Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 8588. Wien, Sonntag, den 22. Juli 1888 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Nr. 8588. Wien, Sonntag, den 22. Juli 1888 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 22.07.1888
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Musikalisches aus Skandinavien. I. Kopenhagen.

Ed. H. Die Ausstellung in Kopenhagen, der wir lieber nachrühmen, daß sie eine glänzende skandinavische Exposition, als ihr nachtragen, daß sie eine gar mangelhafte Weltaus stellung ist — sie hat ihre Eröffnung mit einem glücklich er sonnenen Musikfeste gefeiert. In einer Serie von sechs Con certen, von welchen die Hälfte den großen Orchester- und Chorwerken, die andere der Kammer- und Lieder-Composition gehörte, ward dem Publicum ein Bild des musikalischen Schaffens in den drei skandinavischen Königreichen auf gerollt. Das Beste, was dänische, schwedische und norwegische Componisten der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit her vorgebracht, erklang hier vor festlich geschmückten und festlich gestimmten Zuhörern, in Aufführungen, denen sorgfältige Vor bereitung und glückliches Gelingen allgemein nachgerühmt werden. Mir selbst blieb leider der Besuch dieses Musikfestes versagt; denn einer streng gemessenen Karlsbader Cur läßt sich nicht die kleinste Woche abdrücken, und von Böhmen nach Dänemark fährt man überdies nicht gerne in Einem Zuge. Immerhin bot mir schon das in stattlicher Broschüre er schienene Programm dankenswerthe Belehrung und einen er freulichen Beweis von den Fortschritten der Musik in Skandi navien. Ist es doch erst ein Halbjahrhundert her, daß das in National-Liedern hin und wider fluthende angeborene Musiktalent des Volkes sich zu eigentlichen Kunstgebilden krystallisirt und nordische Tonkunst sich auf eigene Füße ge stellt hat. Man weiß, daß noch zu Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts ausländische, meistens deutsche Tonkünstler es waren, die, nach den skandinavischen Haupt städten berufen, dort Musik lehrten und schufen, wie Friedrich Kuhlau, Adolph Scheibe, P. A. Schulz, kurze Zeit auch Gluck, in Kopenhagen; Abbé Vogler und Nau mann in Stockholm; von dem einflußreichen Aufenthalte italienischer Sänger und Operncomponisten (Sarti, Siboni etc.) gar nicht zu sprechen.

Die beiden in Dänemark hochgeehrten älteren Meister: Weyse und P. E. Hartmann (der Lehrer Gade’s), sind dem deutschen Publicum so gut wie unbekannt geblieben. Der erste nordische Componist, der über sein Vaterland hinaus gedrungen und zu einem Ehrenplatz im europäischen Concert programm gelangt ist, war Niels Gade. Und das gleich mit seinen allerersten Werken, der „Ossian-Ouvertüre“ und der ebenso berühmten ersten Symphonie. „Wir haben hier einen ganz neuen Künstlercharakter vor uns,“ schrieb damals Robert Schumann; „in Gade’s Musik zeigt sich zum ersten male ein entschieden ausgeprägter nordischer Charakter.“ Gade selbst bezeichnet seinen Schwiegervater, den oben er währten P. E. Hartmann, als den Ersten, der die skan dinavische Volksweise für größere Kunstformen erobert und verwerthet habe. Hartmann hat in zahlreichen Werken vor Allem sein Vaterland, dessen Sagen und Dichtungen ver herrlicht: die Tragödien Oehlenschläger’s mit Chören, Märschen, Ouvertüren geschmückt, „Erlkönigs Töchter“ als Oper behandelt, den Heimgang Thorwaldsen’s in einer Trauer-Cantate beklagt, den Empfindungen seines Volkes in Liedern Ausdruck gegeben. Nur zu kurzer herzlicher Be grüßung war mir der dänische Altmeister erschienen: ein feingeschnittener Kopf, aus dem ein Paar wohlwollende, sin nige Augen das unverkümmerte Geistes- und Gemüthsleben des dreiundachtzigjährigen Greises verkünden. Gade hat über die fremdartig skandinavische Färbung, die in seinem ersten Werke bezauberte, niemals die ewigen Schönheitsgesetze der Kunst vergessen und in späteren Tonstücken, vor Allem in seiner reizenden B-dur-Symphonie, gezeigt, daß seine Ge staltungskraft des Local-Colorits auch entbehren könne. In neuester Zeit scheinen talentvolle Nordländer den scharfen exotischen Reiz dieser Localfarbe fast zur Hauptsache zu machen, so daß Gade nicht ohne Grund befürchtet, es werde in der norwegischen Musik bald mehr Nordlicht als Musik zu finden sein. Immerhin haben Gade’s Landsleute die deutsche Her kunft und Bildung ihrer Musik niemals vergessen noch ver leugnet; sie gehen im exclusiven National-Bewußtsein keines wegs so weit, wie das junge Rußland, das mit so trauriger Vorliebe seinen Zauber im ungelöst Häßlichen sucht.

