Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 8446. Wien, Mittwoch, den 29. Februar 1888 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 8446. Wien, Mittwoch, den 29. Februar 1888 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.02.1888
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Concerte.

Ed H. Wenn einem Sänger plötzlich die Stimme ver sagt, dem Pianisten eine Taste stecken bleibt oder dem Violin- Virtuosen eine Saite springt — so geschieht dies bekanntlich fast immer in dem wichtigsten Tact, an der allerfatalsten Stelle. Genau so pflegt es uns auch im Leben zu gehen mit allerhand Mißgeschicken, die uns zumeist dadurch ärgern, daß sie zu ihrem Besuche sich den allerunpassendsten Moment aus wählen. Ein achttägiges Unwohlsein hätte ich zu anderer Zeit mit christlicher Ergebung getragen, wo es mich etwa von acht jugendlichen Clavier-Productionen absperren konnte; leider besuchte mich der Unhold gerade, als im Gesellschaftsconcert Stücke aus Schubert’sFierrabras“ — eine Schwärmerei von mir — und ein neues großes Werk von Dvořak, sein „Stabat mater“, zur ersten Aufführung gelangten. Das traf doppelt schmerzlich. Der Genuß des Zuhörens läßt sich leider nicht übertragen, zur Noth aber die Pflicht des Bericht erstattens. Daß unser Blatt sich nicht in Schweigen zu hüllen braucht über das erwähnte Mittagsconcert, verdanken wir der Gefälligkeit des Herrn Eusebius Mandyczewski, der uns mit nachstehendem Berichte hilfreich beigesprungen ist.

Im letzten Gesellschaftsconcerte haben einzelne Theile aus der Oper „Fierrabras“ von Franz Schubert einen sehr günstigen Eindruck gemacht und viel Beifall gefunden. Diese Oper ist erst vor kurzer Zeit gedruckt worden und bei Breitkopf & Härtel in der neuen Gesammt-Ausgabe der Werke von Schubert erschienen. Die wenigen zur Aufführung gelangten Nummern — die Ouvertüre, eine lyrische und eine dramatische Arie und der Einzugsmarsch mit Chor — ließen den Wunsch rege werden, auch größeren Theilen Schubertscher Opern im Concertsaale zu begegnen, zumal denselben die Bühnen doch versperrt bleiben. Die Partitur des Fierrabras“ liefert allein schon eine reiche Ausbeute. Ur sprünglich standen auch noch ein leidenschaftlich bewegtes Terzett mit doppeltem Männerchor und ein Chor der Ritter auf dem Programm des Gesellschaftsconcertes. Sie konnten aber, wie verlautet, aus Gründen, die dem männlichen Theile unseres

Singvereins durchaus nicht zur Ehre gereichen, nicht zur Ausführung kommen. Herr Walter sang das Ständchen Eginhard’s, wie er jede lyrische Arie singt, unübertrefflich; für die stürmische Arie der Florinde reichte Fräulein For ster’s zarte Stimme leider nicht ganz aus. Den nachhaltig sten Eindruck machte der erwähnte Chor, in welchem abwech selnd Männer und Frauen ihrer herzlichen Festesfreude in natürlichen, echt österreichischen Rhythmen ungezwungenen Aus druck geben.

Den Fierrabras-Fragmenten folgte eine vollständige Auf führung von Anton Dvořak’s „Stabat mater“. In seiner thränenreichen Eintönigkeit bildet dieser Text für jeden Com ponisten eine gefährliche Klippe. Palestrina, dessen Kunst des Contrastes entbehren konnte, hat aus dem Stabat mater ein Musikstück gemacht und darin ein Muster erster Art geschaffen. Je mehr wir uns von ihm gegen die Neuzeit ent fernen, in welcher der Contrast in der Musik eines der ober sten Kunstgesetze ist, desto mehr sehen wir die Componisten in Verlegenheit einem Texte gegenüber, der an sich die Ein förmigkeit selbst ist. Sie zerlegen den Text und suchen die einzelnen Theile verschiedenartig zu gestalten. Je mehr sie das erreichen, desto weniger folgen sie aber den Worten, die doch bei einer Vocal-Composition die Hauptsache sind. Aus diesem Dilemma ist kaum Einer glücklich herausgekommen, so daß es scheint, als sollte man heutzutage überhaupt auf geben, ein Stabat mater zu componiren. Am wenigsten darf man es so sehr in die Breite gehen lassen, wie Dvořak. Denn zur Composition eines Stabat gehört nicht nur tiefe und wahre religiöse Empfindung und reiche musikalische Er findungsgabe, sondern auch eine ganz besondere Gestaltungs kraft, namentlich die Fähigkeit, einen langen, rhythmisch gleich förmigen Text in die knappste musikalische Form zu fassen. Von diesen Bedingungen erfüllt Dvořak nur die zweite; seine Erfindungsgabe, dieses eigentliche musikalische Talent, mit welchem er in reicherem Maße bedacht ist, als irgend ein moderner Componist, und welches seinen Werken so rasche Verbreitung erworben hat, ist geradezu beneidenswerth; um so bedauernswerther ist sein Mangel an Gestaltungskraft und an Selbstkritik. Er ist mit Leib und Seele in seinem Werke befangen und hat nicht die Fähig keit, sich über dasselbe zu erheben, es von einem freieren

