeit auf dem Wege ein glückliches Extempore pflückt. Die richtige und würdige Stätte für eine Abschiedsfeier Hölzel’s war freilich nicht sowol die Komische Oper, als das Hofoperntheater, an dem er so viele Jahre, noch heute unersetzt, gewirkt hat. Man weiß, wie und weßhalb Hölzel eines Tages von dort fortgeschickt worden: weil er sich als Waldbruder Tuck in Marschner’s Templer und Jüdin“ geweigert hatte, statt der vorge schriebenen und in ganz Deutschland anstandslos gesun genen Worte „Ora pro nobis“ zu singen „Ergo bibamus“! Eine mehr als furchtsame Theater-Censur hatte diese mit der betreffenden Musik gar nicht zu vereinende Parodie erdacht und dem Sänger vorgeschrieben. Hölzel brachte den Unsinn nicht über die Lippen und — erhielt am nächsten Morgen seine Entlassung. Der Vermessene hatte es gewagt, sich einem Zustande zu widersetzen, gegen welchen Götter selbst vergebens kämpfen! In der Komischen Oper wurde der Jubilar bei seiner Abschiedsvorstellung nach Gebühr gefeiert und ausgezeichnet. Im Uebrigen blieb der „Wildschütz“ trotz redlicher Bemühung aller Betheiligten eine ganz ungenügende Vorstellung. Jeder der Hauptdarsteller stellte einen Kapital mangel an Stimme oder an Talent oder an Persönlichkeit dar, oder an allen dreien: dabei kann das Publicum un möglich warm werden. Gern übergingen wir heute diesen Uebelstand mit Stillschweigen, da ja allem Anscheine nach der Abschied Hölzel’s zugleich den Abschied der Komischen Oper selbst bedeuten dürfte. Allein gerade deßhalb, angesichts eines

nahen Besitzwechsels der Komischen Oper, müssen wir unsere an die Wüste gewohnte Stimme noch einmal erheben. Aufs dringendste gewarnt sei jeder Theater-Director, der etwa diesen vielgeprüften Musentempel in dem Wahne erstehen und weiterführen wollte, es könne in Wien eine zweite Oper ge deihen mit abgespieltem Repertoire und durchaus mittel mäßigem Personal. Es versteht sich von selbst, daß wir aus letzterem Frau Charles-Hirsch ausnehmen, eine vorzügliche Sängerin, die übrigens in letzter Zeit gar nicht mehr mitthat. Die Kritik mochte gegen die einzelnen Darsteller so nachsichtsvoll wie immer vorgehen, schließlich mußte sie doch immer das unbarmherzige Facit ziehen: So geht es nicht. Eine Opern- Unternehmung, wie sie seit Monaten am Schottenring plan los vegetirt, bald mit unreifen Anfängern, bald mit unmög lich gewordenen Sängergreisen experimentirend, ist in Wien unhaltbar. Auch die Herabsetzung der Preise hilft nicht mehr, sobald das Publicum sich selber herabgesetzt fühlt. Kurz: ein Theater-Director, welcher nicht mit einem viel besseren Personal und reicherem Repertoire einziehen kann, der schlage sich jeden Gedanken an Opernvorstellungen am Schottenring aus dem Kopf. Sollte überhaupt der liebliche Traum von einer eigenen „Opéra comique“ in Wien ausge träumt sein? Wir wollen das Spiel noch nicht verloren geben. Vielleicht kommt die Zeit, wo wir doch noch einmal an frühere Vorschläge erinnern können. Der „Wildschützselbst, das alte Lortzing’sche Lustspiel, sprach uns freundlich an, gleichsam schmeichelnd bittend für sich und seine große Familie. Die auffallenden Schwächen dieser und anderer Lortzing’scher Opern verkennen wir nicht, noch wollen wir ihre Vorzüge ins Großartige ausmalen. Aber Eines steht doch fest, daß diese Vorzüge noch Keiner übertroffen oder auch nur erreicht hat in Deutschland. Lortzing’s komische Opern — das ist sehr bemerkenswerth — sind nicht von einem Stärkeren verdrängt worden im Kampf ums Dasein; es gibt im Fach des musikalischen Lustspiels in Deutschland nichts, das sich — mit Recht oder Unrecht — später an Lortzing’s Stelle gesetzt hätte. Nur die Herrschaft der großen

Oper und ihre ausschließliche Pflege in Hoftheatern wie das Wiener haben bei uns die komische Oper beseitigt, vor Allem die Werke ihres deutschesten Vertreters: Lortzing, dessen kleinbürgerliche Stoffe allerdings in Großstädten nicht die günstigste Atmosphäre vorfinden. Man sollte das Publicum nicht gänzlich davon entwöhnen; eine erfolgreiche Wieder aufnahme Lortzing’scher Opern ist wünschenswerth und mög lich, aber nur möglich durch gute Aufführungen.

