Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4612. Wien, Freitag, den 29. Juni 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4612. Wien, Freitag, den 29. Juni 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.06.1877
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Karl Maria Weber in Paris.

Ed. H. In mehr als Einem Betracht können wir uns den Fleiß und die Gewandtheit der französischen Musik schriftsteller zum Muster nehmen. Sie haben in neuester Zeit abermals fast in jedem Schachte der Musik-Literatur ge schürft und Werthvolles oder doch Hübsches zu Tage geför dert, während wir in Deutschland seit nahezu zwei Jahren nicht über die bereits so widerwärtig angeschwollene Bay reuth-Literatur hinauskommen. Von Antoine Vidal liegt der zweite Quartband seines gelehrten, mit kostbaren Radirungen geschmückten Werkes über die Streichinstrumente vor („Les Instruments à archet“), von Gevaert, der den zweiten Band seiner griechischen Musikgeschichte vorbereitet, ein werthvoller Jahresbericht des Brüsseler Conservatoriums, von Charles Garnier ein Buch über das neue Opern haus in Paris, von A. Jullien ein biographisches Werk über Adolph Adam, den Componisten des „Postillon von Longjumeau“ u. A.

Der letztgenannte Schriftsteller, Herr Adolph Jullien, hat auch zwei biographische Studien veröffentlicht, welche deutsche Tondichter behandeln, nämlich: „Mendelssohn à Paris“ und „Weber à Paris“. Derlei Arbeiten, welche sich auf einen kurzen Zeitraum und eine bestimmte Localität beschränken, haben den Vortheil, daß sie ein desto helleres Licht darüber verbreiten und manche in großen Werken oft unbemerkt nistende Irrthümer definitiv beseitigen.

In seiner ersten Abhandlung hat Herr Jullien sorgfäl tig und geschmackvoll Alles zusammengestellt, was sich über Mendelssohn’s fünfmonatlichen Aufenthalt in Paris (No vember 1831 bis April 1832) vorfindet. Da die wichtigsten und ergiebigsten Quellen dafür Mendelssohn’s eigene Reisebriefe“ und Hiller’sErinnerungen“ sind — zwei bei uns so wohlbekannte und geschätzte Bücher — so finden wir deutsche Leser in Jullien’s Aufsatz wenig Neues von Be deutung. Nicht dasselbe gilt von A. Jullien’s zweiter Ab handlung, welche Weber’s Aufenthalt in Paris1826 zum Gegenstande hat und manches neue, interessante Datum,

insbesondere auch manchen bisher ungedruckten Brief zum erstenmale mittheilt. Karl Maria Weber hat sich bekannt lich im Februar 1826 — drei Monate vor seinem Tode — über Paris nach London begeben, wo er die erste Aufführung seines „Oberon“ im Coventgarden-Theater leiten sollte.

Dieser erste und letzte Aufenthalt Weber’s in Paris währte nur vom 25. Februar bis 2. März; aber selbst in diesem kurzen Zeitraume von fünf Tagen erfuhr Weber die schmeichelhaftesten Huldigungen, die herzlichsten Be grüßungen. Er war in Paris durch seinen „Freischützpopulär geworden, von dessen bedenklicher Zurichtung durch Castil-Blaze wir gleich hören werden. Schon ein Jahr früher (1825) hatte der Pariser Musikverleger M. Schlesinger Weber beschworen, er möchte nach Paris kommen und dort so bald als möglich eine französische Oper componiren. Ja sogar eine officielle Unterhandlung mit Weber war schon 1824 eingeleitet worden, und zwar durch einen Abgesandten der Pariser Großen Oper, Chevalier de Cussy, welcher unseren Weber in Dresden aufsuchte. Vielleicht hätte Weber dessen Antrag, eine Oper für Paris zu schreiben, angenom men, wären nicht gleichzeitig viel lockendere Anerbietungen von dem Director des Coventgarden-Theaters in London, Charles Kemble, ihm zugegangen. In London sollte Weber nicht blos eine neue Oper zur Aufführung bringen („Oberon“), sondern auch den „Freischütz“ und „Pre ciosa“ dirigiren. London war gegen Paris hierin im Vortheil, indem es zwei frühere Bühnenwerke Weber’s unverstümmelt auf dem Repertoire hatte, während die Fran zosen nur eine Verballhornung des „Freischütz“ kannten. Weber konnte, auf französischem Boden angelangt, sich rasch von seiner Popularität überzeugen: die eleganten Damen trugen roth und schwarz gestreifte „Freischütz“-Klei der, und die Melodien des „Freischütz“, insbesondere der Jägerchor, erklangen mit lästiger Zudringlichkeit aus allen Ecken und Enden. „Was gleicht wol auf Erden dem Jäger vergnügen!“, im Französischen mit der Anrufung: „Chasseur diligent!“ beginnend, wurde sogar auf religiösen Text in den Kirchen gesungen. Man stelle sich das nur vor: „Chrétien diligent — Devance l’aurore — A ton Sau veur encore — Adresse tes chants. — Ave Maria, gratia

