Vom
Salzburger Musikfest. I.
Salzburg, 16. Juli.
Ed. H. Keinen Schritt konnte man durch volle sechs
Wochen in Wien thun, ohne daß Einem „Salzburg!“ mit
Riesenlettern in die Augen sprang. Alle Straßenecken luden
zum Besuch des Salzburger Musikfestes mit einer Dring
lichkeit, als fände es zwischen „Dommayer’s Casino“ und der
„Neuen Welt“ statt. Hinter den Dächern der Ringstraße
glaubte man den Watzmann und den Untersberg emporragen
zu sehen, und durch die Abendstille tönte ein sanft bimmelndes
Dissoniren wie vom Salzburger Glockenspiel. „Großes Musik
fest in Salzburg!“ Manchem wollte diese Combination
durchaus nicht eingehen; wir vertrösteten ihn auf den Anblick
Salzburgs, der ihm das Räthsel lösen würde. Gerade in
der frappanten Verbindung von „Salzburg“ und „Musik
fest“ scheint mir der glücklichste Treffer dieses Unternehmens
zu liegen. Ein eminent musikalisches Bedürfniß nach einem
dreitägigen Musikfest zur heißesten Sommerszeit existirt gewiß
nicht; in Wien wären an den drei Concert-Abenden die
Bäder und Schwimmschulen ohne Frage zahlreicher belagert,
als die Kasse des Concerts. Das Salzburger Programm
enthält zwar die Namen der größten Tondichter, aber keine
einzige Nummer, die uns durch den Reiz der Neuheit auch
nur in den Musikvereinssaal, geschweige denn viele Meilen
weit zu locken vermöchte. Ouvertüre zu „Euryanthe“,
Ouvertüre zu „Anakreon“, Scherzo aus dem „Sommer
nachtstraum“, C-moll-Symphonie von Beethoven u. s. w.
— also im Grunde ein richtiges „Philharmonisches Con
cert“, von unserm Hofopern-Orchester in Salzburg
statt in Wien gegeben und mit einigen Solovor
trägen von lauter guten alten Bekannten geziert.
Indessen Luftveränderung wirkt verjüngend und auffrischend
nicht blos auf alte Menschen, sondern merkwürdigerweise auch
auf alte Concertprogramme. Wir hatten leicht prophezeien,
daß hier die Naturschönheit, das Reisevergnügen, die Ferial
freiheit den musikalischen Appetit und Genuß erhöhen und
ergänzen werden. Besitzen wir doch ein Vorbild an den Rheini
schen Musikfesten, die alljährlich zu Pfingsten Natur- und
Kunstgenuß so heiter verknüpfen, daß der für einige Tage
losgebundene Mensch dort zugleich auf Flügeln des Gesangs
und auf Fluthen des Maitranks zu seligen Höhen empor
schwebt. Diese dreitägigen Musikfeste in Köln, Aachen und
Düsseldorf scheinen den Veranstaltern unseres Salzburger
Concerts vorgeschwebt zu haben. Gewiß eine glückliche und
entwicklungsfähige Idee. Salzburg wird im Sommer von
Tausenden besucht, die nie in der Lage waren, die Philhar
monischen Concerte in Wien zu hören. Welcher musikalische
Magnet neben und inmitten der landschaftlichen Reize Salz
burgs! Von anderen Specialitäten, welche Salzburg zur
sommerlichen Musikresidenz prädestiniren, nennen wir nur:
Mozart’s Geburtshaus und die große Anzahl von Bierkellern
und Regentagen. Es wäre ein schönes Resultat, wenn dieses
hier neugeborene Institut Oesterreichischer Musik
feste sich gleich den Rheinischen durch periodische Wieder
kehr zu einem Festen, Bleibenden gestalten und dadurch
allmälig zu künstlerischem Einfluß erheben würde! Wir
denken uns diese Musikfeste alljährlich zur selben Zeit
wiederholt (allenfalls der Reihe nach in Salzburg,
Graz und Prag), abwechselnd von den namhaftesten
österreichischen Dirigenten Herbeck, Richter etc. geleitet. Für
interessante Novitäten und hervorragende Solisten müßte
dann mehr gesorgt werden, insbesondere auch für die recht
zeitige Vorbereitung größerer Tonwerke. Der Schwer
punkt der Rheinischen Musikfeste liegt in der Ausführung
eines großen Oratoriums und bedeutenderer Chorwerke, an
welchen zahlreiche, aus allen rheinischen Städten und Städt
chen zusammenströmende Gesangvereine sich betheiligen. Dies
dürfte den schwierigsten Punkt bilden für unser Oesterreich,
wo zwar die Vereine für Männergesang sehr zahlreich,
jene für gemischten Chor (Frauen- und Männerstimmen)
aber desto seltener sich vorfinden. Noch steht der Wiener
„Singverein“ mit seiner bescheideneren Gefährtin, der „Sing-
Akademie“, ziemlich vereinzelt in Oesterreich; doch würde ge
rade die Einführung regelmäßiger Musikfeste wieder fördernd
auf die Gründung und Ausbreitung solcher Sing-Akademien
einwirken, welche für Aufführung großer Chor-Compositionen,
also für das eigentliche Fundament eines Musikfestes, die
erste Vorbedingung bilden.