Standpunkte zu überblicken, im Großen zu formen. Er ar beitet das Detail aus und vergißt darüber die Hauptsache; und weil er in ganz ausgezeichneter Weise das Orchester zu behandeln versteht, so entfaltet er, unfähig dem Drang seines Talentes zu widerstehen, seine Musikstücke aus dem Orchester heraus, also durchaus instrumental. Das wird bedenklich, wenn man einen Text zu componiren hat, dessen metrische Gestalt ja die musikalische Erfindung leiten soll. In Dvořak’s Stabat mater erscheinen demnach auch vielfach Instrumental-Motive auf die Singstimmen übertragen, gleich viel ob sie sich zum Texte eignen oder nicht; zahlreiche schlechte, sinnstörende Declamationen sind die Folge davon. Die reiche, von so seltener Begabung zeugende Detailarbeit ist es, die Dvořak’s Werke fast durchgehends charakterisirt. Sie hält das Interesse eines aufmerksamen Zuhörers un unterbrochen wach, aber einen künstlerischen Vollgenuß läßt sie am Schlusse doch nicht aufkommen; denn für diesen reicht das schönste Detail nicht aus, es ist stets nur das Ergebniß eines wohlgeformten Ganzen. In empfindlicher Weise trat dies beim Stabat mater zu Tage, dessen Text Dvořak auf zehn langgedehnte, naturgemäß durchaus ruhig be wegte Nummern vertheilt hat, ohne bestrebt zu sein, die selben wenigstens in der Klangfarbe sich von einander abheben zu lassen. Jedoch nicht nur allgemeinen musikalischen, sondern auch ästhetischen Anforderungen genügt das Werk nicht. Es ist in seiner ursprünglichen Anlage verfehlt, denn es fehlt ihm die für den Ernst des Textes nothwendige Polyphonie, und seine Melodik ist von ganz weltlicher Art. Die Sprache, die es spricht, ist nicht die Sprache religiöser Empfindung, sondern die sinnlicher Empfänglichkeit und Un befangenheit; sie ist die Sprache der irdischen Liebe, nicht der göttlichen. Das Werk ist ebensowenig ein kirchliches, wie das Stabat mater von Rossini, und wenn dieses seinen Weg über die ganze musikalische Welt gemacht hat, so verhalfen ihm dazu glänzende äußerliche Eigenschaften, die dem Dvořak’schen Werke abgehen. Dvořak’s „Stabat mater“ hat in England Erfolg gehabt, und dieser scheint die Gesellschaft der Musikfreunde bewogen zu haben, das Werk in Wien zur Aufführung zu bringen. Aber der Erfolg blieb bei uns aus und konnte so weder die Wahl des Werkes noch die sorgfältige Aufführung unter Hanns Richter lohnen, unter

dessen Leitung Orchester, Chor und Soli (Fräulein Forster, Frau Neuda Bernstein, die Herren Walter, Adolfi und Weiß) ihr Bestes zu liefern bestrebt waren.