plena (bis) — La, lala, la, lala“ etc. Für den deutschen Leser klingt das geradezu unglaublich; und unglaublich ist es auch, was man damals in Frankreich Alles für „religiöse Musik“ hinnahm. Hörte doch noch Felix Mendelssohn während seines Pariser Aufenthaltes sein Octett bei Ge legenheit einer für Beethoven abgehaltenen Todtenfeier am 27. März 1832 in der Kirche spielen; er traute seinen Ohren kaum, als das Scherzo lustig aufhüpfte, während der Geistliche am Altar fungirte.

Ein peinliches Vorgefühl störte jedoch die Freude Weber’s bei seiner Ankunft in Paris: der Gedanke an den Musik schriftsteller Herrn Castil-Blaze und an dessen eigen mächtige Umarbeitung des „Freischütz“. Der Meister konnte doch unmöglich sich überreden, daß sein geniales Werk eines solchen Arrangements bedurft habe, um in Paris Fuß zu fassen und den Enthusiasmus des Publicums zu erregen. Und dennoch, dennoch hat es mit dieser Thatsache seine un glückselige Richtigkeit: die Abänderungen von Castil-Blaze hatten wirklich allein vermocht, das Fiasco der ersten Auf führung in einen Triumph für Weber zu verwandeln. Der Freischütz“ ward zum erstenmal in Paris am 7. Decem ber 1824 im Odéon-Theater gegeben. Es war, mit alleiniger Ausnahme des von der Censur gestrichenen „Eremiten“, eine vollständige und wortgetreue Uebersetzung des deutschen Ori ginals. Castil-Blaze, von dem Theater-Director mit dieser Uebersetzung beauftragt, hatte hinreichende Achtung vor dem Componisten und vor dem Publicum empfunden, um an dem Werke nichts zu ändern, als den schwer verständlichen und schwer übersetzbaren Titel „Der Freischütz“, den er durch Robin des Bois“ ersetzte. Er selbst hatte auf einen großen Erfolg gehofft, statt dessen erlebte die Oper eine furchtbare Niederlage, namentlich vom dritten Act an; nur die Ouver türe und der Jägerchor hatten Gnade gefunden vor dem heulenden, zischenden und pfeifenden Publicum.

Castil-Blaze mußte nun zu seinen Arrangeur-Talenten Zuflucht nehmen; der „Künstler“, der einen Augenblick lang in ihm geherrscht, wich nunmehr dem Dorfchirurgen, dem Bader. Er nahm sich Weber’s Partitur her, zerschnitt sie beliebig, setzte sie in anderer Ordnung wieder zusammen und quacksalberte so lange daran, bis er sie dem Geschmack des

Publicums mundgerecht glaubte. In neun Tagen war das sonderbare Ragout fix und fertig. Es hat den größten Er folg gehabt und dem „Freischütz“ zu einer Reihe von 327 Vorstellungen verholfen. So sehr uns heute derlei willkür liche Verstümmelungen eines Meisterwerks empören, wir müssen doch, wenn wir uns in die Pariser Musikzustände vor fünfzig Jahren zurückversetzen, einige mildernde Umstände für Castil-Blaze gelten lassen.

