Oper und Concert.
Ed. H. Die italienische Sängergesellschaft, welche vor
vier Wochen in den verwaisten Räumen der Komischen Oper
zu gastiren begonnen, hat dieses Wagestück gestern beendet.
Von dem Resultate der Unternehmung wird Herr Impre
sario Morini wenig entzückt gewesen sein, etwa ebenso viel,
wie wir von den Vorstellungen selbst. Das Gastspiel der
Morini’schen Truppe in Wien war ein großer Irrthum,
entsprungen aus einem vollständigen Verkennen der hiesigen
Verhältnisse. Eine italienische Opern-Unternehmung mit so
mäßigen Kräften und so uninteressantem Repertoire kann
unserem, an das Beste gewöhnten und verwöhnten Publicum
unmöglich genügen. Die Gesellschaft besitzt eine einzige glän
zende Stimme: die des Heldentenors Fernando, die
wenigstens durch die sinnliche Schönheit und Gewalt fesselt.
Dieses beneidenswerthe Material entbehrt aber derzeit noch der
künstlerischen Ausbildung. Auch jenes dramatische Feuer, das uns
bei manchem talentvollen Naturalisten die Mängel der
Gesangstechnik vergessen läßt, fehlt diesem steif und gleich
giltig dreinschauenden Tenor. Eine glänzende Stimme nannten
wir Herrn Fernando, nicht aber einen guten Sänger. Letzterer
fängt ganz eigentlich da an, wo Fernando aufhört. Wem
genügt auf die Dauer die prächtigste Stimme, wenn sie ohne
dramatische Beseelung und unter dem Druck eines zur zweiten
Natur gewordenen Tremolirens dahinströmt? Von den übrigen
Mitgliedern sind die besten (wie die Primadonna Giuliani,
die Altistin Cestarelli, der Bariton Marziali und der
Baßbuffo Scheggi) anständige, brauchbare Künstler. Den
Rest kann selbst die Nachsicht nicht als „genügend“ bezeichnen.
Die desperate Besetzung des „Barbier von Sevilla“ in den
drei Hauptrollen (Rosina, Figaro, Almaviva) bewies schon
sie sich allein, welche Illusionen über das Wiener Publicum
der italienische Impresario mitgebracht hatte. An Rücksicht
und Nachsicht fehlt es in solchen Fällen niemals in Wien;
weder beim Publicum noch bei der Kritik. Selbst diese Zeilen
haben den Augenblick abgewartet, wo sie den Geschäften des
Herrn Morini nicht mehr schaden können. Man fühlt bei
uns gleich eine menschliche Theilnahme für Künstler, die vor
leeren Bänken gastiren, und den Maßstab einer Patti- und
Lucca-Stagione des Hofoperntheaters legt hier Niemand
an ein Privat-Unternehmen Morini’s. Aber auch in Wien
will der Mensch — der zahlende wie der kritisirende —
wenigstens ein bescheidenes Vergnügen im Theater finden,
und der Impresario, der auch dies nicht bietet, muß sich
seinen Schaden besehen. Es bleibt nur zu verwundern, daß
noch Keiner aus dem Schaden seiner Vorgänger klug geworden.
Mit dem veralteten, abgeleierten „Otello“ wurde das Gast
spiel begonnen, mit dem noch langweiligeren „Poliuto“ ward
es beschlossen. Warum nicht auch noch „Tancredi“, „Beatrice
di Tenda“, „Il Giuramento“, „Anna Bolena“, „Marino
Faliero“? Die vor-Verdi’sche Opera seria ist bis auf vier
oder fünf Werke für uns rettungslos abgestorben; wir wür
den kaum noch die Musik der einen von den übrigen unter
scheiden. Im Gegensatze zur Goethe-Schiller’schen Sentenz:
„Keiner sei gleich dem Andern, doch gleich sei Jeder dem
Höchsten“, gilt den italienischen Tragödien-Componisten offen
bar als Wahlspruch: „Keiner sei gleich dem Höchsten, doch
gleich sei Jeder dem Andern!“ Rossini’s „Otello“ kann
heute nur durch einen Verein größter Gesangskünstler theil
weise wirken. Donizetti’s „Poliuto“ hat aber nicht ein
mal die glänzende Vergangenheit „Otello’s“. Diese Oper ist
als „Poliuto“ in Italien, als „Les Martyrs“ in Paris, als
„Die Römer vor Melitone“ in Wien ohne Erfolg ge
blieben, wie konnte man heute an eine Wiederbelebung
dieser singenden Mumie denken? In gewissem Sinne inter
essant wird sie erst wieder im nächsten Sommer werden:
durch die Vergleichung mit Gounod’s neuer, für die Welt
ausstellungs-Saison bestimmter Oper „Polyeucte“. Gounod hat
seinen Stoff aus derselben Quelle wie Donizetti geschöpft: aus Cor
neille’s berühmter Tragödie „Polyeucte“; ohne Zweifel dürften
in der religiösen Schwärmerei Gounod’s die „Märtyrer“ einen
tieferen Widerhall gefunden haben, als in dem heiteren
