Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 8820. Wien, Donnerstag, den 14. März 1889 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 8820. Wien, Donnerstag, den 14. März 1889 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.03.1889
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Concerte.

Ed. H. Aus dem musikalischen Getümmel der letzten Wochen sehen wir zwei neue vornehme Gestalten empor ragen, von unserem Publicum mit raschem Blick erkannt und liebgewonnen: die Sängerin Alice Barbi und der Pianist Stavenhagen. Fräulein Barbi verfügt über eine weiche, sympathische, nicht sehr umfangreiche Mezzosopran- Stimme, die sie mit großer Kunst behandelt. Daß diese Stimme nicht mehr in der ersten Blüthe, dafür entschädigt uns die goldene Frucht ihrer künstlerischen Vollendung. In den ganz schmucklosen tragischen Arien von Astorga und Alessandro Scarlatti offenbarte Fräulein Barbi die Schätze einer fast verloren gegangenen classischen Gesangs kunst: eine ruhige, edle Tonbildung, unvergleichliche Oeko nomie des Athems, das schönste Portamento im Anschwellen und Abnehmen des Tones, vor Allem eine schlichte Großheit des Vortrages, ohne die jene älteren Arien nicht denkbar oder doch kaum genießbar sind. Wie den pathetischen Ausdruck, so hat sie auch den heiteren, scherzhaften in ihrer Gewalt. Païsiello’s Lied „La Zingarella“, aus dem uns die ganze naive Lebens fülle der neapolitanischen Musik anlacht, kann man nicht schöner hören. Die Barbi ist da in der That „la Zingarella graziosa, accorta e bella“, wie es in dem Liedchen heißt. Dabei hält sie auch dergleichen Scherzlieder fern von allem vulgären Beigeschmack, wie denn überhaupt die Noblesse des Vortrags, in jeder Stylgattung, uns besonders charakteristisch erscheint für ihre Individualität. Mit gleicher technischer Vollendung und eindringendem Verständniß sang Fräulein Barbi einige zierliche Romanzen von Monsigny und Bizet, dann deutsche Lieder von Mozart, Schubert und Schumann. In letzteren mochte gerade die ausgeprägte Deutlichkeit und Correctheit der Aussprache etwas fremdartig berühren: offen ausgesprochene Vocale, die wir dunkler färben, accentuirte Endsylben, die wir abzuschleifen pflegen, und dergleichen. Aber vortrefflich, ja ergreifend klangen auch diese uns so wohlbekannten Lieder aus Fräulein Barbi’s Munde. Schumann’s „Widmung“, Schubert’s „Rastlose Liebe“ sang

sie mit überquellend leidenschaftlicher Wärme bei reinster technischer Ausführung. Und für die gemüthvolle Melancholie in Schubert’s „Wegweiser“ fand die Barbi nicht blos den richtigen Ton; ihre ausdrucksvolle, natürliche Mimik gab der Stelle: „Einen Weiser seh’ ich stehen unverrückt vor meinem Blick“ sogar eine überraschende Anschaulichkeit. Vielleicht mochte Mancher mit irgend einem zu lebhaft auf leuchtenden Worte, mit einem zu plastisch herausgearbeiteten Detail nicht übereinstimmen; man muß sich hüten, der gleichen für „affectirt“ zu halten, was dem Südländer na türlich ist. Wir haben in Alice Barbi eine Meisterin des Gesanges von geistvoller, eigenartiger Künstler-Physiognomie kennen gelernt, auf deren nächstes Concert wir uns zu freuen guten Grund haben.

Herr Bernhard Stavenhagen, ein junger Thürin ger, ist zweifellos berufen, einer der größten Clavierspieler zu werden. Sein erstes Concert (vor etwa zwei Monaten) hatte nur ein kleines Publicum herbeigelockt; sein zweites fand vor einem zahlreichen, sein drittes endlich vor einem dichtgedrängten Auditorium statt. Stavenhagen verfügt über eine vollendete, abgerundete und abgeklärte Technik, der gar nichts Materielles mehr anhaftet und die er durchaus der musikalischen oder poetischen Intention des Componisten unter ordnet. Sein Anschlag ist mitunter zauberhaft. Er singt, spricht, erzählt, plaudert am Clavier. Man kann von ihm hunderterlei Anschlagsarten hören; jede scheint anders zu sein, und keine verlangt vom Clavier mehr, als es leisten kann. Diese Kunst, den Ton so verschiedenartig zu färben, zu schat tiren, macht sein Spiel ungewöhnlich anziehend und reizvoll. Eine so hoch ausgebildete Specialität birgt allerdings auch ihre Gefahren. Ich kann die Besorgniß nicht ganz unterdrücken, daß der Reichthum von Anschlagsnuancen, durch welchen Stavenhagen bezaubert, vielleicht ihn selbst irreführen und verleiten möchte, über der Klangschönheit der einzelnen Phrase, ja des einzelnen Tons den Charakter des Ganzen zu vernachlässigen. So scheint er mir die „Verschiebung“, der er schöne Effecte entlockt, zu häufig und anhaltend zu verwenden. Er spielt — mit Aus nahme weniger Tacte — das ganze Adagio der Cis-moll- Sonate und den ganzen Des-dur-Mittelsatz in Chopin’s Trauermarsch mit Verschiebung; dadurch klingt, was ätherisch