Weber selbst, so wenig er sich geschmeichelt fühlen konnte durch solche Ueberarbeitung, fand es doch nicht pas send, dagegen direct aufzutreten; es mochte ihm immerhin lieber sein, in dieser unvollkommenen Form in Paris gespielt zu werden, als gar nicht. Anders verhielt es sich jedoch, als er erfuhr, daß derselbe Castil-Blaze dem Director des Odéon- Theaters und der Opéra Comique eine Uebersetzung und Bearbeitung der „Euryanthe“ angetragen habe, von ihm selbst nach dem Clavier-Auszuge instrumentirt, da die Or chesterstimmen zu kostspielig wären! Weber wendete sich schrift lich um Aufklärungen an den Arrangeur wie an den Direc tor, erhielt aber, selbst nach wiederholter Reclamation, keine Antwort, weder von dem Einen noch dem Andern. Weber mochte sich aus der Ferne kein ganz klares Bild von diesen Dingen machen. Beide Fälle waren gänzlich verschieden: Robin des Bois“ war, abgesehen von einigen Weglassungen, ein verhältnißmäßig getreu arrangirtes Potpourri; es war die „Freischütz“-Partitur, nach französischem Geschmacke be arbeitet. Aus der „Euryanthe“ hingegen hatte Castil-Blaze nur einige wenige Nummern herausgenommen, um sie mit anderen Musikstücken von sechs bis acht verschiedenen Com ponisten zusammenzustellen. „Robin des Bois“ war doch noch immer der „Freischütz“, der „Wald von Sénart“ war nicht mehr „Euryanthe“.

Sehen wir, wie in letzterem Falle der unerbittliche Arrangeur vorgegangen. Er hatte beabsichtigt, die in Frank reich früher hochbeliebte Comödie von Collé: „Eine Jagd partie Heinrich’s IV.“ neu aufzufrischen, indem er eine An zahl Musikstücke aus verschiedenen deutschen und italienischen Opern beliebig entlehnte und einlegte. Die Ouverture war die zu: „Torvoleto et Dorliska“ von Rossini, es folgten

Stücke aus Opern von Generali, Meyerbeer etc. Von Weber war der (von Castil-Blaze überarbeitete) Jägerchor aus Euryanthe“ genommen, ein Ensemblesatz aus dem dritten Acte des „Freischütz“ und Aennchen’s Gespenster-Erzählung von Nero, dem Kettenhund.

La forêt de Sénart“ wurde am 14. Januar 1826 zum erstenmale im Odéon gegeben und endete unter einem furchtbaren, von Zischern und Klatschern genährten Tumulte. Publicum und Kritik fanden das Stück sehr mittelmäßig und tadelten Castil-Blaze, theils weil er das Drama von Collé verdorben, theils weil er Compositionen von Weber, Beethoven und Rossini (nur diese drei Meister waren auf dem Theaterzettel genannt) herausgerissen und willkürlich ver wendet habe. Freilich verschwindet der Tadel selbst der streng sten Journale von damals gegen die Wuthausbrüche und das Rachegeschrei, das Jahre später Berlioz gegen den Verstümmler der Weber’schen Tondichtungen entfesselte. Berlioz irrt nur in der Annahme, daß Weber erst bei seiner Abreise von Paris gegen das Verfahren Castil-Blaze’s protestirt habe; er hat es vielmehr vor seiner Pariser Reise gethan, indem er zwei Briefe an Mr. Castil-Blaze durch Vermittlung des Verlegers Schlesinger in ein Pariser Jour nal einrücken ließ. Der erste Brief — ddo. Dresden den 15. December 1825 — ist noch in sehr höflicher Form ab gefaßt, ja mit einigen für Castil-Blaze sehr schmeichelhaften Ausdrücken verbrämt. Die Hauptstelle lautet:

„Sie gehen zuerst daran, meinen „Freischütz“ für die französische Bühne zu bearbeiten. Nichts könnte schmeichel hafter für mich sein — aber Sie finden es nicht einmal nöthig, sich mit dem Componisten darüber zu besprechen, ihm Ihre Ideen über die vorzunehmenden Aenderungen etc. mit zutheilen. Sie verschaffen sich meine Partitur auf ganz un rechtmäßigem Wege, denn da meine Oper weder gestochen noch veröffentlicht ist, so hat kein Musikalienhändler das Recht, sie zu verkaufen. Endlich wird die Oper aufgeführt, und Sie vergessen mich abermals so sehr, daß Sie auch die Rechte des Componisten für sich in Anspruch nehmen. Ah, mein Herr, was soll denn aus Allem werden, was uns heilig ist?“

