Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4731. Wien, Samstag, den 27. October 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4731. Wien, Samstag, den 27. October 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 27.10.1877
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Hofoperntheater. („Sylvia,“ Ballet in drei Abtheilungen von J. Barbier und Mérante. Musik von Leo Delibes.)

Ed. H. Sobald es sich um die Wahl einer Ballet- Novität für das Hofoperntheater handelte, durfte die Sylvia“ von Leo Delibes unstreitig den ersten An spruch erheben. Neben den beiden früheren Balletten dieses liebenswürdigen Componisten, „Coppelia“ und „La source“, übt „Sylvia“ gegenwärtig die größte Anziehungskraft auf das Publicum der Großen Oper in Paris. In Wien war überdies durch „Coppelia“ dem Erfolg der jüngeren „Sylviaauf das günstigste vorgearbeitet. Die Musik des neuen Ballets steht der „Coppelia“ nicht nach; leider hingegen die Handlung. Die Berufung auf Tasso, dessen berühmtes Schäferspiel „Aminta“ den Grundstoff zur „Sylvia“ lieferte, kann letzterer wenig nützen. Tasso’s „Aminta“ (erschienen 1572) behandelt in fünf Acten eine gar dürftige Handlung: Ein Hirte, Aminta, rettet die Nymphe Sylvia aus der Ge walt eines gewaltthätigen Satyrs. Auf der Jagd mit an deren Nymphen umherstreifend, verwundet Sylvia einen Wolf, flieht vor ihm und verliert ihren blutbefleckten Schleier. Aminta wird dadurch zu dem Wahn veranlaßt, seine Ge liebte sei von dem Wolfe zerrissen, und stürzt sich von der Spitze eines Felsens. Indessen kommt Sylvia zurück, erzählt, wie sie dem wüthenden Thiere entgangen, erfährt aber nun Aminta’s Tod und will ihm verzweifelnd folgen. Allein Aminta ist nicht gestorben, sondern nur leicht verletzt, und die Liebenden feiern beglückt ihre Vereinigung. Dieses übermäßig einfache Sujet, welches auch bei Tasso einschläfern müßte, hätte dieser nicht den ganzen Blumenflor seiner duftigen Sprache darüber ge breitet, erscheint in unserem neuen Ballet folgendermaßen umgestaltet und bereichert: Sylvia, eine Lieblingsnymphe der Göttin Diana, ist zugleich das von Ferne angebetete Ideal des armen Schäfers Aminta. Wir sehen sie zu An

fang des Ballets, wie sie, von der Jagd kommend, im Walde Helm und Köcher ablegt, um mit ihrem jungfräu lichen Gefolge auszuruhen und das gebräuchliche Opern-See bad zu nehmen. Obwol die Ballet-Hydropathinnen dies immer in voller Toilette, mit Schuhen und Strümpfen thun, sind sie doch jedesmal tödtlich erschrocken, wenn sie einen Sterblichen in der Nähe bemerken. Auch unser ver liebter Schäfer wird hinter einer Götterstatue entdeckt und fällt, von dem rächenden Pfeil Sylvia’s getroffen, nieder. Sylvia besitzt aber außer diesem blonden auch noch einen schwarzen Verehrer von unbändigem Temperament und äußerst frechen Gewohnheiten, den Jäger Orion. Mit seinen Liebesanträgen zurückgewiesen, packt er die Nymphe einfach auf die Schulter und trägt sie in seine Felsengrotte. Hier seufzt sie als Gefangene des schwarzen Unholds, bis sie ihn endlich durch List unschädlich zu machen weiß. Sie preßt nämlich den Saft aus einigen Weintrauben in eine Schale, credenzt sie dem Orion und sieht ihn bald schwer berauscht umhertoben, endlich niedersinken. In der Regel pflegt süßer Most eine etwas sanftere, nicht gerade nach dem Kopf aufsteigende Wirkung hervorzubringen, wie sich in die ser Jahreszeit jeder gute Oesterreicher überzeugen kann — im Ballet muß man freilich auch physiologische Wunder gläubig hinnehmen. Genug, das Ungethüm schnarcht in be sinnungslosem Mostrausch, während Sylvia den Gott Amor zu Hilfe ruft und von ihm auch richtig aus der Grotte be freit wird. Derselbe Amor, „das verschmitzte Kind“, erscheint auch (zum Glück nicht auf die entsetzliche Flotow’sche Melodie) als Arzt verkleidet und heilt den angeschossenen Schäfer Aminta, von seiner Wunde nämlich, nicht von seinem Liebes fieber. Letzteres treibt den Jüngling unverweilt über Berg und Thal, die verschwundene Sylvia zu suchen. Auf dieser Commissionsreise geräth er auch mitten in ein heiteres Bacchusfest. Auch hier erscheint der immer zudringlicher wer dende Gott Amor, diesmal in der Maske eines Seeräubers (wir hielten ihn für eine alte Krankenwärterin), und läßt seine schönsten Sklavinnen dem Aminta „das Bischen Liebe“

vortanzen. Allein nur Eine von Allen, dichtverschleiert oben drein, fesselt durch ihre graziösen Stellungen unsern fein schmeckerischen Ziegenhirten: es ist Sylvia! Große Ueber raschung; wer hätte das vermuthet! Ihr nach kommt aber der Mostschwärmer Orion mit geschwungener Hacke ange sprungen und bedroht sie. Da erscheint die Göttin Diana auf der Schwelle ihres Tempels, streckt Orion nieder und vereinigt, auf gütliches Zureden Amor’s, die biederen Lie benden unter Assistenz vieler kleiner Amoretten in einem Meer von farbigem elektrischen Licht.