Die italienische Opernsaison geht ihrem Ende entgegen. Haben wir über sie weniger als sonst ge schrieben, so folgt keineswegs daraus, daß sie nicht sonderlich der Rede werth gewesen. Im Gegentheil; diese Saison zählt zu den besten und erfreut sich ganz besonderer Sympathie des Publicums. Was ihr fehlt? Neue Componisten und neue Opern. Daß Verdi ganz überwiegend vorherrscht, begreift sich; seine Vorgänger verblassen mit jedem Jahre mehr, kein genialer Nebenbuhler will in ganz Italien neben und nach ihm erstehen. So hieß es denn auch diesmal wie der: „Rigoletto“, „Trovatore“, „Traviata“ und zur Ab wechslung „Traviata“, „Trovatore“, „Rigoletto“. Wenigstens hätte Verdi’s „Aïda“ dazu gegeben werden sollen, die aus drücklich im Programm versprochen war. Damit hätten wir zwar keine neue Oper, aber doch Adelina Patti in einer neuen Rolle gehört. Auch in diesem Jahre versäumte man es, das Einerlei des italienischen Repertoires ein wenig zu be leben durch Opern, welche die Patti in London und Peters burg, aber noch nie in Wien gesungen hat, wie „Der Nord stern“, „Die Krondiamanten“, „La gazza ladra“, „Die Regimentstochter“, „Der Liebestrank“ etc. Um letztere Oper haben wir schon bei früheren Patti-Gastspielen vergebens petitionirt, sie scheint der Direction zu „klein“, als wenn man Werth und Anziehungskraft einer Oper nach der Elle messen dürfte. Wir müssen froh sein, daß die Impresa uns wenigstens — ganz zuletzt einmal den „Don Pasquale“ zuge standen hat, auch eine „kleine“ Oper, die aber unserem Publicum lieber und an sich hundertmal besser ist, als desselben Com ponisten sentimentale „Linda di Chamounix“. Alle Bewun

derung für die Gesangs-Virtuosität der Patti vermochte die bohrende Langweile dieser Oper nicht zu verscheuchen. Es mußte überdies noch unglücklicherweise Zucchini an dem Abend stockheiser werden, so daß der alte Marchese, die einzige erheiternde Figur, welche aus diesem Meer von Thränen auftaucht, uns entging. Unter dem chloroformirenden Ein drucke der „Linda“ hat wahrscheinlich die Direction ihr Vor haben aufgegeben, Bellini’sPuritaner“ aufzuführen, eine der fürchterlichsten Opern, mit denen heutzutage arglose Theater-Besucher überrascht werden können. Von Rossini hatten wir die beiden Gegenstücke: „Semiramide“ und „Der Barbier von Sevilla“ — letzterer unverwüstlich frisch und ergötzlich, erstere unsäglich langweilig in ihrem veralteten Aufputz und ihrer lächerlichen Feierlichkeit. Beide Opern bil den die größten Gegensätze in ihrer Wirkung auf das heu tige Publicum; in ihrem musikalischen Styl sind sie aber merkwürdigerweise mehr verwandt als contrastirend, und ge rade die falsche Anwendung des colorirten Buffostyls auf die Tragödie macht uns die „Semiramide“ so widerwärtig. Es gilt überall als ein Kennzeichen uncivilisirter Völker, wenn die Männer sich mit Schmuck behängen. In Rossini’s „Semi ramide“ starren die Melodien des Tenors, des Baritons, des Bassisten von Passagen, Trillern und Coloraturen. Das gibt dieser und ähnlichen Opern trotz ihrer beabsichtigten Eleganz etwas eigenthümlich Rohes. Weiber müssen darin Männer vorstellen, und die Männer singen wie Weiber.

Verdi’s Opern (insbesondere „Traviata“ und „Rigo letto“) waren in dieser Saison ohne Zweifel die ruhm reichsten für Adelina Patti. Sie scheint sie auch am liebsten zu singen, und das ist am Ende entscheidend bei einer Sän gerin, die Alles, das Schwerste wie das Leichteste, gleich vollkommen in ihrer Macht hat. Heitere Partien, wie Ro sina und Norina, singt die Patti seit längerer Zeit schon ohne besondere Lust, so sehr die Art ihres Talents sie dar auf hinweist. In neuester Zeit scheint sie noch ernsthafter geworden, wie ihr Spiel im „Barbier“ und in der ersten Scene der „Traviata“ verrieth. Verdi’s Opern gestatten der