Weber’s zweiter Brief (aus Dresden den 4. Januar 1826) beginnt mit der Klage über die Nichtbeantwortung des ersten durch Herrn Castil-Blaze und fährt fort: „Ich erfahre, daß man im Odéon eine Comödie einstudire, worin Stücke aus „Euryanthe“ vorkommen. Es ist meine Absicht, dieses Werk selbst in Paris auf die Bühne zu bringen; ich habe meine Partitur nicht verkauft, und Niemand besitzt sie in Frankreich. Vielleicht haben Sie aus dem Clavierauszug die Stücke genommen, die Sie verwenden wollen. Sie haben nicht das Recht, meine Musik zu verunstalten, indem Sie Stücke daraus mit einem von Ihnen gemachten Accom pagnement aufführen lassen. Sie zwingen mich, mein Herr, mich an die Oeffentlichkeit zu wenden und in den französischen Blättern den Diebstahl aufzudecken, den man an mir, an meinem Eigenthum und meiner künstlerischen Reputation verübte. Ich ersuche Sie inständigst, mein Herr, aus dem von Ihnen arrangirten Werke sofort alle Stücke zu entfernen, die mir gehören. Gerne vergesse ich erlittenes Unrecht; ich will nicht mehr vom „Freischütz“ reden, aber lassen Sie es damit genug sein und hören Sie endlich auf!“

Weber hatte gewünscht, Moriz Schlesinger möchte die beiden Briefe in allenPariser Journalen veröffentlichen — sie erschienen nur in Einem Blatte und blieben ohne merk lichen Eindruck. Nachstehender, an Moriz Schlesinger in Paris gerichteter Brief von Weber, ddo. Dresden, 5. Januar 1826, ist zum erstenmale von A. Jullien mitgetheilt und in deutscher Sprache noch nicht veröffentlicht worden:

„Lieber Herr! Ich wende mich an Ihre werkthätige Gefälligkeit; die größte Geduld erschöpft sich schließlich, und die meine ist zu Ende. Nachdem Herr Castil-Blaze die namen lose Unverschämtheit gehabt, meinen „Freischütz“ dem Publi cum darzubieten, bevor noch die Partitur gestochen war, schrieb ich ihm beiliegenden Brief, der ihm durch die könig lich sächsische Gesandtschaft zugestellt wurde und worin man gewiß meine friedliebende Gesinnung nicht verkennen wird. Er hat mich keiner Antwort gewürdigt und seither sich sogar meiner „Euryanthe“ bemächtigt, die er nach seinem Geschmack anschneidet und herrichtet. Ich bin es meiner Künstler-Ehre, bin es der Kunst im Allgemeinen schuldig, ein solches Vor

gehen nicht länger zu dulden. Ich bitte Sie daher, den bei liegenden Brief, dessen Abschrift für Sie bestimmt ist, Herrn Castil-Blaze zuzustellen; ich wünsche darin, daß er sich schrift lich verpflichte, nie wieder meine Compositionen für die seini gen anzusehen und aus der „Jagdpartie Heinrich’s IV.alle der „Euryanthe“ entnommenen Stücke zu entfernen. Sollte er, was kaum möglich scheint, sich weiterhin ableh nend verhalten, so bitte ich Sie, beide Briefe in allen Pariser Blättern zu veröffentlichen und ihnen eine erklärende Bemerkung in meinem Interesse vorauszuschicken. Das Ge rechtigkeitsgefühl ist zu lebhaft in der französischen Nation, um noch länger die Rechte eines Künstlers verletzen zu lassen, der sich durch die Sympathien derselben hoch geehrt fühlt. Ich überlasse Ihnen vollständig das Detail und empfehle Ihnen nur, in der Form so viel Milde und Mäßigung als nur möglich zu beobachten. K. M. v. Weber.“

