Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 8978. Wien, Freitag, den 23. August 1889 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 8978. Wien, Freitag, den 23. August 1889 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 23.08.1889
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Méhul.

Ed. H. Wenn man die einförmig düstere Gebirgsland schaft der französischen Ardennen durchstreift, so gelangt man immer dem Laufe der Maas folgend, zu dem Städtchen Givet, hart an der belgischen Grenze. Ein kleiner, reinlicher Ort, der als vorgeschobener Wachposten Frankreichs von der unnahbar steilen Festung Charlemont geschützt und vertheidigt ist. Mitten auf dem Marktplatz erhebt sich auf bescheidenem Sockel eine Marmorbüste mit der Inschrift: Etienne Nicolas Méhul. Das Monument ist durch Subscription errichtet und im Juni 1842, fünfundzwanzig Jahre nach Méhul’s Tode, enthüllt worden. Bei dieser Feierlichkeit er schienen blos belgische Musikvereine; keine einzige französische Deputation hatte sich eingefunden, um dem großen Compo nisten von „Joseph und seine Brüder“ zu huldigen. Die Pariser Opéra Comique, welche diesem Meister durch ein volles Vierteljahrhundert ihre größten Erfolge verdankte, hatte seine Werke längst der Vergessenheit geweiht, ja sogar eine Benefice-Vorstellung für das zu errichtende Denkmal rundweg verweigert. So gehört denn die Méhul-Büste zu jenen traurigen Monumenten, mit denen eine Nation sich gleichsam von der Verpflichtung loskauft, den Genius des in Marmor Verewigten lebendig zu erhalten. Die gänzliche Verschollenheit Méhul’s in seinem Vaterlande ist eine be trübende Thatsache. In Deutschland lebt der französische Meister durch seinen „Joseph“ heute noch fort, während man in Paris immer nur das Lob Méhul’s, aber niemals seine Musik zu hören bekommt. Es ist derselbe Fall wie mit Cherubini, dessen „Wasserträger“ eine Lieblingsoper der Deutschen geblieben ist, während diese und alle anderen Opern des Florentiners in seiner italienischen Heimat wie in seinem Adoptiv-Vaterlande Frankreich vergessen und verschollen sind. Méhul hat wenigstens eine literarische Wieder-Erweckung erfahren. Daß sein thaten- und ereignisreiches Leben jetzt zum erstenmal vollständig und hellbeleuchtet vor uns liegt, ist ein Verdienst, eines der vielen Verdienste, des trefflichen Musikschriftstellers Arthur Pougin. Méhul, sa vie, son génie, son caractère“, par Arthur Pougin. (Paris, chez Fischbacher, 1889.)

In den Biographien großer Künstler bildet meistentheils die Jugendgeschichte das ungenügendste Capitel; die Anfänge liegen mehr oder minder im Dunkel, erst mit den Erfolgen, mit der anbrechenden Berühmtheit wird es Licht. Ueber Méhul’s Jugend erfahren wir durch Pougin Genaueres, als bisher bekannt war. Méhul (dessen Taufname Etienne Nicolas lautete und nicht, wie alle Handbücher angeben, Etienne Henri) war in Givet am 22. Juni 1763 geboren. Es erscheint fast wunderbar, wie er, der als Sohn eines kleinen Weinhändlers in einem verlorenen Bergwinkel Frank reichs ohne jede künstlerische Anregung aufwuchs, schon in seiner frühesten Jugend, von leidenschaftlicher Musikliebe ge trieben, die Wege fand, sich musikalisch zu bilden und sogar seine Familie für den Gedanken einer Componisten-Laufbahn zu stimmen, welche damals Allen unbegreiflich, aussichtslos erscheinen mußte. Für den Anfang hatte er keinen andern Lehrer, als den alten blinden Organisten des Klosters. Schon als zehnjähriger Knabe übernahm Méhul dessen Amt und lockte durch sein Orgelspiel die Menge in die kleine Kloster kirche, während die Hauptkirche leer blieb. Ein ganz unver hofftes, ungewöhnliches Ereigniß mußte jedoch eintreten, sollte der kleine Musiker nicht zeitlebens in diesen dürftigen An fängen stecken bleiben. Ein solches Ereigniß war die Ankunft eines ausgezeichneten deutschen Organisten, Wilhelm Hanser, in der weithin berühmten Abtei Laval-Dieu nächst Givet. Hanser, damals etwa 35 Jahre alt, war in Schwaben ge boren, Prämonstratenser-Mönch, ein Virtuose auf der Orgel und Meister im Contrapunkt. Der Abt von Laval-Dieu hatte vom General der Prämonstratenser 1775 den Auftrag erhalten, die bedeutendsten Klöster dieses Ordens zu besuchen. In der Abtei von Schussenried in Schwaben hörte er mit Bewunderung Hanser spielen und erlangte es, ihn nach Laval-Dieu mitnehmen zu dürfen. Dort gründete Hanser eine Musikschule für acht Zöglinge, worunter der junge Méhul, welchem er durch vier Jahre Unterricht im Orgel- und Clavierspiel, wie in der Composition ertheilte. Man hat oft und mit Recht an Méhul’s Musik hervorge hoben, daß ihr weniger die graziöse Leichtigkeit der Franzosen, als vielmehr der kräftige Ernst der Deutschen aufgeprägt sei. Diesen Charakterzug, diese deutsche Färbung pflegt man schlechthin dem Einflusse Gluck’s zuzuschreiben. Allein der deutsche Einfluß ruhte, wie wir sehen, tiefer und hatte viel früher