Sinne des Autors von „Don Pasquale“. Mit dem stereo
typen italienischen Repertoire können in Wien nur noch
Sterne erster Größe, nicht aber mittlere Kräfte ein Publi
cum anziehen. Wir möchten dies als Warnung für alle
künftigen Morinis laut in die Welt hinausrufen, zugleich
aber einen kleinen positiven Vorschlag zu einigem Troste bei
fügen. Es gibt noch eine Chance für ein gutes Opern-
Ensemble auch ohne „Sterne“; die Auffrischung des Reper
toires. Kann man nicht durch interessante Sänger das Publi
cum zu uninteressanten Opern ziehen, so versuche man es
umgekehrt. Seit zehn bis fünfzehn Jahren feiert man in
Italien eine Anzahl von jüngeren Opern-Componisten, von
denen bei uns noch keine Note bekannt wurde. Wir kennen
von dem ganzen jungen Italien nur Verdi, der die
Uebrigen freilich mächtig überglänzt. Aber Opern wie „Ruy
Blas“, von Marchetti, der seit 1869 über zweitausend
Vorstellungen erlebt haben soll, wie die „Promessi
sposi“, von Ponchielli, „Guarany“, von Gomez,
„I Goti“, von Gobatti, „Mefistofele“, von Boito,
und andere würden unserem Publicum gewiß als
interessante vielbesprochene Novitäten willkommen sein.
Wir selbst hegen keine großen Erwartungen von diesen
Werken, aber gleichviel; es handelt sich nicht um eine
Adoption, sondern um eine flüchtige Bekanntschaft. Und diese
Bekanntschaft neuer Opern wird uns jedenfalls mehr an
locken, als die mittelmäßige Darstellung von tausendmal ge
hörtem Zeug. Zu diesen Novitäten müßten sich einige von
den Buffo-Opern des älteren Repertoires gesellen, die jetzt
wieder ihre unverwüstliche Jugendkraft auf den Bühnen von
Florenz, Neapel etc. bewähren. Von Cimarosa gibt man
in Italien und in Paris außer dem „Matrimonio segreto“
die köstliche Posse: „Le Astuzie femminili“ und manche
kleinere, leicht auszuführende Opera buffa. Daß Pergolese’s
geniales Intermezzo „La serva Padrona“, ein Markstein in
der Geschichte der Oper, in Wien von keiner italienischen
Truppe gegeben wird, gehört zum Unbegreiflichen. Wir
wünschen längst es in einer Akademie von Rokitansky
und der Tagliana — italienisch — aufgeführt zu sehen.
Ueberhaupt thäte jede italienische Truppe zweiten Ranges
wohl daran, ihren Schwerpunkt in der Opera buffa zu suchen.
In diesem Fache zeigt sich der italienische National-Charakter
am eigenthümlichsten und liebenswürdigsten; auch hat man
bei einem Publicum, das sich erheitern will, weit geringere
Ansprüche zu fürchten. Von den Vorstellungen der Morini’
schen Truppe hat uns deßhalb die komische Oper „Crispino
e la Comare“ verhältnißmäßig am meisten befriedigt, so
defect auch die Vorstellung, insbesondere weiblicherseits, war.
Der Componist des „Crispino“ hat doch noch die Courage,
herzhaft lustig zu sein; seine Musik — etwas mehr oder
weniger trivial — ist doch volksthümlich in den Figuren und
in den Melodien. Die Scenen des Schusters und seiner Frau
im ersten Act und das Terzett der drei streitenden Aerzte
im dritten sind noch echte italienische Buffo-Musik, wie sie
Rossini schrieb, der letzte große Buffo-Componist und ein
zige ganz italienische Italiener. Nach ihm sind nur die Brü
der Ricci noch eine allerletzte schwächere Incarnation der
echten Opera buffa. Die Brüder Luigi und Federigo Ricci
haben außer „Crispino e la Comare“ noch eine Anzahl
komischer Opern gemeinschaftlich componirt. Sie waren zu
sammen im Conservatorium von Neapel erzogen und hingen
mit rührender Zärtlichkeit aneinander. Da sie Niemanden
in das Geheimniß ihrer Arbeitstheilung eingeweiht hatten,
konnte man niemals sagen, welche Musikstücke von dem einen,
welche von dem andern Bruder herrührten. Fragte man
Federigo, so antwortete er, daß alles Gute in der Partitur
von Luigi herrühre, und Luigi versicherte, die gelungensten
Musikstücke habe sämmtlich Federigo componirt. Federigo,
der Jüngere, starb im December 1851 im Postwagen zwi
schen Warschau und Petersburg, mitten im Gespräch mit
einem russischen General, der ihn eingeschlafen wähnte, vom
Schlage getroffen. Luigi hatte ein langsameres, traurigeres
Ende: er verfiel dem Schicksal Donizetti’s, seines Vorbildes
und Landsmannes, und starb im Irrenhaus zu Prag1860.
