Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4769. Wien, Dienstag, den 4. December 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4769. Wien, Dienstag, den 4. December 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04.12.1877
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Neue Bücher über Musik und Musiker.

Ed. H. Das seinem Ende zueilende Jahr zählt in Bezug auf die musikalische Literatur in Deutschland nicht zu den fruchtbarsten; indessen ganz ohne Erntesegen hat es uns nicht gelassen. Daß die Fluth der Bayreuth-Broschüren, die im vorigen Jahr Alles unter Wagner zu setzen drohte, sich endlich verlaufen hat, wird Niemand beklagen. Es war hohe Zeit, daß der musikalische Mensch auch wieder einmal von was Anderem zu hören bekomme, als von den Leitmotiven des Wotan und der Brunhilde.

Da stoßen wir gleich auf eine unscheinbare Broschüre, die über einen vermeintlich längst erschöpften Gegenstand Neues und Interessantes vorbringt. Wir meinen A. W. Thayer’s neuesten „Kritischen Beitrag zur Beethoven-Literatur“. (Berlin, bei Weber.) „Er schöpft“ scheint die Kenntniß von Beethoven’s Lebensumstän den, natürlich nur in dem Sinne, daß heute kaum mehr zu hoffen war, es werde nach so langem Zeitverlauf noch so vieles Lückenhafte ergänzt, so vieles Irrthümliche berichtigt werden können. In dieser Kunst kritischen Sichtens und Durchforschens aller auf Beethoven bezüglichen That sachen hat aber Thayer seine Meisterschaft neuerdings er probt. Die neuen Aufschlüsse, die er diesmal, gleichsam als Präludium zu dem dritten Band seiner Beethoven-Biographie, mittheilt, betreffen Beethoven’s Verhältniß zu zwei von allen Biographen sehr übel mitgenommenen Männern: Johann Mälzl und Johann van Beethoven. Für Beide wird Thayer’s Schrift zu einer Art „Rettung“, wohlgemerkt, nicht auf Grund geistreicher Paradoxen, sondern genauer, gewissenhafter Prüfung. Johann Mälzl, der geniale Mechaniker und Erfinder des Metronoms, stand anfangs in intimem Freundschaftsverhältniß zu Beethoven, der mit ihm eine Concertreise nach England plante. Für diese Concerte war die hauptsächlich auf England berechnete Schlachtsymphonie“, welche Beethoven auf Mälzl’s An regung für dessen „Panharmonium“ componirt hatte, be stimmt. Die Reise unterblieb, da Beiden das nöthige Geld fehlte: Mälzl überließ uneigennützig sein Eigenthum, die

Partitur der „Schlacht bei Vittoria“, dem Componisten, der sie instrumentirte und mit ungeheurem Erfolg aufführte. Mälzl hat für die Aufopferung seiner Partitur und für seine Mühe, die beiden ersten Concerte zu Stande zu bringen, nie einen Kreuzer bekommen. Die traurige Thatsache steht fest, daß Beethoven nach dem unerwarteten großen Erfolge der „Schlachtsymphonie“ den Reiseplan ganz aufgab, sich gänzlich von Mälzl lossagte und die folgenden Aufführungen dieses Werkes nun zu seinem eigenen Vortheil veranstaltete. Thayer constatirt, daß das allgemeine Vorurtheil gegen Mälzl nur von Schindler herrühre, unterstützt von einer sehr unrichtigen, im Zorne geschriebenen Angabe Beethoven’s, zu dessen ungeheuren Erfolgen in den Jahren 1814 bis 1815 doch niemand Anderer als Mälzl den Grund gelegt hatte. — Noch bedeutsamer sind Thayer’s Aufklärungen über Beet hoven’s älteren Bruder Johann, den Apotheker in Linz und späteren Gutsbesitzer in Gneixendorf. Thayer, der an fangs unter dem Eindrucke des Schindler’schen Buches gegen Johann van Beethoven selbst sehr voreingenommen gewesen, gesteht, sein Urtheil auf Grund genauerer Nachforschungen sehr zu Gunsten dieses Vielverleumdeten geändert zu haben. Be kanntlich nennt Schindler (und das ganze Heer seiner Nach schreiber) den Bruder Johann nur „das böse Princip“ in Beethoven’s Leben. Thayer thut nun dar, daß nach allen Quellen in einem Zeitraume von vierzehn vollen Jahren (vom März 1808 bis 1822) niemals und nirgends Johann als handelnde Person in das Leben Ludwig’s eingegriffen, wol aber in einem entscheidenden Falle Ludwig in das Leben Johann’s. Letzterer hatte in Linz als Haushälterin ein Mädchen bei sich, das aus einem früheren Liebesverhältnisse ein uneheliches Kind besaß. Beethoven war irrthümlich be nachrichtigt worden, sein Bruder Johann wolle diese Haushälterin heiraten — er eilt von Teplitz im October 1812 nach Linz, um eine solche Verbindung zu verhindern. Johann empfing ihn auf das herzlichste und räumte ihm das schönste Zimmer seiner Wohnung ein. Obwol der Gast seines Bruders, wen dete sich Beethoven unermüdlich an den Bischof und die Civilbehörden, damit das Mädchen gewaltsam entfernt werde. Es gelang ihm, vom Polizei-Director ein Decret auszuwir ken, kraft dessen das Mädchen verhaftet und „per Schub“ nach Wien geschickt werden solle. Johann, wüthend darüber,

