Neue Bücher über Musik und Musiker.
Ed. H. Das seinem Ende zueilende Jahr zählt in
Bezug auf die musikalische Literatur in Deutschland nicht zu
den fruchtbarsten; indessen ganz ohne Erntesegen hat es uns
nicht gelassen. Daß die Fluth der Bayreuth-Broschüren, die
im vorigen Jahr Alles unter Wagner zu setzen drohte, sich
endlich verlaufen hat, wird Niemand beklagen. Es war hohe
Zeit, daß der musikalische Mensch auch wieder einmal von
was Anderem zu hören bekomme, als von den Leitmotiven
des Wotan und der Brunhilde.
Da stoßen wir gleich auf eine unscheinbare Broschüre,
die über einen vermeintlich längst erschöpften Gegenstand
Neues und Interessantes vorbringt. Wir meinen A. W.
Thayer’s neuesten „Kritischen Beitrag zur
Beethoven-Literatur“. (Berlin, bei Weber.) „Er
schöpft“ scheint die Kenntniß von Beethoven’s Lebensumstän
den, natürlich nur in dem Sinne, daß heute kaum mehr zu
hoffen war, es werde nach so langem Zeitverlauf noch so
vieles Lückenhafte ergänzt, so vieles Irrthümliche berichtigt
werden können. In dieser Kunst kritischen Sichtens und
Durchforschens aller auf Beethoven bezüglichen That
sachen hat aber Thayer seine Meisterschaft neuerdings er
probt. Die neuen Aufschlüsse, die er diesmal, gleichsam als
Präludium zu dem dritten Band seiner Beethoven-Biographie,
mittheilt, betreffen Beethoven’s Verhältniß zu zwei von allen
Biographen sehr übel mitgenommenen Männern: Johann
Mälzl und Johann van Beethoven. Für
Beide wird Thayer’s Schrift zu einer Art „Rettung“,
wohlgemerkt, nicht auf Grund geistreicher Paradoxen,
sondern genauer, gewissenhafter Prüfung. Johann Mälzl,
der geniale Mechaniker und Erfinder des Metronoms, stand
anfangs in intimem Freundschaftsverhältniß zu Beethoven,
der mit ihm eine Concertreise nach England plante. Für
diese Concerte war die hauptsächlich auf England berechnete
„Schlachtsymphonie“, welche Beethoven auf Mälzl’s An
regung für dessen „Panharmonium“ componirt hatte, be
stimmt. Die Reise unterblieb, da Beiden das nöthige Geld
fehlte: Mälzl überließ uneigennützig sein Eigenthum, die
Partitur der „Schlacht bei Vittoria“, dem Componisten,
der sie instrumentirte und mit ungeheurem Erfolg aufführte.
Mälzl hat für die Aufopferung seiner Partitur und für
seine Mühe, die beiden ersten Concerte zu Stande zu bringen,
nie einen Kreuzer bekommen. Die traurige Thatsache steht
fest, daß Beethoven nach dem unerwarteten großen Erfolge
der „Schlachtsymphonie“ den Reiseplan ganz aufgab, sich
gänzlich von Mälzl lossagte und die folgenden Aufführungen
dieses Werkes nun zu seinem eigenen Vortheil veranstaltete.
Thayer constatirt, daß das allgemeine Vorurtheil gegen
Mälzl nur von Schindler herrühre, unterstützt von einer
sehr unrichtigen, im Zorne geschriebenen Angabe Beethoven’s,
zu dessen ungeheuren Erfolgen in den Jahren 1814 bis 1815
doch niemand Anderer als Mälzl den Grund gelegt hatte.