Das ist Alles sehr schön, aber herzlich langweilig; wie die mythologischen Ballet- und Opernstoffe überhaupt. Du guter Gott, was gehen uns die Gottheiten an? Die zärt lichen Liebespirouetten von Nymphen und Schäferinnen, die begeisterten Bockssprünge unsauberer Faune, diese immer sprungbereite Allmacht Diana’s oder Amor’s — für wen haben sie noch ein dramatisches Interesse? Die Handlung des neuen Ballets bringt keine Wendung, die uns überraschen, rühren oder auch nur amüsiren könnte. Somit bleiben als bewegende Kräfte des Erfolges nur die Ausstattung und die Musik. Erstere hat es in mythologischen Balletten auch nicht so leicht: Schäferinnen und Nymphen gehen bekanntlich äußerst einfach gekleidet und halten sich meistentheils in Wäldern auf — woher Abwechslung und Pracht hernehmen für die Costüme und Decorationen? Da müssen denn allerlei Lückenbüßer aushelfen. Hier ein Tanz äthiopischer Sklaven, dort ein Piratenschiff, ein Bacchusfest etc. Dergleichen Augen weide unterbricht zwar vorübergehend die Monotonie der geistlosen Handlung, aber retten könnte sie das Ballet Sylvia“ nimmermehr, fände dieses nicht eine so mächtige Unterstützung in der Musik des Herrn Delibes. Sie ge hört zu dem Vorzüglichsten, was in dieser Gattung ge schrieben ist. Wir glauben ohne Uebertreibung, daß jeder Musikfreund, nähme er auch keinerle Antheil an der Hand lung selbst, der „Sylvia“ von Anfang bis zu Ende ohne Langweile, ja mit Vergnügen und Interesse beiwohnen wird. Uns wenigstens ist es so ergangen; der Reiz dieser graziösen,

feingezeichneten und mit der höchsten Sauberkeit colorirten Musik ließ uns keinen Augenblick los. Der Geist der „Sylvia“ steckt im Orchester, nicht auf der Bühne. Von der schleuderhaften Praxis der gewöhnlichen Ballet-Compositionen hat sich Delibes völlig losgemacht, ohne deßhalb die Grundlagen dieser Gat tung umzuwühlen und das Experiment eines nagelneuen Zu kunftsballet-Styls probiren zu wollen. Er geht an seine Auf gabe zunächst als dramatischer Tondichter, als Opern componist, der nebenbei dem Balletwesen Neigung und In teresse entgegenbringt. Dramatisch im besten Sinne behandelt er alles Scenische und Mimische in der „Sylvia“; Schritt für Schritt folgt die Musik illustrirend den Bewegungen und Affecten der Darsteller, dabei stets bedacht, die formale Ein heit, die musikalische Entwicklung der Motive möglichst zu wahren. Unscheinbaren Melodien weiß Delibes durch geist reiche Instrumentirung Glanz und Bedeutung zu geben, öfter wiederkehrenden Motiven leiht er neuen Reiz durch verän derte, pikante Harmonisirung. Aengstlicher Harmoniker darf man freilich nicht sein; Delibes treibt (wie Bizet und das musikalische junge Frankreich überhaupt) die Vorliebe für grelle Accordfolgen, überraschende Modulationen und „pikante“ Bässe mitunter etwas weit. Auch an schneidenden Querständen fehlt es nicht — zum Glück macht das Alles in Delibes’ Orchestrirung kein so böses Gesicht wie auf dem Papier. Was in einer Ballet-Partitur sehr viel sagen will: wir hören in „Sylvia“ keine musikalischen Rohheiten, weder in der Melodie, noch in der Instrumentirung. Es ist Alles fein und distinguirt, „zu distinguirt“, wird mancher Ballettfreund sagen, und in der That könnten in den eigent lichen Tänzen einige Strauß’sche Blutstropfen nicht schaden. Sei es, daß jene unmittelbar einschlagende Sinnlichkeit ihm ausweicht oder er ihr — Delibes kann sich jedenfalls rühmen, die Einheit des Styls nirgends zu Gunsten der Drehorgeln oder Militärbanden verletzt zu haben. Unter den schönsten Musikstücken der Partitur ist zuerst der „Langsame Walzer“ der Sylvia hervorzuheben, der auch als Entreact wiederkehrt — ein über einzelnen Harfen-Arpeggien sich wiegender gra