Bis dahin wird man sich mit Instrumentalstücken und
Sologesang begnügen müssen. Wie das Salzburger Pro
gramm keine einzige Novität, so bringt es auch keine einzige
Chornummer; das sind die beiden Mängel, die wir ihm
auszustellen haben. Es hätte doch wol die hiesige Liedertafel
ausgereicht, um das Fest in der Mozart-Stadt wenigstens mit
dem Priesterchor aus der „Zauberflöte“ bedeutungsvoll zu
eröffnen oder zu schließen.
Salzburg sah bereits vor zwanzig Jahren ein
großes Musikfest in seinen Mauern: im September 1856,
da man die hundertste Wiederkehr von Mozart’s Geburtstag
feierte. Lebhaft gedachte ich jener Tage, als ich heute Mor
gens vor Mozart’s Standbild eine kurze Andacht verrichtete.
Man hatte damals einen Festzug mit Fackeln zu Mozart’s
Monument arrangirt und dasselbe mit einer weitläufigen
Gelegenheits-Cantate angesungen. Sie blieb ohne rechten Ein
druck, obwol der Componist, Franz Lachner, sich die red
lichste Mühe damit gegeben; bleibt es doch immer eine ver
zweifelte Zumuthung, den größten Tondichter in Tönen zu
feiern, in anderen als seinen eigenen Tönen. Das ist fast
noch bedenklicher, als den Orpheus oder die heilige Cä
cilia zu componiren oder die Macht der Musik überhaupt,
Stoffe, welche geradezu eine Herausforderung zu musikali
schen Wunderthum enthalten. Was wir damals empfindlich
vermißten in Salzburg, waren das rechte Verständniß und die
warme Theilnahme für die Bedeutung des Festes. Dem
heutigen Musikfeste fehlt jener besondere, begeisternde Anlaß
eines Mozart-Jubiläums, dafür zeigt sich aber glücklicher
weise eine viel geringere Kluft zwischen der Fest-Idee und
dem großen Publicum. Ferner hatte — durch schlimme Zu
fälligkeiten wie durch eigenes Verschulden — jenes Mozart-
Fest eine für Oesterreich beschämende, ganz und gar
unösterreichische Physiognomie angenommen, die wir gott
lob in diesem Jahre vollständig vermissen. Das Mozart-
Jubiläum von 1856 war eigentlich ein auf öster
reichischem Boden abgehaltenes bayrisches Musikfest.
Es war durch bayrische Künstler ins Werk gesetzt und aus
geführt, durch die Anwesenheit des bayrischen Hofes ausge
zeichnet. Der Dirigent (Franz Lachner), die Sänger
(Härtinger und Kindermann), die Sängerinnen
(Hetzenecker, Dietz, Behrend-Brand), die
Instrumental-Virtuosen (Lauterbach, Mittermayer,
Bärmann) stammten sämmtlich aus der Münchener Oper
und Hofcapelle. Hellmesberger war der einzige nam
hafte Musiker aus Wien, welcher zu Ehren Mozart’s damals
mitwirkte. Ganz im Gegensatz zu jener bedauerlichen Zurück
haltung Wiens ist das heutige Salzburger Musikfest fast aus
schließlich durch Wiener Künstler ausgeführt.