— Noch bedeutsamer sind Thayer’s Aufklärungen über Beet
hoven’s älteren Bruder Johann, den Apotheker in Linz
und späteren Gutsbesitzer in Gneixendorf. Thayer, der an
fangs unter dem Eindrucke des Schindler’schen Buches gegen
Johann van Beethoven selbst sehr voreingenommen gewesen,
gesteht, sein Urtheil auf Grund genauerer Nachforschungen sehr
zu Gunsten dieses Vielverleumdeten geändert zu haben. Be
kanntlich nennt Schindler (und das ganze Heer seiner Nach
schreiber) den Bruder Johann nur „das böse Princip“ in
Beethoven’s Leben. Thayer thut nun dar, daß nach allen
Quellen in einem Zeitraume von vierzehn vollen Jahren
(vom März 1808 bis 1822) niemals und nirgends Johann
als handelnde Person in das Leben Ludwig’s eingegriffen,
wol aber in einem entscheidenden Falle Ludwig in das Leben
Johann’s. Letzterer hatte in Linz als Haushälterin ein
Mädchen bei sich, das aus einem früheren Liebesverhältnisse
ein uneheliches Kind besaß. Beethoven war irrthümlich be
nachrichtigt worden, sein Bruder Johann wolle diese Haushälterin
heiraten — er eilt von Teplitz im October 1812 nach Linz,
um eine solche Verbindung zu verhindern. Johann empfing
ihn auf das herzlichste und räumte ihm das schönste Zimmer
seiner Wohnung ein. Obwol der Gast seines Bruders, wen
dete sich Beethoven unermüdlich an den Bischof und die
Civilbehörden, damit das Mädchen gewaltsam entfernt werde.
Es gelang ihm, vom Polizei-Director ein Decret auszuwir
ken, kraft dessen das Mädchen verhaftet und „per Schub“
nach Wien geschickt werden solle. Johann, wüthend darüber,
machte nun eiligst Therese Obermayer zu seiner Frau, und
diese konnte man doch nicht mehr fortschicken! Tags darauf
verließ BeethovenLinz, in dem bitteren Bewußtsein, durch seinen
Mangel an Geduld und Mäßigung dieses unerwünschte Resul
tat selbst herbeigeführt zu haben. Die heftigen Vorwürfe, welche
alle Beethoven-Biographen (als Echos von Schindler) gegen
Johann wegen dessen Verhalten in Beethoven’s letzten
Lebensjahren erheben, werden von Thayer durch Thatsachen,
glaubwürdige Zeugenaussagen und eigenhändige Briefe Beet
hoven’s widerlegt. Niemals hat sich Johann unberufen in
Ludwigs Geschäftsangelegenheiten gemischt oder gar ihn be
herrschen und ausbeuten wollen. Auch die angebliche Herz
losigkeit, mit der Johann seinen Bruder in Gneixendorf be
handelt und sogar dessen Todeskrankheit mitverursacht haben
soll, wird von Thayer als eine arge Uebertreibung und Ent
stellung dargethan. Wir können selbstverständlich hier in das
Detail dieser Untersuchungen nicht eingehen und müssen uns
begnügen, auf die Bedeutung von Thayer’s neuester Schrift
hinzuweisen. Sie ist nicht blos wichtig durch ihre positiven
Resultate, sondern zugleich als Strafgericht gegen all die
sentimentalen Novellisten und leichtfertigen Biographen,
welche Schuld tragen, daß manche der schreiendsten Irr
thümer über Beethoven, von Geschlecht zu Geschlecht fort
erbend, jetzt nach vierzig Jahren als unumstößliche Wahr
heiten gelten. Daß Ludwig Nohl, der Vielschreiber, von
Thayer aufs schärfste mitgenommen wird, bedarf keiner aus
drücklichen Versicherung.
Wenden wir uns von der strengen Geschichtsforschung
zur ästhetischen Betrachtung der Musik. Unter den jüngsten
Publicationen dieses Faches ragen zwei hervor durch die
Vorzüge ihres Inhalts und den Namen ihrer Autoren:
Ferdinand Hiller und Louis Ehlert. Wer hätte nicht
oft und gerne gelauscht, wenn Hiller, sei es was immer,
„aus dem Tonleben der Gegenwart“ erzählte? Wo fände
sich eine solche Fülle anziehenden Stoffes mit gleichem Er
zählertalent vereinigt? Obwol noch in den rüstigsten Jahren
— er ist 1811, im selben Jahre mit Liszt, geboren —
hat Hiller doch noch Goethe gekannt, Beethoven besucht,
Franz Schubert am Clavier belauscht; er zählte Heine, Ros
sini, Chopin, Mendelssohn, Schumann zu seinen intimen
Freunden. Zu solchem Glück des Erlebens fügte ihm das
Geschick die Gabe, das Erlebte warm und anschaulich zu
schildern. In seinem neuesten Buche entfaltet sich Hiller’s
ganze liebenswürdige Persönlichkeit wie eine Blume; es heißt:
„Briefe an eine Ungenannte“ (Köln bei Dumont-
Schauberg). Ein geheimnißvoller Schleier ruht auf diesen
Briefen — weder Ort noch Zeit ihrer Abfassung sind an
gedeutet, noch viel weniger Name und Stand der Adressatin.
