Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 4775. Wien, Dienstag, den 11. December 1877 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Sanz-Lázaro, Fernando Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2026

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Nr. 4775. Wien, Dienstag, den 11. December 1877 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien
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Oper und Concert.

Ed. H. Die italienische Sängergesellschaft, welche vor vier Wochen in den verwaisten Räumen der Komischen Oper zu gastiren begonnen, hat dieses Wagestück gestern beendet. Von dem Resultate der Unternehmung wird Herr Impre sario Morini wenig entzückt gewesen sein, etwa ebenso viel, wie wir von den Vorstellungen selbst. Das Gastspiel der Morini’schen Truppe in Wien war ein großer Irrthum, entsprungen aus einem vollständigen Verkennen der hiesigen Verhältnisse. Eine italienische Opern-Unternehmung mit so mäßigen Kräften und so uninteressantem Repertoire kann unserem, an das Beste gewöhnten und verwöhnten Publicum unmöglich genügen. Die Gesellschaft besitzt eine einzige glän zende Stimme: die des Heldentenors Fernando, die wenigstens durch die sinnliche Schönheit und Gewalt fesselt. Dieses beneidenswerthe Material entbehrt aber derzeit noch der künstlerischen Ausbildung. Auch jenes dramatische Feuer, das uns bei manchem talentvollen Naturalisten die Mängel der Gesangstechnik vergessen läßt, fehlt diesem steif und gleich giltig dreinschauenden Tenor. Eine glänzende Stimme nannten wir Herrn Fernando, nicht aber einen guten Sänger. Letzterer fängt ganz eigentlich da an, wo Fernando aufhört. Wem genügt auf die Dauer die prächtigste Stimme, wenn sie ohne dramatische Beseelung und unter dem Druck eines zur zweiten Natur gewordenen Tremolirens dahinströmt? Von den übrigen Mitgliedern sind die besten (wie die Primadonna Giuliani, die Altistin Cestarelli, der Bariton Marziali und der Baßbuffo Scheggi) anständige, brauchbare Künstler. Den Rest kann selbst die Nachsicht nicht als „genügend“ bezeichnen. Die desperate Besetzung des „Barbier von Sevilla“ in den drei Hauptrollen (Rosina, Figaro, Almaviva) bewies schon sie sich allein, welche Illusionen über das Wiener Publicum der italienische Impresario mitgebracht hatte. An Rücksicht und Nachsicht fehlt es in solchen Fällen niemals in Wien; weder beim Publicum noch bei der Kritik. Selbst diese Zeilen haben den Augenblick abgewartet, wo sie den Geschäften des Herrn Morini nicht mehr schaden können. Man fühlt bei

uns gleich eine menschliche Theilnahme für Künstler, die vor leeren Bänken gastiren, und den Maßstab einer Patti- und Lucca-Stagione des Hofoperntheaters legt hier Niemand an ein Privat-Unternehmen Morini’s. Aber auch in Wien will der Mensch — der zahlende wie der kritisirende — wenigstens ein bescheidenes Vergnügen im Theater finden, und der Impresario, der auch dies nicht bietet, muß sich seinen Schaden besehen. Es bleibt nur zu verwundern, daß noch Keiner aus dem Schaden seiner Vorgänger klug geworden. Mit dem veralteten, abgeleierten „Otello“ wurde das Gast spiel begonnen, mit dem noch langweiligeren „Poliuto“ ward es beschlossen. Warum nicht auch noch „Tancredi“, „Beatrice di Tenda“, „Il Giuramento“, „Anna Bolena“, „Marino Faliero“? Die vor-Verdi’sche Opera seria ist bis auf vier oder fünf Werke für uns rettungslos abgestorben; wir wür den kaum noch die Musik der einen von den übrigen unter scheiden. Im Gegensatze zur Goethe-Schiller’schen Sentenz: „Keiner sei gleich dem Andern, doch gleich sei Jeder dem Höchsten“, gilt den italienischen Tragödien-Componisten offen bar als Wahlspruch: „Keiner sei gleich dem Höchsten, doch gleich sei Jeder dem Andern!“ Rossini’sOtello“ kann heute nur durch einen Verein größter Gesangskünstler theil weise wirken. Donizetti’sPoliuto“ hat aber nicht ein mal die glänzende Vergangenheit „Otello’s“. Diese Oper ist als „Poliuto“ in Italien, als „Les Martyrs“ in Paris, als Die Römer vor Melitone“ in Wien ohne Erfolg ge blieben, wie konnte man heute an eine Wiederbelebung dieser singenden Mumie denken? In gewissem Sinne inter essant wird sie erst wieder im nächsten Sommer werden: durch die Vergleichung mit Gounod’s neuer, für die Welt ausstellungs-Saison bestimmter Oper „Polyeucte“. Gounod hat seinen Stoff aus derselben Quelle wie Donizetti geschöpft: aus Cor neille’s berühmter Tragödie „Polyeucte“; ohne Zweifel dürften in der religiösen Schwärmerei Gounod’s die „Märtyrer“ einen tieferen Widerhall gefunden haben, als in dem heiteren Sinne des Autors von „Don Pasquale“. Mit dem stereo typen italienischen Repertoire können in Wien nur noch Sterne erster Größe, nicht aber mittlere Kräfte ein Publi cum anziehen. Wir möchten dies als Warnung für alle künftigen Morinis laut in die Welt hinausrufen, zugleich