Ist Hartmann der Nestor der dänischen Tonkunst, so ist Gade heute noch der Mittelpunkt und oberste Wille derselben. Er dirigirt die großen Concerte und leitet, selber

lehrend, das Conservatorium in Kopenhagen. Letzteres ist leider unvollständig, indem es neben den theoretischen Fächern nur Gesang, Orgel, Clavier und Streichinstrumente pflegt, die Blasinstrumente hingegen dem Privatunterricht überläßt. In diesem beschränkten Umfange wird es aber nach muster giltig rationellen Grundsätzen und ohne jede finanzielle Neben absicht geleitet. Die Zahl der Schüler ist auf 40 bis höch stens 45 beschränkt, welche somit alle einen gründlichen, indi vidualisirten Unterricht erhalten, im Gegensatze zu dem Massen- und Dampfbetrieb anderer Conservatorien. Der Verkehr mit Niels Gade gehört zu den werthvollsten und anmuthigsten Erlebnissen meiner Reise. Er ist ein Jüngling von 72 Jahren. Wüßte man nicht sein Geburtsjahr aus dem Musik-Lexikon, nie würde man es herauslesen aus dieser rosig frischen Gesichtsfarbe, aus dem blauen Feuer dieser Augen, aus der kraftvollen Beweglichkeit dieses gedrungenen Körpers. Wie leicht eilt er treppauf treppab im Thorwaldsen-Museum, uns die schönsten Statuten eifrig erklärend; wie rasch weiß er beim Herausgehen einem voreiligen Omnibus nachzulaufen, um uns Plätze darin zu sichern! Mit derselben Jugendfrische und Liebenswürdigkeit macht er uns am folgenden Tage den Cicerone in dem weitläufigen, von historischen Kleinoden strotzenden Schloß Fredricksborg und führt uns von da durch den üppigsten Buchenwald nach seiner Sommerwohnung in Fredensborg. Die Fahrt mahnte mich an ein Wort Schumann’s, der von Gade’s zweiter Symphonie sagte, „man denke dabei an die lieblichen Buchenwälder Dänemarks“. Ja, wer müßte nicht im vergnügten Zusammensein mit Gade immer wieder an Schumann denken, an Schumann und Mendelssohn, welche den jungen Dänen so glänzend in die Oeffentlichkeit eingeführt, ihn musikalisch getauft und confir mirt haben! Man glaubt noch immer ihre Hände segnend über diesem grauen Haupte zu gewahren. Und lebhaft können wir uns das Aufsehen vorstellen, welches der bildhübsche junge Gade „mit dem Mozart-Kopf und dem wie in Stein gehauenen Haupthaar“ bei seinem Eintritte in die Leipziger Kreise erregte, und die herzliche Sympathie, die ihn überall sofort umfing. Sie hat den edlen Künstler, den herzenswarmen, geistvollen Menschen nie wieder verlassen.

Nach Gade hat keiner der jüngeren dänischen Compo nisten es zu Wirkung und Bürgerrecht im Auslande ge bracht; doch sind im Lande selbst die Lieder von P. Heise