Das Programm bestand 1856 natürlich nur aus Com
positionen Mozart’s; es war eben eine Mozart-Feier. Aber
wird nicht jedes in Salzburg abgehaltene Musikfest unwill
kürlich und nothwendig zur Mozart-Feier? Müssen hier
unsere Gedanken nicht immer und immer wieder zu ihm
zurückkehren? Mozart’s Vaterstadt! Er hat sie freilich nicht
sonderlich geliebt, sich mehr als Einmal krampfhaft aus ihr
zu befreien gesucht — daran war nicht die freundliche Stadt,
sondern der sehr unfreundliche Erzbischof schuld, der den jun
gen Mozart mit einer besonderen Passion unterdrückte und
demüthigte. Beethoven hatte in Bonn von seinem geist
lichen Kurfürsten ungleich mehr Wohlwollen, von der Gesell
schaft ungleich mehr Förderung erfahren und hing trotzdem
an seiner Vaterstadt so wenig wie Mozart. Beide sind erst
„was Rechtes“ geworden, nachdem sie ihrer kleinbürgerlichen
Heimat den Rücken gekehrt; für die Welt sind Beethoven
wie Mozart in Wien auf die Welt gekommen. Aber
Bonn und Salzburg wird allezeit eine künstlerische Bethlehem-
Glorie umstrahlen, welche den Pilger mit einer Art
wonniger Andacht festhält. So viele Sänger und Geiger sich
jetzt zum Musikfest hier einfinden, es unterläßt schwerlich
einer, nach dem Geburtshause Mozart’s zu fragen und zu
seinem Denkmale zu wallfahrten. Ersteres ist ein hohes,
schmales Haus in der Getreidegasse; drei Zimmer im drit
ten Stockwerke bildeten durch viele Jahre die Wohnung Leo
pold Mozart’s. Im mittleren, großen Zimmer ward Wolf
gang geboren, in dem kleinen Stübchen nebenan arbeitete er.
Wie beim Mozart-Feste 1856, so überließ auch jetzt der In
haber der Wohnung diese Zimmer für die drei Festtage der
Verehrung so vieler Besucher. Die Reliquien, die damals
dort aufgestellt waren: Mozart’s kleines zitherartig klingen
des Spinett, seine Geige, mehrere Autographe, das große
Familienbild von Croce etc. sind gegenwärtig, reichlich ver
mehrt und schön geordnet, in dem Archiv des Mozarteums
aufgestellt. Mozart’s Geburtshaus besitzt seit Jahren ein
Kaufmann, und die Zeichen mercantiler Thätigkeit breiten
sich in Flur und Hofraum so behaglich aus, daß man den
respectvoll abgenommenen Hut unwillkürlich wieder aufsetzt
und sich weit weg von Mozart’schen Melodien mitten in
Freytag’s „Soll und Haben“ versetzt wähnt.
Die Mozart-Statue kehrt dem erzbischöflichen Dom
capitel recht witzig den Rücken. Unähnlich in den Gesichts
zügen, kleinlich in der Haltung, unmozartisch im Total
eindruck, erhebt sie den Beschauer wol nur durch die Ge
danken und Empfindungen, die er selbst mitbringt. Ein
schöneres Denkmal ist das unsterbliche Gedicht, womit
Grillparzer die Enthüllung dieser Statue gefeiert hat
im Jahre 1842. In diesem Gedicht, das in seinen Blüthen
kelchen die tiefsten Wahrheiten der musikalischen Aesthetik ein
schließt, hat Grillparzer das Bild Mozart’s mit dem land
schaftlichen Charakter Salzburgs überaus sinnig zusammen
gestimmt, und hier an Ort und Stelle, angesichts der Berge,
welche das Mozart-Monument in weitem Kranz einfassen,
verstehen wir besser als je die Worte unseres Dichters:
Von diesen Bergen zog der Gottesathem,
Gewürzt mit Kräutern und mit Blumenduft,
In seine jugendlich gehob’ne Brust.
Darum ist er geworden auch, wie sie,
Wie seine Berge, seiner Wiege Hüter.
Wol gibt es höh’re, doch sie decket Eis,
Gewaltig’re — allein das scheue Leben,
Es findet für den Fußtritt keine Spur
Und flieht mit Schaudern die erhab’ne Wüste.
Er aber klomm so hoch, als Leben reicht,
Und stieg so tief, als Leben blüht und durftet.
Und so ward ihm der ewig frische Kranz,
Den die Natur ihm wand und mit ihm theilet.