aber einen kleinen positiven Vorschlag zu einigem Troste bei fügen. Es gibt noch eine Chance für ein gutes Opern- Ensemble auch ohne „Sterne“; die Auffrischung des Reper toires. Kann man nicht durch interessante Sänger das Publi cum zu uninteressanten Opern ziehen, so versuche man es umgekehrt. Seit zehn bis fünfzehn Jahren feiert man in Italien eine Anzahl von jüngeren Opern-Componisten, von denen bei uns noch keine Note bekannt wurde. Wir kennen von dem ganzen jungen Italien nur Verdi, der die Uebrigen freilich mächtig überglänzt. Aber Opern wie „Ruy Blas“, von Marchetti, der seit 1869 über zweitausend Vorstellungen erlebt haben soll, wie die „Promessi sposi“, von Ponchielli, „Guarany“, von Gomez, I Goti“, von Gobatti, „Mefistofele“, von Boito, und andere würden unserem Publicum gewiß als interessante vielbesprochene Novitäten willkommen sein. Wir selbst hegen keine großen Erwartungen von diesen Werken, aber gleichviel; es handelt sich nicht um eine Adoption, sondern um eine flüchtige Bekanntschaft. Und diese Bekanntschaft neuer Opern wird uns jedenfalls mehr an locken, als die mittelmäßige Darstellung von tausendmal ge hörtem Zeug. Zu diesen Novitäten müßten sich einige von den Buffo-Opern des älteren Repertoires gesellen, die jetzt wieder ihre unverwüstliche Jugendkraft auf den Bühnen von Florenz, Neapel etc. bewähren. Von Cimarosa gibt man in Italien und in Paris außer dem „Matrimonio segretodie köstliche Posse: „Le Astuzie femminili“ und manche kleinere, leicht auszuführende Opera buffa. Daß Pergolese’s geniales Intermezzo „La serva Padrona“, ein Markstein in der Geschichte der Oper, in Wien von keiner italienischen Truppe gegeben wird, gehört zum Unbegreiflichen. Wir wünschen längst es in einer Akademie von Rokitansky und der Taglianaitalienisch — aufgeführt zu sehen. Ueberhaupt thäte jede italienische Truppe zweiten Ranges wohl daran, ihren Schwerpunkt in der Opera buffa zu suchen. In diesem Fache zeigt sich der italienische National-Charakter am eigenthümlichsten und liebenswürdigsten; auch hat man bei einem Publicum, das sich erheitern will, weit geringere Ansprüche zu fürchten. Von den Vorstellungen der Morinischen Truppe hat uns deßhalb die komische Oper „Crispino

e la Comare“ verhältnißmäßig am meisten befriedigt, so defect auch die Vorstellung, insbesondere weiblicherseits, war. Der Componist des „Crispino“ hat doch noch die Courage, herzhaft lustig zu sein; seine Musik — etwas mehr oder weniger trivial — ist doch volksthümlich in den Figuren und in den Melodien. Die Scenen des Schusters und seiner Frau im ersten Act und das Terzett der drei streitenden Aerzte im dritten sind noch echte italienische Buffo-Musik, wie sie Rossini schrieb, der letzte große Buffo-Componist und ein zige ganz italienische Italiener. Nach ihm sind nur die Brü der Ricci noch eine allerletzte schwächere Incarnation der echten Opera buffa. Die Brüder Luigi und Federigo Ricci haben außer „Crispino e la Comare“ noch eine Anzahl komischer Opern gemeinschaftlich componirt. Sie waren zu sammen im Conservatorium von Neapel erzogen und hingen mit rührender Zärtlichkeit aneinander. Da sie Niemanden in das Geheimniß ihrer Arbeitstheilung eingeweiht hatten, konnte man niemals sagen, welche Musikstücke von dem einen, welche von dem andern Bruder herrührten. Fragte man Federigo, so antwortete er, daß alles Gute in der Partitur von Luigi herrühre, und Luigi versicherte, die gelungensten Musikstücke habe sämmtlich Federigo componirt. Federigo, der Jüngere, starb im December 1851 im Postwagen zwi schen Warschau und Petersburg, mitten im Gespräch mit einem russischen General, der ihn eingeschlafen wähnte, vom Schlage getroffen. Luigi hatte ein langsameres, traurigeres Ende: er verfiel dem Schicksal Donizetti’s, seines Vorbildes und Landsmannes, und starb im Irrenhaus zu Prag1860. Seitdem scheint die Opera buffa in Italien vollends abge storben. Wird noch einmal ein Rossini kommen, sie mit seinem himmlischen Gelächter zu wecken?