die Instrumentalwerke von V. E. Benedix, Winding, Emil Hartmann (Sohn) und Axel Hammerik geschätzt. Ein Bruder des Letzteren ist der geist- und kenntniß reiche Musik-Kritiker Angul Hammerik in Kopenhagen, dessen gerühmten Abhandlungen über dänische Musikgeschichte nichts fehlt, als — eine deutsche Uebersetzung. Der aus Dänemark stammende, aber in Stockholm ansässige Compo nist Sigfried Saloman gehört einer älteren Genera tion an; in Deutschland hat ihn seine Oper „Das Dia mantkreuz“ vortheilhaft bekannt gemacht. Auch die jetzt leben den schwedischen Componisten sind außerhalb ihrer Heimat wenig bekannt und noch weniger cultivirt, obgleich eine Oper von Ivar Hallström („Der Bergkönig“) nicht ohne Beifall in München und ein Musikdrama von Andreas Hallén („Harald der Wiking“) nicht ohne Grausen in Leipzig gehört worden ist. Die aufrichtigsten Erfolge wurden den verstorbenen Liedercomponisten Lindblad und dermann, deren volksthümliche Melodien durch Jenny Lind und das schwedische Damen-Quartett weit über das Meer gedrungen sind. Sowol Dänemark als Schweden wird in bedeutendem schöpferischen Nachwuchs entschieden überragt von Norwegen, dem Vaterlande Edvard Grieg’s und Jo hann Svendsen’s. Ihnen war mit Liedern und kleineren Clavierstücken H. Kjerulf († 1868) glücklich vorangeschrit ten. Wien ist in der Kenntniß dieser Tondichter hinter an deren Hauptstädten sehr zurückgeblieben. Von Grieg haben nur unsere Solo-Pianisten Notiz genommen, ausnahmsweise einmal ein Quartettverein; von Svendsen ist meines Wissens nur sein Octett, Op. 3 (durch Rosé), bekannt geworden. Warum bringen nicht unsere Gesellschafts- und Philharmonie- Concerte einmal das Clavier- oder das Violin-Concert von Grieg? Warum zieht Hofcapellmeister Richter es vor, uns „skandi navische Symphonien“ von einem Engländer vorzuführen, anstatt einer echten skandinavischen Symphonie oder einer Rhapsodie von Svendsen? Das sind zwei originelle Ta lente, die man kritisiren, aber nicht mehr ignoriren darf. Grieg, meistens in Christiania oder in seiner Vaterstadt Bergen zu Hause, sprach ich flüchtig in Stockholm. Ein klei ner, unansehnlicher Mann mit blassem Gesichte und nervös blickenden grauen Augen. Svendsen’s persönliche Be kanntschaft ward mir leider durch seine Abreise nach London vereitelt, wohin ihn die Philharmonische Gesellschaft zur Aufführung seiner Orchesterwerke berufen hatte. Den

Concert-Instituten und Concertbesuchern Englands ist nach zurühmen, daß sie von jeher die Bekanntschaft der bedeutend sten fremden Componisten sich angelegen sein ließen. Seit Weber, Spohr und Mendelssohn haben die namhaftesten Ton setzer Deutschlands solche Einladungen nach London erhalten; in den letzten zwei Jahren überdies Gounod, Saint-Saëns, Dvořak, jetzt Svendsen. Das ist wohlgethan und wäre ein heilsames Beispiel für andere Großstädte. Beiläufig bemerkt, werden die Nadelstiche verletzter Eitelkeit, womit Londoner Musikzeitungen mir so unermüdlich nachsetzen, mich ebensowenig bewegen, die Langweiligkeit der englischen Componisten, als die reellen Vorzüge der englischen Concert- und Oratorien- Vereine zu verleugnen.

Das große Musikfest war mir versagt geblieben, nicht aber all und jede Musik in Kopenhagen. In dem großen Tivoli-Garten, der jetzt die Ausstellung so freundlich ein rahmt, drängt sich allabendlich ein vergnügtes Publicum zu den von Herrn Balduin Dahl tüchtig geleiteten Orchester- Productionen. Die erste Nummer des Programms gehörte Friedrich Kuhlau, demselben alten Kuhlau, welchem Beethoven den Canon „Sei kuhl, nicht lau!“ ins Stamm buch geschrieben hat. Obwol ein geborener Lüneburger, wird Kuhlau, der nach langjähriger Thätigkeit in Kopenhagen da selbst (1832) als dänischer Hofcomponist gestorben ist, doch zu den National-Componisten gerechnet, und seine in Deutsch land längst vergessenen Werke sind in Dänemark heute noch populär. Vor Allem seine Ouvertüre zu „Elverhoye“ (Elfen hügel), dem berühmtesten National-Schauspiel der Dänen: sie schließt effectvoll mit demselben Volkslied „Held Christian stand am hohen Mast“, welches wir dreißig Jahre später in Meyerbeer’s Struensee-Ouvertüre wiederfinden. Während der täglichen Orchester-Productionen im Tivoli wird nicht ge gessen, noch getrunken, noch geschwätzt; das Publicum lauscht mit einer musterhaften Andacht und Theilnahme. In einem benachbarten Pavillon spielt gleichzeitig der jüngere Lumbye die populären Tanzweisen seines Vaters; man nennt sie die „beiden Strauß von Kopenhagen“. Noch ein drittes Orchester musicirt in einem entfernteren Pavillon, und kleine Marionetten-Theater, Schaubuden, Kramläden, Restaurationen blinken dazwischen in dem hellerleuchteten Park. Ueberall wimmelt es von fröhlichen Menschen bis über Mitternacht hinaus, und doch herrscht allenthalben Ruhe und Anstand; kein ausgelassener Ruf, keine rohe Geberde durchbricht die