Das Verlangen, von Castil-Blaze eine schriftliche Ab standserklärung zu erhalten, konnte nach Jullien’s richtiger Bemerkung nur in der Idee eines Mannes entstehen, der weit von Paris lebte und nicht wußte, mit wem er es zu thun habe. Dieses Verlangen erscheint uns heute ebenso naiv, wie die Berufung auf den gerechten Sinn der franzö sischen Nation, welche in Wirklichkeit sich gar nicht um die ganze Angelegenheit kümmerte. Die Idee, den „Freischützauf die französische Bühne zu bringen, gehörte gar nicht Herrn Castil-Blaze. Weber’s Verleger hatte sie ein Jahr früher, und Weber selbst wollte zu diesem Behufe die Par titur an Habeneck, den berühmten Dirigenten der Pariser Conservatoire-Concerte, senden. In einem bisher gänzlich unbekannt gebliebenen Briefe Weber’s an seinen Verleger M. Schlesinger (ddo. Dresden, 15. März 1823) findet sich eine merkwürdige Stelle, welche über Weber’s Absichten be züglich des „Freischütz“ und einer neuen Original-Oper für Paris neues Licht verbreitet:

„Mit dem größten Vergnügen werde ich Herrn Habeneck die Partitur des „Freischütz“ senden, und mit dem vollen Vertrauen, das man einem so echten Künstler schuldig ist. Falls sich meine Ideen über die Ausführung dieser Oper

nicht ändern — denn ich bilde mir ein, daß das Sujet in Paris niemals Anklang finden werde — so wäre es mir ein Vergnügen und eine Ehre, mit Herrn Habeneck darüber in persönlichen Verkehr zu treten. Da ich die Pariser Gewohn heiten diesfalls nicht kenne, bitte ich Sie, mir bekanntzugeben, welche Bedingungen für ihn und für mich gleichmäßig an nehmbar wären. Ich würde es nicht ablehnen, ein französisches Textbuch zu componiren, vorausgesetzt, daß es nicht zu sehr gegen meine Ideen verstoße; ich wäre bereit, anderthalb oder zwei Monate zu verweilen, um die mir zur Verfügung ge stellten Kräfte kennen zu lernen und sie mit dem größt möglichen Nutzen zu verwerthen. Aber da ich in Muße zu arbeiten liebe, wäre ich außer Stande, die Oper von An fang bis zu Ende in Paris zu schreiben; ich würde hieher zurückkehren, um seinerzeit wieder, der Aufführung wegen, nach Frankreich zu kommen. Es wäre Habeneck’s Sache, den richtigen Moment zu bestimmen und das Datum festzusetzen. So lebhaft ich seit langer Zeit wünsche, die Hauptstadt von Frankreich zu besuchen, so kann ich doch meine freundschaft lichen und Familien-Beziehungen nicht ohne wichtigen Grund unterbrechen. Ueberdies gedenke ich im August nach Wien zu reisen, um dort meine große Oper „Euryanthe“ in Scene zu setzen; das wäre, glaube ich, ein Werk, das sich leicht der französischen Bühne an passen würde.“

Castil-Blaze wollte doch nicht unter den moralischen Streichen Weber’s gänzlich stumm verbleiben und erwiderte in seiner Art, das heißt mit einem Gemenge von guten und schlechten Gründen, die ihn zwar als Künstler nimmermehr entschuldigen konnten, aber doch zum Theil als Kaufmann. Er beruft sich ausschließlich auf jenes Gesetz, welches da will, daß jedes literarische und musikalische Eigenthum jenseits der Landesgrenze erlösche. Er erinnert daran, daß jede französische Oper von Ausländern ungestraft genommen und benützt werden kann, daß gerade in Deutschland eine Menge französischer Opern übersetzt, arrangirt und aufgeführt wur den, ohne Einwilligung und ohne die geringste Entschädigung des Componisten. Er selbst, Castil-Blaze, habe sich auch niemals beklagt, daß seine Bücher in Deutschland nachgedruckt

und nachgebildet worden seien; aber dafür wolle er offene und gerechte Repressalien üben an deutschen Erzeugnissen und habe in Mainz 40 Kilogramm Partituren gekauft, von denen er jeden ihm beliebigen Gebrauch zu machen gedenke.