Wir haben einen milden Winter und bis heute — un berufen — eine milde Concertsaison. Verhältnißmäßig am strengsten zeigte sich die verflossene Woche. Eine gelungene Aufführung von Haydn’s „Jahreszeiten“, glänzend durch die Leistungen der Solisten Frau Wilt, Rokitansky und Vogl (aus München), machte den Anfang. Hat man das Werk eine zeitlang nicht gehört, so staunt man über die gesunde Genialität dieser Musik, insbesondere der beiden

letzten Theile, Herbst und Winter. Ihre Krapft gipfelt in der Schilderung der Jagd und des Winterfestes — Pracht stücke von ganz moderner Färbung, welche den merkwürdigen Einfluß des jungen Mozart auf den alten Haydn verkünden. Zur Strafe für seinen schönen Vortrag Haydn’scher Musik mußte Herr Vogl Tags darauf zu einer Concertaufführung des dritten Actes von Wagner’s „Tristan und Isolde“ her halten und in Frack und Glacéhandschuhen den sterbenden Tristan aus dem Notenblatt absingen. Eine solche Aufführung Wagner’scher Opernmusik bei Clavierbeglei tung im Concertsaal ist der pure Dilettantismus und nur geeignet, dem unvorbereiteten Publicum eine falsche Meinung davon beizubringen. Eine vollständige Aufführung dieser Oper im Hofoperntheater haben wir, ohne persönliche Schwärmerei dafür, in diesen Blättern wiederholt angeregt und namentlich Herbeck’s Idee unter stützt, für die beiden Hauptrollen das Ehepaar Vogl (zur Schonung unseres eigenen Personals) aus München einzu laden. Clavierhinrichtungen, wie diese von unserem Wagner- Verein an „Tristan“ vollstreckte, sollten jedoch — wie gegen wärtig alle Hinrichtungen — nur mit Ausschluß des Publicums stattfinden, im engsten Privatkreise musikalischer Faust-Jüng linge, welche — „ein Strumpfband meine Liebeslust!“ — jede Wagner-Reliquie anbetend ans Herz drücken.

Von Hellmesberger’s Quartett-Soiréen haben die beiden ersten vor einem sehr zahlreichen Publicum unter großem Applaus stattgefunden. Letzterer galt offenbar mehr dem trefflichen Spiele Hellmesberger’s, als den von ihm ge wählten Novitäten. Das vorausverkündete „Genie“ haben wir in dem italienischen Componisten G. Sgambati nicht entdecken können, so sehr er sich bemüht, in seinem Piano-Quintett“ genial auszusehen und den Mangel an großen Ideen durch interessante kleine Scheußlichkeiten zu verdecken. Sgambati soll in engeren Zukunftskreisen als Arrangeur Liszt’scher Orchesterwerke respectirt sein; wir haben in Wien niemals von ihm gehört. So lag denn weder in dem Namen des Componisten, noch in dem Werth seiner Arbeit eine Rechtfertigung der ihm erwiesenen unver dienten Ehre, den diesjährigen Quartetten-Cyklus zu eröff