harmonischen Linien dieses Nachlebens. „In ganz Skandi navien gibt es keinen Pöbel,“ hörten wir oft rühmen — ein schwerwiegendes Wort, und so weit ich beobachten konnte, ein wahres.

Eine dänische Oper bekam ich nicht zu hören, wol aber im „Volkstheater“ eine russische. Meine Begierde, die rus sischen Opernsänger und Rubinstein’s „Dämon“ kennen zu lernen, war beinahe so groß, wie die nachfolgende Ent täuschung. Ein unerfahrener Impresario hatte diese Sänger gesellschaft ebenso wahllos als zahlreich überallher aus der Provinz zusammengelesen. Er führte ein zahlreiches Chor personal, fünf Tenoristen, vier Primadonnen und, wenn ich nicht irre, drei Capellmeister mit sich: Alles zusammen ein ungenügendes und schlotteriges Ensemble. Mit Ausnahme des sympathischen jungen Baritons Tartakow, welcher den Dämon sang, besaß Niemand eine mehr als dilettantische Gesangsschulung, weder der pompöse Heldentenor mit der phlegmatischen Fettstimme, noch die distonirende, tremolirende Primadonna, noch der tiefe Bassist mit dem Organ und dem Gebahren eines bösgemachten Lämmergeiers. Es hieß zwar, daß die Oper gewöhnlich mit besserer Besetzung gegeben werde; ich kann nur über den selbsterlebten bösen „Dämonvom 14. Juni berichten. Von Rubinstein’s Oper vermochte so ungenügende Ausführung gewiß kein richtiges Bild zu geben. Allein, selbst durch diesen verdunkelnden Schleier hin durch glaubte ich deutlich zu erkennen, daß zwei in Rubin stein’scher Opernmusik stark vordrängende Elemente auch hier das Wort führen: Rohheit und Monotonie. Die Rohheit ließ sich noch eher ertragen, denn ihr gehören im „Dämondie specifisch national-russischen Musikstücke, welchen doch ein exotischer Reiz anhaftet. Die Monotonie hingegen, die in den langen Dialogen und Monologen herrscht, drückt uns un barmherzig nieder. Das Beste sind einige national gefärbte lyrische Oasen, die — mit der Handlung wenig zusammen hängend — sich aus dem zähen dramatischen Lehm herausarbeiten. Im letzten Act soll ein sehr wirksames Duett stehen zwischen den beiden uns gleich unverständlichen Hauptpersonen: dem Dämon und seiner Geliebten Tamara. Außer Stande, in der schlechten Luft und dem noch schlechteren Gesang länger als von 7 bis 10 Uhr auszuharren, habe ich dieses Schluß duett leider nicht gehört. Fachmännischen Stimmen zufolge ist „Der Dämon“ die beste Oper Rubinstein’s, das mag sein; musikalisch interessanter als der „Nero“ ist er gewiß,

das will nicht viel sagen. Aber daß Rubinstein die specifisch dramatische Ader abgeht, das muß auch nach dem „DämonJedermann klar geworden sein. Die Wirkung, die ich von einer neuen, in fremder Sprache gesungenen Oper empfange, war mir jederzeit wichtig; sie gilt mir als eine (wenn auch nicht einzige) Probe auf die dramatische Begabung des Com ponisten. Eine lebensvolle, treffend charakterisirende, also echt dramatische Musik, meine ich, müßte im Verein mit dem Gesang und Spiel, den Costümen und Decorationen von der Bühne herab doch verständlich genug wirken, um auch einen des Idioms nicht mächtigen Zuhörer errathen zu lassen, um was es sich handelt, was die singenden Personen wollen, welches ihre Beziehungen zu einander und zu der ganzen Handlung sind. Nicht die feineren dramatischen Motive, aber der Zusammenhang der Fabel, die Bedeutung der einzelnen Scenen müßten uns doch ziemlich klar werden. Sinn und Handlung des Rubinstein’schen „Dämon“ sind mir aber in dieser russischen Aufführung ein undurchdring liches Räthsel geblieben. Ich glaube, daß wirklich nur die Russen, welche sich in das Lermontow’sche Gedicht völlig eingelebt und eingeliebt haben, auch für die Rubinstein’sche Oper das nöthige Verständniß und Entzücken produciren können. Lebhaft mußte ich des armen Mosenthal gedenken, wie er vor zwanzig Jahren aus Freundschaft für Rubinstein sich abplagte, das Libretto des „Dämon“ für die Wiener Hofoper „möglich“ zu machen, welche Bemühung er nach redlich vergossenem Schweiß schließlich aufgab.