Seitdem scheint die Opera buffa in Italien vollends abge
storben. Wird noch einmal ein Rossini kommen, sie mit
seinem himmlischen Gelächter zu wecken?
Wir haben einen milden Winter und bis heute — un
berufen — eine milde Concertsaison. Verhältnißmäßig am
strengsten zeigte sich die verflossene Woche. Eine gelungene
Aufführung von Haydn’s „Jahreszeiten“, glänzend durch die
Leistungen der Solisten Frau Wilt, Rokitansky und
Vogl (aus München), machte den Anfang. Hat man das
Werk eine zeitlang nicht gehört, so staunt man über die
gesunde Genialität dieser Musik, insbesondere der beiden
letzten Theile, Herbst und Winter. Ihre Krapft gipfelt in
der Schilderung der Jagd und des Winterfestes — Pracht
stücke von ganz moderner Färbung, welche den merkwürdigen
Einfluß des jungen Mozart auf den alten Haydn verkünden.
Zur Strafe für seinen schönen Vortrag Haydn’scher Musik
mußte Herr Vogl Tags darauf zu einer Concertaufführung
des dritten Actes von Wagner’s „Tristan und Isolde“ her
halten und in Frack und Glacéhandschuhen den sterbenden
Tristan aus dem Notenblatt absingen. Eine solche
Aufführung Wagner’scher Opernmusik bei Clavierbeglei
tung im Concertsaal ist der pure Dilettantismus
und nur geeignet, dem unvorbereiteten Publicum eine
falsche Meinung davon beizubringen. Eine vollständige
Aufführung dieser Oper im Hofoperntheater haben wir,
ohne persönliche Schwärmerei dafür, in diesen Blättern
wiederholt angeregt und namentlich Herbeck’s Idee unter
stützt, für die beiden Hauptrollen das Ehepaar Vogl (zur
Schonung unseres eigenen Personals) aus München einzu
laden. Clavierhinrichtungen, wie diese von unserem Wagner-
Verein an „Tristan“ vollstreckte, sollten jedoch — wie gegen
wärtig alle Hinrichtungen — nur mit Ausschluß des Publicums
stattfinden, im engsten Privatkreise musikalischer Faust-Jüng
linge, welche — „ein Strumpfband meine Liebeslust!“ —
jede Wagner-Reliquie anbetend ans Herz drücken.
Von Hellmesberger’s Quartett-Soiréen haben
die beiden ersten vor einem sehr zahlreichen Publicum unter
großem Applaus stattgefunden. Letzterer galt offenbar mehr
dem trefflichen Spiele Hellmesberger’s, als den von ihm ge
wählten Novitäten. Das vorausverkündete „Genie“ haben
wir in dem italienischen Componisten G. Sgambati nicht
entdecken können, so sehr er sich bemüht, in seinem
„Piano-Quintett“ genial auszusehen und den Mangel
an großen Ideen durch interessante kleine Scheußlichkeiten
zu verdecken. Sgambati soll in engeren Zukunftskreisen
als Arrangeur Liszt’scher Orchesterwerke respectirt sein; wir
haben in Wien niemals von ihm gehört. So lag denn
weder in dem Namen des Componisten, noch in dem Werth
seiner Arbeit eine Rechtfertigung der ihm erwiesenen unver
dienten Ehre, den diesjährigen Quartetten-Cyklus zu eröff
nen. Anders verhält es sich mit Anton Rubinstein,
dessen Name und Talent die Wahl selbst seiner schwächeren
Novitäten unterstützen. Sein neues Clavier-Quintett
(G-moll, Op. 99) hat uns abwechselnd interessirt und ge
langweilt, entzückt in keinem Falle. An einzelnen kühnen,
geistvollen Einfällen fehlt es nicht, auch nicht an brillanten
Clavier-Effecten — doch kommen sie in diesem unmäßig
langen Quintett spärlicher als sonst und sind umgeben von
weiten, wüsten Strecken, auf denen nichts gedeihen will. Zu
der Länge des Stückes gesellt sich dessen sonderbare Ein
färbigkeit, alle vier Sätze gehen „moderato“. Wie gewöhn
lich bei Rubinstein, ist der erste Satz der beste; bei gerin
gem melodischen Reiz hat er doch am meisten Zusammen
hang und Charakter. Der zweite Satz, der wahrscheinlich
das Scherzo vorstellt, hebt mit einem geheimnißvollen Stac
cato (unisono) der Streich-Instrumente an, welchem am Ende
jedes vierten Tactes das Clavier ein kurzes, kitzelndes
Tremolo anhängt — es klingt, als wollte Jemand
mit gespenstischen Grimassen kleine Kinder erschrecken.