nen. Anders verhält es sich mit Anton Rubinstein, dessen Name und Talent die Wahl selbst seiner schwächeren Novitäten unterstützen. Sein neues Clavier-Quintett (G-moll, Op. 99) hat uns abwechselnd interessirt und ge langweilt, entzückt in keinem Falle. An einzelnen kühnen, geistvollen Einfällen fehlt es nicht, auch nicht an brillanten Clavier-Effecten — doch kommen sie in diesem unmäßig langen Quintett spärlicher als sonst und sind umgeben von weiten, wüsten Strecken, auf denen nichts gedeihen will. Zu der Länge des Stückes gesellt sich dessen sonderbare Ein färbigkeit, alle vier Sätze gehen „moderato“. Wie gewöhn lich bei Rubinstein, ist der erste Satz der beste; bei gerin gem melodischen Reiz hat er doch am meisten Zusammen hang und Charakter. Der zweite Satz, der wahrscheinlich das Scherzo vorstellt, hebt mit einem geheimnißvollen Stac cato (unisono) der Streich-Instrumente an, welchem am Ende jedes vierten Tactes das Clavier ein kurzes, kitzelndes Tremolo anhängt — es klingt, als wollte Jemand mit gespenstischen Grimassen kleine Kinder erschrecken. Ein gesangvoller Mittelsatz von wirksamer, aber keineswegs neuer Melodie der Streich-Instrumente über Clavier- Arpeggien ist die effectvollste Stelle nicht nur dieses Satzes, sondern des ganzen Quintetts. Die beiden letzten Sätze strecken sich unerquicklich wie eine baumlose Steppe dahin, ein Stückchen russisches Volkslied im Finale macht die Sache nur noch verdrießlicher. Kurz, wir finden in dem Quintett wenig von Rubinstein’s früherer Erfindungskraft und Frische wieder, es wären denn eben flüchtige Reminiscenzen an Aelteres; das Ganze klingt müde, kalt, gekünstelt und kann bei seiner großen Länge und geringem Ideengehalt nur ab spannend wirken. Herr A. Grünfeld spielte den mehr schwierigen als dankbaren Clavierpart mit eminenter Bra vour. Ein überaus wohlthuendes Gegenstück ward uns in BrahmsB-dur-Sextett geboten, das nicht nur in Deutsch land, sondern auch schon in Frankreich und England ein Lieblingsstück des musikalisch gebildeten Publicums geworden ist. Es fand nach jedem Satze rauschenden Applaus, obgleich der Vortrag, kühl und wenig nuancirt, gegen frühe Auf führungen desselben Werkes merklich zurückstand.

Auch das dritte Philharmonische Concert brachte eine Novität, und zwar von einem jungen Wiener Componisten und preisgekrönten Zögling des hiesigen Conser vatoriums: Hugo Reinhold. Seine Composition, eine fünfsätzige Suite für Clavier und Streichorchester, ist ein freundliches, vielversprechendes Werk, das Werk eines feinen, über noch unselbstständigen, unentwickelten Talentes. Der An fänger verräth sich gleich im ersten Satze durch das Ver gnügen, das es ihm macht, möglichst viele und frappante Modulationen anzubringen, ferner durch das Unvermittelte und Musivische der Form, endlich durch seine entschiedene Abhängigkeit von Schumann. Das Detail erscheint ihm wich tiger als die eigentlichen leitenden Ideen; er ist auch glück licher in jenem, als in diesen. Herr Hugo Reinhold wurde nach jedem Satz seiner Suite gerufen und am Schlusse wiederholt mit Herrn Epstein, dessen reizendes Spiel nicht wenig zu dem entschiedenen Erfolg der Novität beitrug. Eine dem Publicum sehr willkommene Neuerung war diesmal die Unterbrechung der Orchester-Nummern durch Gesangsvorträge. Allerdings erscheinen für diese Concerte Arien mit Orchesterbegleitung viel passender, als Lieder — wenn uns aber Lieder geboten werden wie die neuesten von Brahms, und Liedersänger wie Walter, dann schweigt jedes Bedenken und klopft vergnüglich jedes Herz. Außer der bekannten „Mainacht“ sang Herr Walter mit seelenvollem, einschmeichelndstem Vortrag: „Geheimniß“, „Im Gartenund „Minnelied“ (aus Op. 70 und 71 von Brahms). Für den schönsten dieser edlen, tief empfundenen Gesänge halten wir das „Minnelied“, mit dem ein Tenorist wie Walter alle Herzen erobern muß. Den Anfang des Concertes machte die trefflich ausgeführte Leonoren-Ouvertüre Nr. 1 von Beet hoven, den Schluß Schumann’sEs-dur-Symphonie. Versprochen war für dieses Concert Brahms’ neue Sym phonie. Gründe für deren Zurücklegung setzen wir ohne weiters voraus, wenn wir sie auch nicht kennen. Aber dringend zu wünschen bleibt es, daß die Unsitte des Nicht worthaltens sich nicht auch in die Programme der Phil harmoniker einschleiche.