Obiger Bericht unseres Gewährsmannes läßt nichts zu wünschen übrig, als eine kleine Bemerkung über die unheilvolle Zusammenstellung des Programms. Dvořak’s Stabat mater ist so lang, daß es allein eine gewöhnliche Concertdauer ganz gut ausfüllt. Indem Herr Hanns Richter demselben vier große Nummern aus „Fierrabras“ vorausgehen ließ (er hatte sogar deren sechs angesetzt), rückte er den Schluß des Stabat“ so nahe an die dritte Nachmittagsstunde, daß das erschöpfte Publicum während der letzten Nummern schaaren weis flüchtete. Es ist dies eine mit den Wiener Lebens gewohnheiten eng verwachsene, sich stets wiederholende Er scheinung, die man beklagen, aber als Concertdirector nicht ignoriren darf. Es müßte schon eine außerordentlich lustige Musik sein, bei welcher unser Publicum von halb 1 bis gegen 3 Uhr vollzählig sitzen bliebe. Dazu gehört das Stabat mater nicht, im Gegentheil. Dieser geistliche Trauer gesang war von der Direction dem sicheren Mißerfolg auch noch dadurch preisgegeben, daß sie vorher unsere Sinne tief in die reizendste Weltlichkeit Schubert’scher Opernmelodien tauchte. Es ist kaum denkbar, daß unser Concertpublicum die neueste Tondichtung eines so hochbegabten Musikers wie Dvořak nicht mit Aufmerksamkeit zu Ende gehört hätte, wäre diese für sich allein — am besten in der dafür prädestinirten Charwoche — uns vorgeführt worden.

Von den zahlreichen eben flügge gewordenen Clavier jünglingen ist Herr Karl Prohaska einer, der uns auf richtige Freude gemacht hat. Er spielt mit sehr schönem Anschlag, feinem musikalischen Gefühl und einer bedeutenden, dabei nicht virtuosenhaft flunkernden Technik. Wir hörten ihn schwierige, glänzende Compositionen von Chopin, Brahms, Rubinstein vortragen, ohne auch nur ein einzigesmal durch das Hauen, Stechen und Walken, das heute sogar bei jungen Pianistinnen vorherrscht, aufgeschreckt zu werden. Herr Prohaska ist ein sehr ernsthaft arbeitender Musiker, auch, wie wir hören, talentvoll als Componist. Er hat in seinem Concert nichts von seinen eigenen Sachen gespielt, eine Be scheidenheit, die auch nicht zu den häufigen Tugenden junger Tonsetzer gehört.

In dem Philharmonischen Concert vom letzten Sonntag bekamen wir die neue Es-dur-Symphonie (Nr. 2) von Karl Goldmark zu hören. Der große Erfolg, der sie bereits durch viele Städte des Auslandes begleitet hat, ist ihr auch in Wien treu geblieben. Der Componist wurde nach jedem der vier Sätze stürmisch gerufen. In glänzender effectvoller Behandlung aller Kunstmittel, insbesondere der Orchestrirung, bezeichnet dieses Werk einen Fortschritt über Gold mark’s „Ländliche Hochzeit“ betitelte Erste Symphonie. Welches von beiden Werken an Reiz der Erfindung voran stehe und einen befriedigenderen Total-Eindruck zurücklasse, dürfte getheilten Ansichten begegnen. Wenn die ganze Es-dur- Symphonie sich auf der Höhe ihres ersten Satzes erhielte, so würden wir keinen Augenblick anstehen, sie hoch über die Ländliche Hochzeit“ und in die Reihe der besten neueren Orchesterwerke zu stellen. Nach seiner freundlichen, idyllischen Stimmung und seinem klaren Fluß dürfte dieser Satz allen falls auch zu den Illustrationen einer ländlichen Hochzeit passen. Goldmark scheint darin von der Mystik und dem glühenden Pathos seines „Merlin“ auszuruhen, sich zu er holen; die Themen athmen lebensfreudige Behaglichkeit, ja unverkennbar Schubert’sche Luft. Ihre Entwicklung ge schieht natürlicher, einheitlicher, maßvoller, als wir von Gold mark’s Leidenschaftlichkeit erwartet hätten. Nur vorüber gehend, im Durchführungssatz, sehen wir die Stimmung in einen von dröhnenden Posaunen angefeuerten Aufruhr um schlagen, dessen Nothwendigkeit wir nicht verstehen. Jeden falls gehört dieser Allegrosatz zu dem Vorzüglichsten, was Goldmark geschrieben hat; er ist überall des lebhaftesten Anklanges und reiner Wirkung sicher. Dieser Geist der Ein heitlichkeit und schönen Consequenz verläßt den Componisten leider im folgenden Satz, einem Andante in As-moll, dessen sanft melancholischer Gesang gleich nach dem 12. Tact einem wilden Reißen und Fegen von abgebrochenen Zweiunddreißigstel-Figuren, untermischt mit drohenden Posaunenstößen, Platz macht. Ebenso unerwartet übergeht dieser rabbiate Anfall wieder in ein sanftes Seitenthema in der Dur-Tonart, welches nach kurzer Zeit sich zu einem „quasi Allegretto“ beschleunigt. Noch ein- bis zweimal wechselt das Tempo; wieder beginnt das wilde Schleifen und Reißen der Violinen, um ebenso schnell wie das erstemal zu verschwin