begonnen. Unterricht und Beispiel des Deutschen Hanser, dieses einzigen Lehrers, den Méhul je gehabt, wirkten grund legend und entscheidend. Méhul arbeitete nun mit rastlosem Fleiß; die Ruhe und Einsamkeit des Klosters, der ununter brochene Verkehr mit Hanser waren ernstem Studium günstig. Oft hat Méhul in späteren Tagen diese friedlichen, im Kloster verbrachten Jahre als die glücklichsten seines Lebens bezeichnet. Unter welchen Umständen Méhul das Kloster verlassen hat, ist nicht mehr zu ergründen. Alles schien ihn dort festhalten zu wollen: die Liebe seiner Vor gesetzten und der Mönche, der Wunsch seiner Eltern, ihn einst als Geistlichen zu sehen, die sichere Aussicht auf die Organistenstelle im Hause. Glücklicherweise kam es anders. Ein Musikfreund, wie es heißt der Oberst eines in Charle mont garnisonirenden Regiments, hörte im Kloster den jungen Méhul und entschloß sich, ihn nach Paris zu bringen. Im Jahre 1778 installirte sich Méhul daselbst und verdiente sein Brot anfangs durch Unterrichtgeben. Für die Angabe der meisten Biographen, Méhul habe in Paris eine Organisten stelle versehen, findet sich nirgends eine Bestätigung. Jeden falls muß der kaum 16jährige Knabe einen nicht gewöhn lichen Muth und Ernst besessen haben, um in diesem Alter und diesen Verhältnissen sich mitten in den Schlund von Paris zu stürzen. Er hat es nicht zu bereuen gehabt, aber er mußte doch zwölf Jahre lang warten auf seinen ersten Erfolg. Méhul’s größter Schatz war der Empfehlungsbrief, den ihm Hanser an seinen berühmten deutschen Landsmann Gluck mitgegeben hatte. Der Componist der „Alcesteempfing den jungen Musiker freundlich aufmunternd und setzte ihm in wiederholten Gesprächen seine Grundsätze vom musikalischen Drama auseinander. Der Same fiel jeden falls auf guten Boden und keimte so üppig, daß Méhul zehn Jahre später es unternehmen konnte, auf die Opéra comique die Grundsätze zu übertragen, denen Gluck in der Großen Oper zum Siege verholfen hatte.

Méhul’s ganze Anlage drängte ihn unwiderstehlich zum Dramatischen. Seine drei ersten Opern schrieb er, ohne an eine Aufführung zu denken, blos zur eigenen Uebung, „pour se former la main“. Die erste von ihm zur Aufführung gelangte Oper war „Euphrosine, ou le Tyran corrigé(1791). Das Textbuch hatte ihm F. B. Hoffmann, einer der geistreichsten, originellsten Menschen des damaligen Paris,