machte nun eiligst Therese Obermayer zu seiner Frau, und diese konnte man doch nicht mehr fortschicken! Tags darauf verließ BeethovenLinz, in dem bitteren Bewußtsein, durch seinen Mangel an Geduld und Mäßigung dieses unerwünschte Resul tat selbst herbeigeführt zu haben. Die heftigen Vorwürfe, welche alle Beethoven-Biographen (als Echos von Schindler) gegen Johann wegen dessen Verhalten in Beethoven’s letzten Lebensjahren erheben, werden von Thayer durch Thatsachen, glaubwürdige Zeugenaussagen und eigenhändige Briefe Beet hoven’s widerlegt. Niemals hat sich Johann unberufen in Ludwigs Geschäftsangelegenheiten gemischt oder gar ihn be herrschen und ausbeuten wollen. Auch die angebliche Herz losigkeit, mit der Johann seinen Bruder in Gneixendorf be handelt und sogar dessen Todeskrankheit mitverursacht haben soll, wird von Thayer als eine arge Uebertreibung und Ent stellung dargethan. Wir können selbstverständlich hier in das Detail dieser Untersuchungen nicht eingehen und müssen uns begnügen, auf die Bedeutung von Thayer’s neuester Schrift hinzuweisen. Sie ist nicht blos wichtig durch ihre positiven Resultate, sondern zugleich als Strafgericht gegen all die sentimentalen Novellisten und leichtfertigen Biographen, welche Schuld tragen, daß manche der schreiendsten Irr thümer über Beethoven, von Geschlecht zu Geschlecht fort erbend, jetzt nach vierzig Jahren als unumstößliche Wahr heiten gelten. Daß Ludwig Nohl, der Vielschreiber, von Thayer aufs schärfste mitgenommen wird, bedarf keiner aus drücklichen Versicherung.

Wenden wir uns von der strengen Geschichtsforschung zur ästhetischen Betrachtung der Musik. Unter den jüngsten Publicationen dieses Faches ragen zwei hervor durch die Vorzüge ihres Inhalts und den Namen ihrer Autoren: Ferdinand Hiller und Louis Ehlert. Wer hätte nicht oft und gerne gelauscht, wenn Hiller, sei es was immer, aus dem Tonleben der Gegenwart“ erzählte? Wo fände sich eine solche Fülle anziehenden Stoffes mit gleichem Er zählertalent vereinigt? Obwol noch in den rüstigsten Jahren — er ist 1811, im selben Jahre mit Liszt, geboren — hat Hiller doch noch Goethe gekannt, Beethoven besucht, Franz Schubert am Clavier belauscht; er zählte Heine, Ros sini, Chopin, Mendelssohn, Schumann zu seinen intimen Freunden. Zu solchem Glück des Erlebens fügte ihm das