Auf diese Einrede Castil-Blaze’s folgte bald die Replik Moriz Schlesinger’s, der als Bevollmächtigter Weber’s ins besondere dessen pecuniäres Interesse gegenüber Castil-Blaze wahrnehmen und vertheidigen mußte. Er constatirt ohne Schwierigkeit, daß Castil-Blaze dem Compositeur des „Frei schütz“ sein rechtmäßiges Eigenthum entwendet habe, indem er die große Partitur dieser Oper, die Weber Niemandem abtreten wollte, stechen und zu seinem, des Arrangeurs, Vortheil verkaufen ließ. Ferner wird geltend gemacht, daß man in Deutschland mit den französischen Opern keine will kürlichen Veränderungen à la Castil-Blaze vornehme, sondern getreu an Text und Musik des Originals festhalte. Diese sich immer schärfer zuspitzende Discussion ging der Ankunft Weber’s in Paris gerade um einen Monat voraus, konnte also weder zur Versöhnung zwischen Weber und Castil-Blaze beitragen, noch zur besonderen Behaglichkeit Weber’s, der täglich fürchten mußte, mit seinem „Bearbeiter“ irgendwo zusammenzutreffen.

Ueber Weber’s erste Eindrücke in Paris und die Be weise von Sympathie und Verehrung, welche ihm sofort von Cherubini, Rossini und anderen Notabilitäten der Pariser Musikwelt entgegengebracht wurden, sind wir aus Max v. Weber’s trefflicher Biographie hinreichend unterrichtet. Je mehr Künstler und Schriftsteller ihn aufsuchten, desto emsiger beschleunigte Weber, der gern in Paris ganz incognito geblieben wäre, seine Abreise nach London. Der Aufenthalt in Paris wirkte auf den bereits ernstlich kranken Mann allzu anstrengend und ermattend. Nach seiner launigen Versicherung hätten eigentlich nur zwei Dinge in Paris ihn entzückt: Boieldieu’s neue Oper „Die weiße Frau“ und — die vortrefflichen Austern. „Das ist Reiz, das ist Humor!“ schreibt Weber an Th. Hell über die „Weiße Frau“. „Seit Figaro’s Hochzeit“ ist keine komische Oper geschrieben worden, wie diese!“ Aber weder die köstliche Oper noch die köstlichen Austern hielten ihn auch nur eine

Stunde länger in Paris; am 2. März fuhr er mit seinem treuen Dresdener Freunde, dem Flötisten Fürstenau, über Calais nach England. Erst auf der Rückreise von London, nach glücklichem Erfolge des „Oberon“, wollte Weber einen längeren Aufenthalt in Paris sich gönnen und daselbst festeren Fuß fassen. Er hatte zu diesem Behufe ein Empfehlungs schreiben bei sich, das ihm den Zutritt ins Palais Royal sicherte, um bei seiner Rückkehr davon Gebrauch zu machen. Das Empfehlungsschreiben, von dem damaligen Prinzen, späteren König von Sachsen, Friedrich August II., eigenhän dig geschrieben und an den Herzog von Orleans adressirt, gelangte, ohne je an seine Adresse zu kommen, in den Besitz Moriz Schlesinger’s und mag, bisher unveröffentlicht, in deutscher Uebersetzung hier folgen:

„Monseigneur! Als Liebhaber und Beschützer der Künste wage ich es, Ihnen zwei sächsische Künstler zu empfehlen, welche auf der Durchreise durch Paris sich vor Ihnen hören zu lassen wünschen und Ihre Protection ansuchen. Der eine von ihnen ist der berühmte Schöpfer des „Freischütz“, Weber, ein in jeder Beziehung sehr empfehlenswerther Mann, dessen persönliche Bekanntschaft Sie sicherlich nicht gereuen wird und der überdies als Clavierspieler excellirt. Sein Be gleiter ist M. Fürstenau, Flöten-Virtuose und Mitglied der königlichen Capelle; obwol Sie an die hervorragenden Talente eines Drouet und Toulou gewöhnt sind, werden Sie ihn hoffentlich doch mit Vergnügen hören. Wenn dieser Brief ein altes Datum trägt, so bitte ich, Weber zu entschuldigen; denn da er seine Ankunft in England beschleunigen muß, um dort noch einige Concerte zu dirigiren, wird er nicht Zeit haben, sich Ihnen bei seiner ersten Durchreise in Paris vor stellen zu lassen. Empfangen Sie die Versicherung meiner unveränderlichen Freundschaft.

Ihr ergebenster Freund und Neffe Friedrich August.“

Diesen Brief hielt Weber sorgfältig verwahrt, um bei seiner Rückkehr von London davon Gebrauch zu machen. Der Tod, der ihn in London so schnell dahinraffte, vereitelte auch diesen Plan. Weber sollte weder Frankreich noch sein deutsche Heimat je wieder sehen.