Ein gesangvoller Mittelsatz von wirksamer, aber keineswegs
neuer Melodie der Streich-Instrumente über Clavier-
Arpeggien ist die effectvollste Stelle nicht nur dieses Satzes,
sondern des ganzen Quintetts. Die beiden letzten Sätze
strecken sich unerquicklich wie eine baumlose Steppe dahin,
ein Stückchen russisches Volkslied im Finale macht die Sache
nur noch verdrießlicher. Kurz, wir finden in dem Quintett
wenig von Rubinstein’s früherer Erfindungskraft und Frische
wieder, es wären denn eben flüchtige Reminiscenzen an
Aelteres; das Ganze klingt müde, kalt, gekünstelt und kann
bei seiner großen Länge und geringem Ideengehalt nur ab
spannend wirken. Herr A. Grünfeld spielte den mehr
schwierigen als dankbaren Clavierpart mit eminenter Bra
vour. Ein überaus wohlthuendes Gegenstück ward uns in
Brahms’B-dur-Sextett geboten, das nicht nur in Deutsch
land, sondern auch schon in Frankreich und England ein
Lieblingsstück des musikalisch gebildeten Publicums geworden
ist. Es fand nach jedem Satze rauschenden Applaus, obgleich
der Vortrag, kühl und wenig nuancirt, gegen frühe Auf
führungen desselben Werkes merklich zurückstand.
Auch das dritte Philharmonische Concert
brachte eine Novität, und zwar von einem jungen Wiener
Componisten und preisgekrönten Zögling des hiesigen Conser
vatoriums: Hugo Reinhold. Seine Composition, eine
fünfsätzige Suite für Clavier und Streichorchester, ist ein
freundliches, vielversprechendes Werk, das Werk eines feinen,
über noch unselbstständigen, unentwickelten Talentes. Der An
fänger verräth sich gleich im ersten Satze durch das Ver
gnügen, das es ihm macht, möglichst viele und frappante
Modulationen anzubringen, ferner durch das Unvermittelte
und Musivische der Form, endlich durch seine entschiedene
Abhängigkeit von Schumann. Das Detail erscheint ihm wich
tiger als die eigentlichen leitenden Ideen; er ist auch glück
licher in jenem, als in diesen. Herr Hugo Reinhold
wurde nach jedem Satz seiner Suite gerufen und am
Schlusse wiederholt mit Herrn Epstein, dessen reizendes
Spiel nicht wenig zu dem entschiedenen Erfolg der Novität
beitrug. Eine dem Publicum sehr willkommene Neuerung war
diesmal die Unterbrechung der Orchester-Nummern durch
Gesangsvorträge. Allerdings erscheinen für diese Concerte
Arien mit Orchesterbegleitung viel passender, als Lieder —
wenn uns aber Lieder geboten werden wie die neuesten von
Brahms, und Liedersänger wie Walter, dann schweigt
jedes Bedenken und klopft vergnüglich jedes Herz. Außer der
bekannten „Mainacht“ sang Herr Walter mit seelenvollem,
einschmeichelndstem Vortrag: „Geheimniß“, „Im Garten“
und „Minnelied“ (aus Op. 70 und 71 von Brahms). Für
den schönsten dieser edlen, tief empfundenen Gesänge halten
wir das „Minnelied“, mit dem ein Tenorist wie Walter alle
Herzen erobern muß. Den Anfang des Concertes machte die
trefflich ausgeführte Leonoren-Ouvertüre Nr. 1 von Beet
hoven, den Schluß Schumann’sEs-dur-Symphonie.
Versprochen war für dieses Concert Brahms’ neue Sym
phonie. Gründe für deren Zurücklegung setzen wir ohne
weiters voraus, wenn wir sie auch nicht kennen. Aber
dringend zu wünschen bleibt es, daß die Unsitte des Nicht
worthaltens sich nicht auch in die Programme der Phil
harmoniker einschleiche.