Geschick die Gabe, das Erlebte warm und anschaulich zu schildern. In seinem neuesten Buche entfaltet sich Hiller’s ganze liebenswürdige Persönlichkeit wie eine Blume; es heißt: Briefe an eine Ungenannte“ (Köln bei Dumont- Schauberg). Ein geheimnißvoller Schleier ruht auf diesen Briefen — weder Ort noch Zeit ihrer Abfassung sind an gedeutet, noch viel weniger Name und Stand der Adressatin. Einzelne Anhaltspunkte verrathen dennoch, daß die Briefe aus Köln und in jüngster Zeit (das Bayreuther Festspiel wird erwähnt) geschrieben sind. Aber die Dame, an welche Hiller so schwärmerisch schreibt, die hochgesinnte, geist volle „Ungenannte“ — wer mag sie sein? Wer, wie ich, persönliches Interesse an dem Verfasser nimmt, nicht blos literarisches, darf da wol ein bischen neugierig sein. Aber auf eine leise Anfrage durch zweite Hand erhielt ich von Hiller blos ein Blättchen mit einigen Noten und seiner Unterschrift — nichts weiter. Die notirte Melodie klang mir bekannt, ohne daß ich gleich den Sinn erfaßte, bis mir endlich einfiel, das sei ja der Anfang von Mendelssohn’s Lied: „Heiß’ mich nicht reden, heiß’ mich schweigen!“ Also richtig, ein Geheimniß in strengster Form. Jedenfalls muß die Dame einen tiefen, fast bezaubernden Eindruck auf Hiller gemacht haben, und nicht seine Briefe wieder auf sie — „Heiß’ mich nicht reden!“ Zum Glück hat sie ihn reden heißen und nicht schweigen, wofür wir der hohen Dame hiemit den Dank aller nunmehr Mitlesenden aussprechen. Hiller ist fürwahr ein Briefsteller, wie ihn Gott und die Ungenannte verlangen. Das Talent der Causerie im vornehmsten Sinne des Wortes besitzt Hiller in hohem Maße; Frankreich ist hierin sein Adoptiv-Vaterland; ihm ver dankt Hiller die graziöse Form und Technik, seiner deutschen Heimat den Inhalt. Mit leiser, sicherer Hand streift er die schwierig sten Fragen der musikalischen Psychologie, immer anregend, erfreuend, belehrend; weder den Gegenstand noch den Leser erschöpfend. Mehr als in einem früheren Werke Hiller’s haben wir hier den ganzen Menschen. Es pocht ein jugend liches Herz verrätherisch durch diese Briefe; sollten sie wirklich ganz vollständig abgedruckt sein, ganz und gar getreu? „Heiß’ mich nicht reden“ . . . Es steht vielleicht nicht Alles in dem gedruckten Buch, und dennoch — aufrichtig gestanden — etwas zu viel. Ich meine

alles dasjenige, was lediglich persönliche Huldigung ist, alle Lobeserhebungen einer Person, die wir doch nicht kennen, alle intimen Hindeutungen auf eine Beziehung, die dem Leser ja absichtlich verschleiert, also unverständlich und gleich giltig ist. Wir wollen doch nur dasjenige lesen, was — ur sprünglich blos für Einen gedacht und geschrieben — doch für Alle gedacht und geschrieben sein könnte. Was soll der fernstehende Leser mit rein persönlichen Schwärmereien an fangen, wie die in Nr. 1, 2, 3, 33, 50 der Briefsammlung! Ja selbst die wiederholte Anrede: „Verehrte Frau“, „Verehr teste Freundin“, welche in diesem dünnen Bande über hundert mal mitten im Context vorkommt, stört uns im Fluß der Lectüre. In einer zweiten Auflage, die nicht lange ausbleiben kann, wünschten wir diese ganze lyrische Harfenstimme aus der Partitur gestrichen zu sehen. Mit dieser Bemerkung ist das einzige leichte Bedenken abgethan, das sich mir bei der genußreichen Lectüre der Hiller’schen Briefe aufdrängte; ich kann oder ich könnte nun mit vollem Behagen auf den rei chen Inhalt des Buches selbst übergehen. Nach den drei ersten nur präludirenden Briefen kommt Hiller auf die Pflege und den Einfluß der Musik überhaupt zu sprechen, auf die historische Entwicklung der Tonkunst, auf Instru mental- und Vocalmusik, auf das Componiren und Diri giren, auf Popularität, Talent, Nachruhm musikalischer Kri tik, auf den Kölner Carneval und sogar ein wenig auf Po litik; dazwischen erzählt er uns die anziehendsten Dinge von Heine, Börne, Rossini, Chopin, Robert und Clara Schumann und Anderen. Ich werde mich hüten, mehr davon zu verrathen — gehe ein Jeder hin und lese selber!