geschrieben. Obwol für die Opéra comique bestimmt, war das Stück doch von sehr düsterer, fast tragischer Färbung. Das zur Melancholie neigende Temperament Méhul’s, das Vorbild von Gluck’s Tragödien, wol auch der Eindruck der furchtbaren Revolutionsscenen, die sich damals unter seinen Augen abspielten, mochten diese seltsame Wahl mitbestimmt haben. Jedenfalls schwebte dem Componisten eine Art Um gestaltung und Erweiterung der „Komischen Oper“ vor, welcher er einige von Gluck’s mächtigen dramatischen Ele menten einzubürgern suchte. Als Ziel steckte er sich die Schil derung der Leidenschaften im rein menschlichen, im bürger lichen Drama — im Gegensatz zur Schilderung der Leiden schaften im heroischen und mythologischen Drama, dieser Domäne der Großen Oper. Méhul’s Opern: Euphrosine, Stratonice, Ariodant, Phrosine, Joseph, waren die Resultate dieser neuen reformirenden Aesthetik, welche dem Publicum eine fortströmende Quelle noch unbekannter Genüsse und starker Erregungen aufschloß. F. B. Hoffmann hatte den Stoff zu seiner „Euphrosine“ einer alten Novelle Coradin“ entnommen, welche auch der Rossini’schen Oper „Matilda di Shabran“ zu Grunde liegt. Fünfactig, in Alexandrinern, schwerfällig in der Form und von unerträglicher Länge, konnte dieses Libretto nur durch die Macht einer ganz außerordentlichen Musik einen Erfolg erringen und behaupten. In der That schuf Méhul mit dieser Erstlingsoper ein Meisterwerk, das ihn mit Einem Schlag unter die ersten Componisten reihte. „Euphrosine“ hat ihn in 24 Stunden zum berühmten Mann gemacht. Ohne den geringsten Zu sammenhang mit den Ideen der Revolution eroberte diese Oper die vollste Theilnahme eines Publicums, das damals alle ähnlichen nichtpolitischen Stücke fallen ließ. „Euphrosineward später auf vier, endlich auf drei Acte reducirt und hat sich in dieser Form mehr als vierzig Jahre lang auf dem Repertoire der Opéra comique erhalten. Es ist ein merkwürdiges Werk, das trotz mancher veralteter Stellen noch heute unser lebhaftes Interesse erregt und von keinem angehenden Operncomponisten, ignorirt werden sollte. Insbesondere das berühmte Eifersuchtsduett ent ladet eine dramatische Schlagkraft, die man der franzö

sischen Musik des vorigen Jahrhunderts kaum zutrauen sollte. Der alte Grétry, bekanntlich kein Verschwender im Lobe seiner Collegen, behauptete, dieses Duett sei das effectvollste dramatische Stück, das überhaupt existirt, und Méhul vereinige in der „Euphrosine“, Gluck’s sechzigjährige Reife und Erfahrung mit der vollen Frische seiner eigenen Jugend. Hektor Berlioz gibt dieser Erst lingsoper sogar den Vorzug vor allen späteren Werken Méhul’s und stellt das Duett „Gardez vous de la jalousie— „dieses furchtbarste Beispiel leidenschaftlichen Ausdruckes in der Musik“ — den Eifersuchtsscenen in Shakespeare’s Othello an die Seite. Die Partitur interessirt auch durch mancherlei Seltsamkeiten. Die Hauptperson (Euphrosine) singt nicht ein einzigesmal allein; sie hat keine Arie, keine Ro manze, nicht einmal ein Duett, sondern nur einen Antheil an den Ensemble-Nummern. Im Finale des ersten Actes regt sich bereits der anspielende Reiz eines „Leitmotivs“. „Euphro sine“ bezeichnet einen Markstein in der Geschichte der Opéra comique. Von da an ist’s vorbei mit dem bloßen Singspiel, mit den „pièces à ariettes“; die Musik behauptet fortan eine ungleich größere Wichtigkeit in den Werken dieser Gat tung. Auch in seiner nächsten, nach der „Euphrosine“ com ponirten Oper „Stratonice“ (1792) zeigt sich Méhul in der Vollkraft und auf der Höhe seines Talentes. Die (einer griechischen Erzählung des Lucian entnommene) Geschichte der Prinzessin Stratonice und des großmüthigen syrischen Königs Seleucus, welcher zu Gunsten seines von Stratonice geliebten Sohnes auf die Hand der Prinzessin verzichtet, ge hörte zu den Lieblingsstoffen jener Zeit. Sie ist — mit und ohne Musik — sehr oft dramatisirt worden, in Frankreich allein von zehn verschiedenen Autoren. F. B. Hoffmann hatte eine einactige Oper mit nur vier Rollen daraus gemacht und sie sonderbarerweise als „Comédie héroique“ bezeichnet. Der Stoff war ernst und herb behandelt; es bedurfte des ganzen leidenschaftlichen Reizes der Méhul’schen Musik, um das Publicum der Opéra comique mit der ungewohnten Strenge griechischen Styls und Costüms zu befreunden. Méhul ver mochte noch einigemale (namentlich im Joseph) die Höhe dieses Kunstwerkes zu erringen, darüber hinaus hat er sich

in keinem späteren Werke erhoben. Merkwürdig ist wieder, daß Stratonice, die einzige Frauenrolle in dieser Oper, gar keine Solo-Nummer hat, sondern blos in einem Quartett, und zwar erst am Schlusse desselben, mitsingt. „Stratoniceerhielt sich lange auf dem Repertoire und wurde noch 1826 gespielt.