Einzelne Anhaltspunkte verrathen dennoch, daß die Briefe
aus Köln und in jüngster Zeit (das Bayreuther Festspiel
wird erwähnt) geschrieben sind. Aber die Dame, an welche
Hiller so schwärmerisch schreibt, die hochgesinnte, geist
volle „Ungenannte“ — wer mag sie sein? Wer, wie
ich, persönliches Interesse an dem Verfasser nimmt,
nicht blos literarisches, darf da wol ein bischen
neugierig sein. Aber auf eine leise Anfrage durch
zweite Hand erhielt ich von Hiller blos ein Blättchen mit
einigen Noten und seiner Unterschrift — nichts weiter. Die
notirte Melodie klang mir bekannt, ohne daß ich gleich den
Sinn erfaßte, bis mir endlich einfiel, das sei ja der Anfang
von Mendelssohn’s Lied: „Heiß’ mich nicht reden, heiß’ mich
schweigen!“ Also richtig, ein Geheimniß in strengster Form.
Jedenfalls muß die Dame einen tiefen, fast bezaubernden
Eindruck auf Hiller gemacht haben, und nicht seine Briefe
wieder auf sie — „Heiß’ mich nicht reden!“ Zum Glück hat
sie ihn reden heißen und nicht schweigen, wofür wir der
hohen Dame hiemit den Dank aller nunmehr Mitlesenden
aussprechen. Hiller ist fürwahr ein Briefsteller, wie ihn Gott
und die Ungenannte verlangen. Das Talent der Causerie im
vornehmsten Sinne des Wortes besitzt Hiller in hohem
Maße; Frankreich ist hierin sein Adoptiv-Vaterland; ihm ver
dankt Hiller die graziöse Form und Technik, seiner deutschen Heimat
den Inhalt. Mit leiser, sicherer Hand streift er die schwierig
sten Fragen der musikalischen Psychologie, immer anregend,
erfreuend, belehrend; weder den Gegenstand noch den Leser
erschöpfend. Mehr als in einem früheren Werke Hiller’s
haben wir hier den ganzen Menschen. Es pocht ein jugend
liches Herz verrätherisch durch diese Briefe; sollten sie
wirklich ganz vollständig abgedruckt sein, ganz und
gar getreu? „Heiß’ mich nicht reden“ . . . Es steht
vielleicht nicht Alles in dem gedruckten Buch, und
dennoch — aufrichtig gestanden — etwas zu viel. Ich meine
alles dasjenige, was lediglich persönliche Huldigung ist, alle
Lobeserhebungen einer Person, die wir doch nicht kennen,
alle intimen Hindeutungen auf eine Beziehung, die dem
Leser ja absichtlich verschleiert, also unverständlich und gleich
giltig ist. Wir wollen doch nur dasjenige lesen, was — ur
sprünglich blos für Einen gedacht und geschrieben — doch
für Alle gedacht und geschrieben sein könnte. Was soll der
fernstehende Leser mit rein persönlichen Schwärmereien an
fangen, wie die in Nr. 1, 2, 3, 33, 50 der Briefsammlung!
Ja selbst die wiederholte Anrede: „Verehrte Frau“, „Verehr
teste Freundin“, welche in diesem dünnen Bande über hundert
mal mitten im Context vorkommt, stört uns im Fluß der
Lectüre. In einer zweiten Auflage, die nicht lange ausbleiben
kann, wünschten wir diese ganze lyrische Harfenstimme aus
der Partitur gestrichen zu sehen. Mit dieser Bemerkung ist
das einzige leichte Bedenken abgethan, das sich mir bei der
genußreichen Lectüre der Hiller’schen Briefe aufdrängte; ich
kann oder ich könnte nun mit vollem Behagen auf den rei
chen Inhalt des Buches selbst übergehen. Nach den drei
ersten nur präludirenden Briefen kommt Hiller auf die
Pflege und den Einfluß der Musik überhaupt zu sprechen,
auf die historische Entwicklung der Tonkunst, auf Instru
mental- und Vocalmusik, auf das Componiren und Diri
giren, auf Popularität, Talent, Nachruhm musikalischer Kri
tik, auf den Kölner Carneval und sogar ein wenig auf Po
litik; dazwischen erzählt er uns die anziehendsten Dinge von
Heine, Börne, Rossini, Chopin, Robert und
Clara Schumann und Anderen. Ich werde mich hüten,
mehr davon zu verrathen — gehe ein Jeder hin und lese selber!