begonnen hat, am Ende kränklich und matt. An seinem Vor trag der Beethoven’schen Sonaten rühmen wir die männliche Auffassung bei zartestem Detail und die strenge Einhaltung des Tactes. Dennoch erzeugten mitunter die Klangkünste des Pianisten wenigstens den Schein eines absichtlichen Schön machens. Der große Zug der Tondichtung mußte sich vor übergehend doch dem einzelnen berückenden Klange fügen. Stavenhagen erscheint in solchen Momenten etwa wie ein Maler, der einer blendenden Farbe zulieb, oder wie ein Poet, der für einen originellen Reim die Idee des Ganzen zurechtrückt. Kleinere Stücke von Schumann, Chopin, Liszt spielt er mit reizender Natürlichkeit, fast mit der Unmittel barkeit von Improvisationen. Mit zauberhafter Leichtigkeit, fast zu rasch, läßt er den Chopin’schen Des-dur-Walzer an uns vorüberfliegen. Befremdend fiel es auf, daß Stavenhagen eine Chopin’sche Etüde ganz unvermittelt, fast ohne die Hände von der Claviatur zu heben, an den Trauermarsch anfügte. Mit besonderem Interesse hörten wir Chopin’s „Fantaisie- Polonaise“, op. 61. Sie wird wegen ihrer außerordentlichen technischen Schwierigkeiten wie ob ihres räthselhaften Inhalts selten gespielt. Stavenhagen zügelte die ersteren voll kommen und erhellte das verwirrende Dunkel des letzteren nach Möglichkeit. Es ist dies eine Phantasie im pathologischen Sinne, das Phantasiren eines Fieberkranken, dem lockende und wüste Bilder in wirrer Flucht erscheinen. Vergebens sucht er sie zu deuten, festzuhalten, zu verbinden; seine Erregung steigert sich endlich bis zur Tobsucht, aus welcher er in tiefste Er mattung hilflos zurücksinkt. Ein psychologisch merkwürdiges, aber musikalisch durchaus unerfreuliches Stück. Wenn Liszt, der begeistertste Verehrer Chopin’s, von dieser Composition sagt, sie stehe als ganz pathologisch außerhalb der Sphäre der Kunst, so ist dem nichts weiter beizufügen. Es wird er zählt, daß Chopin, als er des Nachts diese eben entstandene Polonaise sich vorspielte, die Thür seines Zimmers aufgehen sah und ein langer Zug polnischer Damen und Edelleute in alterthümlicher Tracht an ihm vorbeischritt. Diese Vision erfüllte ihn mit solchem Schrecken, daß er zur ent gegengesetzten Thür hinausflüchtete und jenes Zimmer des Nachts nicht mehr zu betreten wagte. Ein polnischer Maler, Kwiatowski, hat diese Vision „nach

Chopin’s eigenen Angaben“ in einem Bilde dargestellt. Am schönsten spielt Stavenhagen die Sachen seines Meisters Liszt. Er macht sie sogar erträglich und interessant, denn er spielt sie mit der Ueberzeugung und dem Enthusiasmus einer beneidenswerthen Jugend und hält sich fern von dem Raffinement und der Aufdringlichkeit sonstiger Liszt-Helden. Man vergißt willig die kindischen Ueberschriften: „Franz von Assisi predigt den Vögeln“, „Franz de Paula schreitet auf den Wellen“, wenn Stavenhagen diese beiden brillanten Etüden vorträgt. Die eine ahmt das Vogelgezwitscher nach, die andere das Wogengeräusch — also in beiden Fällen doch etwas Hörbares. Was soll man aber dazu sagen, wenn Liszt einem lahmen Andante, das sich in eine Octaven- Etüde stürzt, den erhabenen Titel gibt: „Il sposalizio; nach Rafael!“ Existirt denn kein unsterbliches Epos mehr, kein Drama, kein Monument, kein Historienbild, das sicher war vor Liszt’s unfehlbarem Nachmusiciren? Das soll an Rafael erinnern? Das die Vermälung Maria’s mit Joseph im Tempel darstellen? Nicht einmal die Hochzeit eines Clavier-Fabrikanten mit einer Virtuosin. Die falsche Tendenz, solche Schilderungen zu componiren, ist gottlob im entschiedenen Absterben; der zweifelhafte Ge schmack, sie in Concerten zu cultiviren, dürfte auch nicht lange anhalten. Auf diese getrillerten Heiligen-Legenden und Clavier gemälde „nach Rafael“ wirkte die Zigeunernatur in Liszt’s 12. Rhapsodie wahrhaft erquickend.