Louis Ehlert, der vor zwanzig Jahren gleichfalls mit Briefen an eine Dame seine Schriftsteller-Laufbahn eröffnet hatte, bringt uns in einem elegant ausgestatteten Bande eine Auswahl geistvoller Essays „Aus der Tonwelt“ (Ber lin bei E. Bock). Wenn wir neidisch auf die musikalische Productivität früherer Epochen zurückblicken, so können wir Epigonen uns wenigstens eines kleinen Fortschrittes freuen; es ist gewiß zu keiner Zeit so reichlich und so gut über Musik geschrieben worden, wie heute. Man sehe nur die Bücher von F. Hiller, Ehlert, Gumprecht und Anderen. In Hiller schlägt der Künstler und Poet, der liebenswürdige Mensch vor, in Ehlert der scharfe Kritiker. Dieselbe Ueber

zeugung wird man bei Hiller mit einem gewissen wohl wollenden Humor ausgesprochen finden, während sie bei Ehlert scharf und unerbittlich klingt, wie eine frei angeschlagene Dissonanz. Ehlert ist stets von leidenschaftlichem Ernste er füllt; in seinem Eifer, für seine Urtheile den aller prägnantesten Ausdruck zu finden, verfällt er mit unter ins Sonderbare und stylistisch Gezwungene. Aber das beengt uns nicht, wo die Gedanken geistreich und eigenthümlich sind und so augenscheinlich der tiefsten Ueber zeugung des Verfassers entquillen. Diese Vereinigung von scharfem, eigenthümlichem Denken und herzhafter Aufrichtig keit macht uns Ehlert’s Kritiken sehr werth, auch wo sie uns nicht völlig zu bekehren vermögen. Ehlert ist entschiedener Wagnerianer, ein Entzückter und doch kein Verrückter. Be geistert für das, was ihm an Wagner groß und schön er scheint, leugnet er doch dessen Unfehlbarkeit. Er beschönigt nicht Wagner’s Schwächen und geht namentlich mit dessen Dichtungen streng ins Gericht. Ehlert wird es vielleicht zu danken sein, wenn sich allmälig eine Partei der „vernünfti gen Wagnerianer“ bildet, wovon bis heute nur äußerst selten vereinzelte Exemplare vorkommen. Schon die Gerechtigkeit und liebevolle Hingebung, mit welcher Ehlert in einem eigenen ArtikelMendelssohn feiert, trennt ihn von der herr schenden Majorität der durchaus unduldsamen und vor Allem Mendelssohn- und Meyerbeerfeindlichen Wagnerianer. Außer dem sind die Essays über Chopin und Robert Schu mann ob ihrer feinen, geistreichen Beobachtungen besonders hervorzuheben. Fünf von den in Ehlert’s Buch enthaltenen Essays beschäftigen sich mit Richard Wagner. Das Be streben, gerecht und unbefangen zu sein, muß ich Ehlert’s Be richten aus Bayreuth nachrühmen, wenn mir auch für mein Theil das Glaubensbekenntniß F. Hiller’s über Wagner’s Nibelungen“ sympathischer ist. „Wer weiß,“ schreibt Hiller an seine Ungenannte, „ob Sie nicht eines Tages doch nach Bayreuth wandern werden, verehrte Freundin, wenn auch nur aus der gerechtfertigtesten Neugierde. Was mich betrifft, so ist meine tiefinnerste Abneigung gegen eine derartige Dich tung so unüberwindlich, daß ich, wenn der liebe Gott in eigener Person zu mir käme, um mich eines Besseren zu be lehren, zu ihm sagen würde: „Allen Respect, lieber Papa — aber diesmal bist du im Irrthum.“