den. Der Satz schließt leise ausklingend. Auch dieses Andante ist reich an einzelnen geistreichen Zügen und Orchester- Effecten, entläßt uns aber schließlich unklar und unbefriedigt, weil es eben kein organisches Ganzes ist. Man möchte es fast einer Opernscene vergleichen, zu welcher uns der Text fehlt. Das Scherzo, ein fliegend rascher Sechsachteltact (E-dur), ist das Effectstück par excellence in dieser Sym phonie. Es pflegt überall da capo gespielt zu werden; man schien auch hier durch stürmischen Beifall seine Wiederholung erzwingen zu wollen. Ein glitzerndes, flimmerndes Bravour stück, bei dessen Glanz uns förmlich die Augen übergehen, ein Orchester-Feuerwerk von blendendem Effect und äußerstem Raffinement. Aus diesem Gesichtspunkte mag man das Scherzo bewunderungswürdig finden. Sein eigenster musikalischer Gehalt scheint uns trotzdem nicht schwerwiegend: es sind die wohlbekannten Elfen Mendelssohn’s und Berlioz’, die hier in noch viel reicherem und wunderlicherem Instrumental gewand (natürlich mit Triangel in den Händen und Sor dinen auf dem Nacken) vor uns im Wirbeltanze kreisen. Das langsamere Trio klingt nach der raffinirten Phan tastik des Scherzosatzes recht spießbürgerlich: ein populärer liedmäßiger Satz, von der Solotrompete geblasen! Spielt die Goldmark’sche Symphonie in Säkkingen? Ein kurzes, schwermüthiges Andante, das uns flüchtig den chroma tischen Jammer von Tristan und Isolde ins Gedächt niß ruft, leitet rasch in das eigentliche Es-dur-Finale. Auch dieser Zusammenhang will uns durchaus nicht klar werden. Das Hauptmotiv des Finales — drei vom ganzen Orchester gehämmerte Es-Viertelnoten, die ein flatterndes Band von Geigentriolen nach sich ziehen — ist rhythmisch sehr glücklich erfunden. Es scheint eine ähnliche lebensfrohe Stimmung, wie der erste Satz, anzukündigen, nur gesteigerter, enthu siastischer. Dieser energische Frohsinn überschlägt aber bald in eine zornig verbissene Heftigkeit, die uns in dem Maße abkühlt, als sie sich selber erhitzt. Im Ganzen ist die Wirkung dieses wasserfallartig hinabstürzenden und weislich kurz gehaltenen Finales eine recht kräftige, äußerlich packende. Als Symphoniker ist Goldmark mehr anregend als über zeugend, mehr blendend als schöpferisch; auf dramatischem Gebiet erscheint er echter und reicher. Das Philharmonische Orchester hat unter Hanns Richter’s Leitung mit der

glänzenden Ausführung der Symphonie nicht nur Herrn Goldmark, sondern ebensosehr sich selbst einen Triumph bereitet.