Ein Virtuose, der sich den mildthätigen Luxus erlaubt, ein großes Orchester-Concert zum Besten des Unterstützungs fonds des Wiener Conservatoriums zu geben, muß noch ein anderes als blos musikalisches Vermögen besitzen. Wir gratuliren Herrn Xaver Scharwenka recht herzlich dazu. Daß der Ertrag ziemlich gering ausfiel, schmälert nicht das Verdienst des Concertgebers, welchem, entsprechend den von ihm bestrittenen Unkosten, ein großartiger Beifall zu Theil wurde. Herr Scharwenka spielte zuerst sein bekanntes B-moll-Con cert, das er bereits im Jahre 1879 hier vorgetragen hat, und hierauf einige Solostücke von Mendelssohn, Schumann und Liszt. Durchwegs bewährte er sich als perfecter Virtuose von tadelloser Correctheit, ausdauernder Kraft und unfehlbarer

Bravour. Trotzdem hat mich sein Spiel weniger befriedigt, als vor zehn Jahren. Scharwenka ist seit lange als ein aus gezeichneter Clavier-Pädagoge gesucht und berühmt. Der Pro fessor scheint in ihm den Poeten todtgeschlagen zu haben. Was er spielt, klingt methodisch, abgecirkelt, nüchtern. Die frühere Solidität seines Vortrages ist zur Pedanterie ver knöchert. Wie kühl und poesielos geriethen unter Schar wenka’s Hand die genialen „Kreisleriana“ von Schumann! Solche Stücke wollen mit lebendigem Geist und tief einwurzelnder Empfindung, wie etwas individuell Er lebtes, gespielt sein. Auf die Finger des Virtuosen möchten wir da vergessen; bei Scharwenka vergaßen wir auf seine Seele. Auch sein Anschlag ist härter und steifer geworden; die vorlaute Herrschaft der linken Hand erinnerte an das strenge Commando eines Officiers, der seine Com pagnie in Tact und Ordnung erhält. Den Beschluß machte eine Symphonie in C-moll von der Composition des Concert gebers, welcher selbst dirigirte. Sie sucht durch die gewal tigsten Intentionen, durch das betäubendste Getöse, durch ungewöhnliche Länge und Breite zu wirken. In dem Be streben, etwas äußerst Leidenschaftliches, Tiefes und Groß artiges zu schaffen, hat Scharwenka leider sein Talent über schätzt. Schon der erste Satz, eine Verherrlichung des grim migsten Pessimismus, ist geeignet, den Hörer von der Neu gierde nach dem Folgenden zu heilen. In der Form fällt der Satz haltlos auseinander; die Logik symphonischer Ent wicklung erscheint abgedankt zu Gunsten eines sprunghaften melodramatischen Wesens. Man glaubt mitunter eine er regte dramatische Opernscene ohne Gesang zu hören. Es macht stets einen betrübenden Eindruck, wenn ein liebens würdiger Mann, der mit seiner Vernunft und dem Leben auf dem besten Fuße steht, sich ein großes tragisches Schicksal andichtet und durchaus für einen Hiob, Faust oder Manfred gelten will.

Es gab noch zwei große Orchester-Concerte, welche vom Hofcapellmeister Hanns Richter dirigirt und vom glück lichsten Erfolg gekrönt waren: die Production des Vereins „Nicolai“ und die Aufführung von Beethoven’s Festmesse durch die „Gesellschaft der Musikfreunde“. Der „Nicolai“ be