Daß sogar ein Schauspiel in fremder Sprache uns leb haft zu interessiren und zu fesseln vermag, erfuhr ich im königlichen Theater zu Kopenhagen an der Aufführung eines dort ungemein beliebten Volksstückes: „Der var engang(Es war einmal —). Die Handlung, nach einem Märchen von Andersen, ist von dem geistvollen dänischen Poeten Holger Drachmann so klar exponirt und anschaulich geführt, daß selbst der Fremde ihr in den Hauptzügen zu folgen vermag. Die Aufführung selbst bot einen ungetrübten Genuß. Die einzelnen Darsteller zeigten ein ursprüngliches Talent neben fein ausgebildeter Technik; das Ensemble stimmte wie eine gut studirte Symphonie; Costüme und Decorationen wirkten mit der doppelten Kraft des Glän zenden und zugleich Charakteristischen. Das phantastisch- märchenhafte Stück wird richtig und reichlich von einer an

muthigen, durchaus maßvollen Musik unterstützt, welche von einem der begabtesten jüngeren Componisten Dänemarks, Herrn Lange-Müller, herrührt und seinen Namen populär gemacht hat. Ich begriff, wie Heinrich Laube, der gleich mir kein Wort Dänisch verstand, vor fünfzig Jahren von dem Spiel der Kopenhagener Hofschauspieler entzückt sein konnte. Die Perle der Vorstellung, ja das Kronjuwel der Hofbühne überhaupt ist Frau Hennings, eine der geistreichsten Schauspielerinnen, die mir vorgekommen. Sollte ich die Art ihres Talents, wie es wenigstens in dieser Rolle erschien, durch ein Beispiel erklären, so würde ich etwa Hedwig Niemann-Raabe oder Stella Hohenfels, nennen. Aber Frau Hennings spielt auch tragische Rollen, spielt über haupt in jedem Stück, dem man Anziehungskraft und Wir kung sichern will, und, wie es heißt, Alles vortrefflich. Für die hohe Tragödin mag vielleicht ihr durch solche Anstren gungen ermüdetes Organ nicht völlig ausreichen; aber in der Rolle der kindisch eigensinnigen Prinzessin, welche alle Bewerber verhöhnt, mit unberechenbaren Launen die ganze Umgebung malträtirt und schließlich durch einen kühnen, als Zigeuner verkleideten Prinzen à la Petrucchio gezähmt und gebessert wird — ist Frau Hennings einfach unübertrefflich. Obwol der Sprache unkundig, ja vielleicht gerade deßhalb, konnte ich die unvergleichliche Beredsamkeit ihres Mienen spiels, ihres Tonfalls, ihrer Bewegungen nach Gebühr be wundern. Dabei verstand die Künstlerin mit feinstem Styl gefühl das Phantastische, Märchenhafte der Gestalt durchaus festzuhalten, den Alltags-Realismus ebenso wie das Pathos einer tiefen echten Menschenseele fernzuhalten und die Rolle ungefähr so zu sprechen, wie Mendelssohn seinen Sommer nachtstraum instrumentirt. Frau Hennings ist die Gattin eines Mannes, der in seiner Sphäre nicht weniger verdienst voll für das Kunstleben wirkt und zu den notabelsten und liebenswürdigsten Persönlichkeiten Kopenhagens gehört: des Hof-Musikhändlers und Verlegers Dr. Henrik Hennings. Die in Hanns Bülow’sReisebriefen gepriesene „Zuvor kommenheit dieses Gentleman, der sich ebensosehr, durch Ver ständniß als Begeisterung für Musik auszeichnet“, wird jeder an Hennings Empfohlene vollauf erfahren und im Gedächt niß behalten haben als einen Typus der unvergleichlichen Courtoisie, welche die Kopenhagener überhaupt gegen Fremde zu üben gewohnt sind.