Künstlerin einestheils die glänzendste Entfaltung der Ge sangs-Virtuosität, zugleich aber auch die leidenschaftlichsten dramatischen Accente. Nach beiden Richtungen bewährt die Patti eine unschätzbare Eigenthümlichkeit: ihre Kunst, selbst das Triviale zu adeln. Sie ist eine so eminent musikalische Natur, von so unfehlbar feiner Empfindung, daß der Vor trag der trivialen Allegrosätze ihr unmöglich wird, ohne daß sie die ärgsten Spitzen abschliffe, die giftigsten Rhythmen mil dere. Ohne das eigenthümliche Gepräge einer solchen Arie zu verwischen, nimmt sie ihr doch das Verletzende und haucht einen Atemzug von Schönheit darüber. Man denke nur an die frechen Allegrosätze der beiden Arien Leonorens („Tro vatore“), an das Liebesduett Gilda’s („Rigoletto“) u. dgl. Am liebsten hören wir von der Patti einfache Cantilenen. Wie ist da jeder Ton wie aus Marmor gemeißelt und doch das Ganze von warmen Leben erfüllt! Da lauschen wir mit aufmerksamem Entzücken und möchten jeden Tact, jeden Ton uns einprägen, wie sie ihn singt, um ihn im Ge dächtniß festzuhalten für kommende Tage!

Eine sehr glückliche Acquisition der diesjährigen italieni schen Oper war die Altistin Zelia Trebelli, deren schönes Organ im Laufe einer nahezu zwanzigjährigen ruhmvollen Thätigkeit zwar den jugendlichen Schmelz eingebüßt hat, nicht aber die Kraft und Ausdauer, die schöne Fülle der tiefen Töne. Für colorirten Gesang ist die Stimme etwas zu schwerflüssig; neben der Patti wenigstens hatten die Passagen der Trebelli (in „Semiramide“) einen schweren Stand. In Spiel und Vortrag fanden wir diese Künstlerin, vor Allem als Azucena, dann als Pierotto, von energischem Nach druck, dabei ungezwungen und vornehm in der Haltung. Sie wurde vom Publicum auf das lebhafteste ausgezeichnet.

Ein anderes neues, leider spät eingetroffenes Mitglied ist der Tenorist Masini, dessen schnelle Berühmtheit von Verdi’s Requiem datirt. Der Klang seiner Stimme, süß und kräftig zugleich, jugendfrisch ohne einen Rest von Unreife, entzückt augenblicklich. Wie einst Fraschini, dem er freilich an Kraft nachsteht, so hat Masini mit

den ersten drei Tönen seine Hörer gefangen. Aber ein dramatischer Sänger ist er noch weniger, als Fraschini es war. Nicht nur seine Haltung und seine Gesichtsmuskeln bleiben steif, unbeweglich und gleichgiltig, selbst sein Blick weiß nichts von dem, was er uns vorsingt. Sein Auftreten als Alfredo im ersten Act der „Traviata“ war das personi ficirte Phlegma; er trank Champagner und sang Mandel milch. Besser gefiel er uns im zweiten Acte und noch besser als Herzog in „Rigoletto“, obgleich er auch da unter dem Nullpunkt schauspielerischer Anforderungen stand. Masini macht uns den Eindruck, als sei er während der Todten messe von Verdi in einen Zauberschlaf versenkt worden und spiele nun im Traume Opernpartien. Aber dem Zau ber seiner Stimme entrinnt man nicht, umsomehr, als es keineswegs die blos elementare Macht des Organs, sondern gleichzeitig die gute Schulung desselben ist, Methode und Ge schmack des Vortragenden, was sich Anerkennung erzwingt. Nur einige affectirte Manieren — Gesangskoketterien, die zum größeren Theile nicht einmal ihm, sondern dem italie nischen Gesammt-Tenoristenthume angehören — stören uns in Masini’s Vortrag: das plötzliche Ansetzen eines Pianis simo an das Forte und Fortissimo (es verräth immer eine kühle, nüchterne Seele); dann das unleidliche Dehnen des Ritardandos und Aushalten der vorletzten Note, um mit dem Pianissimo und der Länge des Athems zu prunken, und was solch süßer Effectchen mehr sind, deren stereotype Wieder kehr man in jeder Nummer genau vorhersagen kann. Immer hin ist ein jugendlicher Tenor, der durch ruhige Schönheit des Gesanges wirkt, ohne zu schreien und zu tremoliren, ein Juwel in der gegenwärtigen Ausstattung der italienischen Oper, ein Juwel, das uns am schönsten erscheint, wenn es neben der Patti glänzt. Die Stimmen der Patti und Masini’s verschmelzen so wunderschön im Duett, daß man sich wie getragen fühlt von Wellen des Wohllautes. So lange es solche Stimmen, solche Sänger gibt, so lange wird es auch Componisten geben, die sich unterstehen, in ihren Opern Duette und Terzette zu schreiben. Für längere Zeit dürfte das freilich nur noch in Italien vorkommen, jenseits des Hojotohoh.