ziöser Gesang der Violine und des Waldhorns. Ein leb hafteres Gegenstück dazu bildet das Divertissement der Sylvia im letzten Act. Diese Perlenschnur von pizzikirten Sech zehntel-Figuren der Violinen ist eine getreue Uebersetzung von Sylvia’s Tanzschritten ins Musikalische oder umgekehrt. Musikalisch noch bedeutender ist der Tanz der Jägerinnen im ersten Act mit seinem echt symphonischen Hauptmotiv, einer von vier Hörnern unison geschmetterten Fanfare, der die Pauken antworten. Durch sehr originelle Instrumentirung wirkt der Bauerntanz in C-dur (Flöte und Piccolo in Terzen, über einen dudelsackartig brummenden, von Tambourinschlägen aufgestachelten Baß), durch echt pastorale Lieblichkeit die erste Scene des Schäfers Aminta. Auf interessante, vorzugsweise den Musiker interessirende Einzelheiten können wir hier nicht eingehen; nur eines einzigen geistreichen und stimmungsvollen Zuges wollen wir noch gedenken; des Hornrufs beim Heran nahen Sylvia’s, der, aus dem Es-dur-Dreiklang nachhallend, unmittelbar nach Des-dur herabgleitet.

Im Vergleich mit „Coppelia“ ist „Sylvia“ prächtiger, größer in den Dimensionen und den Ansprüchen, uns bleibt trotzdem jenes kleine niederländische Genrebild sympathischer, als diese „historische Landschaft mit mythologischer Staffage“. Coppelia“ fußt auf einem originellen Grundgedanken, der sich in der Automaten-Scene des zweiten Actes überaus ergötz lich entwickelt; die ganze Handlung dieses Ballets, ihr „Costüm“ im weitesten Sinn, ist natürlicher, heiterer und treibt auch die Musik zu leichterem und rascherem Fluß an. Hingegen ist von der scenischen Monotonie der „Sylviaeine gewisse Einförmigkeit der Musik kaum zu trennen. Es kommt darin zu keiner herzhaften, gesunden Fröhlichkeit. Daran ist zur Hälfte, wie gesagt, das Textbuch schuld, zur Hälfte aber die Eigenart von Delibes Talent, welches mehr auf feinste Detail-Arbeit als auf packende Wirkung angelegt ist. Möchte der geschätzte Componist sich demnächst einen anregenderen Balletstoff wählen, oder besser: gar keinen mehr, sondern ein heiteres Opern-Libretto. Wer eine komische Oper wie „Le Roi l’a dit“ geschrieben hat, dem darf man

fast das Recht bestreiten, sich anders als ganz vorübergehend dem Ballet zu widmen. In drei Balletten hat Delibes sich als Meister der musikalischen Taubstummensprache bewährt; möge er nunmehr zur lebendigen Rede, zum tönenden Gesang zurückkehren und statt getanzter Götterfabeln uns Lust und Leid wirklicher Menschen schildern in Melodien, zu welchen nicht die Fußspitze, sondern das Herz den Tact schlägt.

Das Ballet „Sylvia“ erfreute sich im Hofoperntheater einer vortrefflichen Aufführung und der günstigsten Aufnahme. Aufmerksamer als gewöhnlich lauschte das Publicum der Musik und rief den persönlich anwesenden Componisten nach den Actschlüssen und sogar bei offener Scene hervor. Man ches reizend componirte und virtuos gespielte Orchesterstück wurde mit einem Beifall ausgezeichnet, in welchen sich Delibes und das (vom Capellmeister Doppler) dirigirte treff liche Orchester theilen mögen. In der Titelrolle glänzte Fräulein Linda durch Bravour und Grazie des Tanzes; ihre endlosen Fußspitzen-Trillerketten im letzten Act erregten einen gleichfalls endlosen Applaus. Die Herren Frappart und Price sind als Komiker unsere erklärten Lieblinge; da ist jeder von ihnen ein Talent ersten Ranges, ein Talent, das sich im Zusammenspiel mit dem Andern verdoppelt und ver dreifacht. In der „Sylvia“ tanzt Frappart die lyrische Tenorpartie des Aminta, Price die tiefe Baßpartie des wilden Orion; Beide ziehen sich mit großer Geschicklichkeit und ohne zu lachen aus dieser ernsthaften Affaire. Auch die Tänzerinnen Fräulein Schläger und Hauffe ernteten großen Beifall nach einem affenbraunen Tricot-Duett, das sie mit ebensoviel Virtuosität als weiblicher Selbstverleugnung durchführten. Die Novität ist mit der ganzen Pracht einer neuen kostbaren Ausstattung in Scene gegangen. Besonders malerisch wirken die Costüme bei dem Bacchusfest im dritten Act, dessen Arrangement, von pompösen Festzug bis zum wilden Tanz sich steigend, die lebendigste und effectvollste Scene des Ballets bildet. Aus diesem Bacchusfest spricht wirklich der Wein und nicht der Most.