Kammersänger Walter hat in seinem zweiten Concert abermals die große Schaar seiner Anhänger versammelt. Er war sehr gut bei Stimme und im Vortrag liebenswürdiger als je. Daß Walter nach so vielen Jahren noch immer un erreicht dasteht als Liedersänger, ist eine Thatsache, die, über aus rühmlich für ihn selbst, doch für uns allmälig etwas Besorgnißerregendes annimmt. Will sich denn unter den Wiener Sängern noch immer keiner zeigen, der Anspruch machen könnte, Walter’s Rivale oder Nachfolger zu werden? Von bereits bekannten Liedern sang WalterDvořak’s Zigeunerlied“, Grädener’sWandernder Musikant“, Gounod’s „Frühlingslied“, schließlich — mit seiner an muthigen Tochter Minna Walter — die beiden Duette So lass uns wandern“ von Brahms und „Unter’m Fenstervon Schumann. Das erstere klang frisch und fröhlich, wie es das Gedicht verlangt; das zweite war durch übertriebene Ritardandos ins Sentimental-Theatralische gezogen und musi kalisch gesprengt. Die von Walter vorgeführten Novitäten jün gerer Wiener Componisten gehören der Schumann-Brahmsschen Richtung an; die meisten haben sich in Brahms fest eingebohrt. Die Eigenschaften eines genialen Tondichters, wie Brahms, lassen sich nicht nachahmen; seine Eigenheiten wol. Und diese Eigenheiten werden aus zweiter Hand leicht gefährlich für das Lied, dessen bester Segen, die Einfachheit, unter dem geistreich detaillirenden und tiefsinnig grübelnden Wesen ver loren geht. Die neuen Lieder zeigten fast alle eine gut decla mirte, etwas verfaserte Melodie, unter welcher das Clavier mit pikanten Vorhälten, Synkopen, chromatischen und enhar monischen Kunststückchen eine Art selbstständigen Monolog ausführt. Die Componisten scheinen am meisten darauf be dacht, daß alles Nebensächliche recht „bedeutend“ und der Charakter des ganzen Liedes möglichst „distinguirt“ sei. Es wäre Thorheit gegen diesen die ganze moderne Liederkunst beherrschenden Zug ankämpfen zu wollen. Erlaubt bleibt immerhin der bescheidene Wunsch, es möchte neben den zahl reichen Brahms-Nachahmern auch einmal Einer erstehen, der sich Franz Schubert zum Vorbild wählte und dessen klaren, sonnigen Melodienfluß. Freilich, dazu gehören Mittel.

Walter’s Publicum hat übrigens keinen der einheimischen Componisten ohne lebhafte Anerkennung entlassen. Gleich das erste zartempfundene Lied von Robert Fuchs, „Seliger Tod“, wurde zur Wiederholung verlangt. Das nur vierzeilige Uhland’sche Gedicht, das obendrein in jeder dieser vier Zeilen einen neuen, witzigen Gedanken bringt, sträubt sich im Grunde gegen die Musik, welche sich ausbreiten möchte und hier doch nicht ausbreiten darf. Richard Heu berger war durch sein auffallend gekünsteltes Lied „Fasse Muth“ nicht von seiner vortheilhaftesten Seite repräsentirt. Am echtesten und liebenswürdigsten gibt sich dieser sehr talentvolle Liedercomponist in seinen graziösen, heiteren, leicht an Volksthümliches anklingenden Gesängen, wie wir sie in seinen „Sechs Liedern“, Op. 24, seinen „Fünf Liedern“, Op. 31, seinen Duetten, Op. 28, u. A. vorfinden. Hier schlägt R. Heuberger manchen ganz neuen Ton an und weiß bei aller Lebendigkeit des Ausdrucks doch der naheliegenden Gefahr des Dramatisirens auszuweichen. Viel Anklang fanden auch zwei ungedruckte Lieder von V. Herzfeld („Lieb war die Nacht“) und von Rottenberg („Lieb’ Seelchen“). Letz teres gefällt uns weniger als die vier einfacheren und frische ren Lieder (Op. 1), mit welchen dieser Componist vor einigen Jahren debütirt hat. Herr Dr. Rottenberg ist ein sehr be gabter und vielseitig gebildeter Künstler, der nicht blos als mustergiltiger Accompagnateur, sondern auch als Solospieler in Walter’s Concert mitwirkte. Mit der Wahl von Beet hoven’s C-moll-Sonate, Op. 111, hat er seine Kräfte allerdings überschätzt. Dieses Stück, das wir bisher nur von Bülow und Rubinstein gehört haben, ist technisch wie geistig eine der schwierigsten Aufgaben, die es überhaupt in Clavier-Literatur gibt. Den höchsten Rang in Walter’s Pro gramm behaupteten Brahms und Dvořak. Von den drei Brahms’schen Manuscript-Liedern: „Schwalbe sag’“, Ständchen“ und „Melodien“ ist eines köstlicher als das andere. Walter, der sie unvergleichlich singt, mußte sie alle wiederholen. Von Dvořak waren „Gute Nacht“ und „Die Mäherin“ neu; originelle und reizvolle Lieder, von jenem weichen Hauch slavischer Schwermuth angeweht, der Dvořak’s Musik charakterisirt. Sie sind den „Vier Liedern im Volks ton“, Op. 73, entnommen, welche wir bei einer früheren Gelegenheit unseren Lesern empfohlen haben.