nannte Unterstützungsverein unserer Philharmoniker eröffnete sein Concert mit der (in Wien zum erstenmal gegebenen) Fest-Ouvertüre über das Rheinweinlied op. 123 von Robert Schumann. Das nicht bedeutende, aber wirksam instrumen tirte Stück empfiehlt sich immerhin als eine passende Er öffnungs- oder Schlußnummer für Concerte, in denen Chor und Orchester beschäftigt sind. Fräulein Henriette Standt hartner sang die Arie der Susanna aus Figaro’s Hoch zeit mit silberheller, reiner Stimme, einfach und an spruchslos, wie es der Styl dieser Musik erfordert und die natürliche Anmuth der jungen Künstlerin er warten ließ. Man dankte ihr mit anhaltendem, wohl verdientem Applaus. Die schönsten Leistungen boten aber die Philharmoniker selbst, als wollten sie, in dem Bestreben, das alljährliche Nicolai-Concert zu popularisiren, ihre eigenen Productionen in den Abonnements-Concerten noch überbieten. Der Sylphentanz aus BerliozDamnation de Faust“, ohne Frage das Juwel der ganzen Cantate, wirkte so be rauschend auf das Publicum, daß dieses die Wiederholung des Stückes erzwang. Nachdem der Sylphentanz wie ein Klangmärchen vorübergerauscht war, hörten wir die zwei letzten Sätze aus Beethoven’sC-dur Quartett op. 59 vom ganzen Streichorchester vorgetragen. Principiell ist ein solches Vorgehen wider die Absichten des Componisten nicht gutzuheißen. Die Ausführung war allerdings von hinreißen dem Schwung und bewunderungswürdiger Deutlichkeit des Vortrages. Hätte das Concert denselben materiellen wie künst lerischen Erfolg gehabt, dann wäre dem Verein „Nicolai“ zu gratuliren. Hoffentlich gelingt es diesem, sich ein stabiles Publicum zu erobern. Die künstlerischen Vorbedingungen dazu erfüllt er in hohem Grade.

Für die gelungene Aufführung von Beethoven’s Missa solennis“ gebührt Herrn Hofcapellmeister Richter der aufrichtigste Dank. Das ist eine jener gigantischen tief sinnigen Schöpfungen, welche oft gehört und gut gehört sein wollen, damit ihre Wunder wie ihre befremdenden Seltsam keiten uns völlig vertraut werden. Bekanntlich hat die aller erste vollständige Aufführung der Festmesse in Wien erst 1845, also zweiundzwanzig Jahre nach deren Vollendung, stattge

funden, und zwar durch den alten Lannoy-Schmiedl’schen Musikverein, den man noch gekannt haben muß, um sich von der Naivetät seiner dilettantischen Leistungen einen Begriff zu machen. Sechzehn Jahre später hat Her beck mit der ihm eigenen nachhaltigen Begeisterung das Werk wieder aufgenommen und in verhältnißmäßig kurzer Frist dreimal gegeben. Wir schätzen dies als eines der bedeutendsten Verdienste Herbeck’s, denn damit ward das Eis des Vorurtheils und der Gleichgiltigkeit für immer gebrochen. Dann ist die Festmesse je einmal unter Hellmesberger, Brahms, Gericke und jetzt zum zweitenmal unter Hanns Richter’s Leitung aufgeführt worden. Der Dirigent und seine Künstlerschaar beherrschten die ganz außerordentlichen Schwierigkeiten dieser Aufgabe mit seltenem Glück. Sie gaben uns eine ernste, solide, mitunter begeisterte Aufführung, der es an Energie und Mannigfalt der individuellen Charakte ristik nicht fehlte. Die Solopartien sangen Frau Wilt, Frau Kaulich, die Herren G. Walter und Weiglein, vier durch ihre musikalische Bildung und Treffsicherheit unschätzbare Künstler. Herrn Walter möchte ich den Preis zuerkennen, denn er sang stets mit Wärme, ohne doch in Weichlichkeit oder dramatischen Ueberreiz zu gerathen. Ein gutes Vorbild für die geschätzte Frau Kaulich, welche den Ausdruck kirchlicher Musik mitunter durch tremolirend leidenschaftlichen Vortrag ins Theatralische zog. Von Frau Wilt habe ich in früheren Jahren die gefährliche Sopran partie wiederholt gehört, jedesmal mit der aufrichtigsten Be wunderung ihrer Kunst wie ihrer Stimme. Die Kunst ist ihr geblieben, die Stimme — vordem ein Phänomen an Größe und Schönheit — dürfte man nur wie von ferne wiedererkannt haben. Sie hat nicht ihre Sicherheit, nicht ihre Energie, wol aber ihren Klangzauber eingebüßt. Je mehr Gewalt Frau Wilt auf das starke Anschlagen und Fest halten der hohen Töne verwendete, desto unerfreulicher wirkte der Klang derselben. Es gehört zu dem Schmerzlichsten, am letzten Krankenlager irgend einer wundervollen Stimme zu stehen; jede ist eine Individualität, niemals wiederkehrend und darum unersetzlich.