Louis Ehlert, der vor zwanzig Jahren gleichfalls mit
Briefen an eine Dame seine Schriftsteller-Laufbahn eröffnet
hatte, bringt uns in einem elegant ausgestatteten Bande eine
Auswahl geistvoller Essays „Aus der Tonwelt“ (Ber
lin bei E. Bock). Wenn wir neidisch auf die musikalische
Productivität früherer Epochen zurückblicken, so können wir
Epigonen uns wenigstens eines kleinen Fortschrittes freuen;
es ist gewiß zu keiner Zeit so reichlich und so gut über Musik
geschrieben worden, wie heute. Man sehe nur die Bücher
von F. Hiller, Ehlert, Gumprecht und Anderen. In
Hiller schlägt der Künstler und Poet, der liebenswürdige
Mensch vor, in Ehlert der scharfe Kritiker. Dieselbe Ueber
zeugung wird man bei Hiller mit einem gewissen wohl
wollenden Humor ausgesprochen finden, während sie bei Ehlert
scharf und unerbittlich klingt, wie eine frei angeschlagene
Dissonanz. Ehlert ist stets von leidenschaftlichem Ernste er
füllt; in seinem Eifer, für seine Urtheile den aller
prägnantesten Ausdruck zu finden, verfällt er mit
unter ins Sonderbare und stylistisch Gezwungene. Aber
das beengt uns nicht, wo die Gedanken geistreich und
eigenthümlich sind und so augenscheinlich der tiefsten Ueber
zeugung des Verfassers entquillen. Diese Vereinigung von
scharfem, eigenthümlichem Denken und herzhafter Aufrichtig
keit macht uns Ehlert’s Kritiken sehr werth, auch wo sie
uns nicht völlig zu bekehren vermögen. Ehlert ist entschiedener
Wagnerianer, ein Entzückter und doch kein Verrückter. Be
geistert für das, was ihm an Wagner groß und schön er
scheint, leugnet er doch dessen Unfehlbarkeit. Er beschönigt
nicht Wagner’s Schwächen und geht namentlich mit dessen
Dichtungen streng ins Gericht. Ehlert wird es vielleicht zu
danken sein, wenn sich allmälig eine Partei der „vernünfti
gen Wagnerianer“ bildet, wovon bis heute nur äußerst selten
vereinzelte Exemplare vorkommen. Schon die Gerechtigkeit und
liebevolle Hingebung, mit welcher Ehlert in einem eigenen
ArtikelMendelssohn feiert, trennt ihn von der herr
schenden Majorität der durchaus unduldsamen und vor Allem
Mendelssohn- und Meyerbeerfeindlichen Wagnerianer. Außer
dem sind die Essays über Chopin und Robert Schu
mann ob ihrer feinen, geistreichen Beobachtungen besonders
hervorzuheben. Fünf von den in Ehlert’s Buch enthaltenen
Essays beschäftigen sich mit Richard Wagner. Das Be
streben, gerecht und unbefangen zu sein, muß ich Ehlert’s Be
richten aus Bayreuth nachrühmen, wenn mir auch für mein
Theil das Glaubensbekenntniß F. Hiller’s über Wagner’s
„Nibelungen“ sympathischer ist. „Wer weiß,“ schreibt Hiller
an seine Ungenannte, „ob Sie nicht eines Tages doch nach
Bayreuth wandern werden, verehrte Freundin, wenn auch
nur aus der gerechtfertigtesten Neugierde. Was mich betrifft,
so ist meine tiefinnerste Abneigung gegen eine derartige Dich
tung so unüberwindlich, daß ich, wenn der liebe Gott in
eigener Person zu mir käme, um mich eines Besseren zu be
lehren, zu ihm sagen würde: „Allen Respect, lieber Papa
— aber diesmal bist du im Irrthum.“