Der außerordentliche Erfolg der Opern „Euphrosineund „Stratonice“ stellte den Componisten sehr hoch in der öffentlichen Meinung. Ehrgeizig wie er war, fühlte Méhul sehr lebhaft die Verpflichtungen, welche so schnell erworbener Ruhm ihm auferlegte. Die Besorgniß, nicht auf gleicher Höhe zu verbleiben, quälte ihn unausgesetzt. „J’aime la gloire avec fureur,“ sagt er selbst in einem an das Journal des Spec tacles gerichteten Briefe. Er entwickelt fortan eine fieberhafte Thätigkeit. Im Laufe von vier Jahren (1790 bis 1791) hat er acht dramatische Werke zur Aufführung gebracht. Freilich errangen nur drei derselben („Euphrosine“, „Stratonice“ und Mélidore“) einen entschiedenen Erfolg. Wir können die übrigen, in Deutschland kaum dem Namen nach bekannten hier füglich übergehen. Weit mehr interessirt uns der eintretende und immer stärker anwachsende Einfluß der fran zösischen Revolution auf Méhul’s künstlerische Thätigkeit. Tyrannisch im Kleinen wie im Großen, wollten die Be hörden auch die Werke der Kunst ausnahmslos in den Dienst der republikanischen Ideen zwingen. Die Proben zu Méhul’s neuer Oper „Mélidore und Phrosine“ waren in vollem Gange, und noch immer konnte man die Er laubniß zur Aufführung mit aller Mühe nicht er langen. Der Citoyen Baudrais, Vorstand des Comités zur Ueberwachung der Theater, erklärte den bei ihm vorsprechenden Autoren Arnault und Méhul, daß er das Textbuch durchaus harmlos und unschuldig finde. „Aber das genügt nicht,“ fügte er hinzu: „der Geist Ihrer Oper ist nicht republikanisch, die Sitten Ihrer Personen sind nicht republi kanisch, das Wort Freiheit kommt nicht ein einzigesmal vor. Sie müssen Ihre Oper in Uebereinstimmung mit unseren In stitutionen bringen!“ Mit Hilfe von einem Dutzend einge streuter Verse wurde das Wort Freiheit möglichst oft ange bracht. Allein nun hieß es wieder: es habe bisher Méhul

noch kein eigentlich „patriotisch-republikanisches Werk“ gelie fert: ein solches müsse der Aufführung der harmlosen „Phro sine“ vorangehen. Wiederum fügten sich Méhul und sein Poet Arnault. Sie schrieben rasch die einactige Oper „Ho ratius Cocles“ (1794), worin neben dem Titelhelden auch noch als zweites republikanisches Tugendmuster Mucius Scävola auftritt. Erst nach Aufführung dieses „patriotischen“ Stückes durften die Pforten des Théâtre Favart sich für Mélidore und Phrosine“ öffnen. Die Oper mußte aber auch dann noch mancherlei Prüfungen bestehen. Ihre Première hatte sechs Wochen vor dem Sturze Robespierre’s mit gro ßem Erfolge stattgefunden (6. Mai 1794); dieser Erfolg war nicht nach dem Geschmacke der nunmehr herrschenden Partei. Nachdem man in Text und Musik keinen Grund zur Anklage finden konnte, suchte man einen solchen in den Costümen und Decorationen und denuncirte die Autoren wegen der luxu riösen Ausstattung, an welcher sie gänzlich unschuldig waren. Arnault und Méhul, geängstigt von diesen Verfolgungen, glaubten eines Vertheidigers im Wohlfahrtsausschusse zu be dürfen und begaben sich persönlich zu Barère, den man ob der blumenreichen Phrasen, womit er seine Blutdecrete zu drapiren liebte, den „Anakreon der Guillotine“ hieß. „Wenn Sie mir folgen,“ rieth ihnen der fürchterliche Mann, „so thun Sie ja keinen Schritt. Wer immer heute die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenkt, muß auf Denunciationen ge faßt sein. Stehen wir nicht Alle am Fuße der Guillotine, Alle, von mir angefangen?“ Das Beispiel Barère’s, der wirklich am Fuße des Schaffots schlief, wie ein Artille rist vor der Mündung der von ihm geladenen Kanone, wirkte auf die geängstigten Autoren, und sie verhielten sich ruhig.

Noch tiefer in die republikanische Strömung gerieth Méhul durch die Verbindung mit dem gefeierten Dichter Marie Joseph Chénier, zu dessen Drama „Timoleoner die Chöre componirte. Das Stück, dessen Tendenz gegen die blutdürstige Tyrannei gerichtet war, durfte deßhalb erst nach dem Tode Robespierre’s zur Aufführung kommen. Es war nicht das einzige Werk, das die beiden gefeierten Na men Chénier und Méhul vereinigte. Ihrem Zusammenwirken dankt Frankreich die großartige Hymne „Chant du

départ“, welche gleich der Marseillaise siegreich ganz Europa durchzog. Sie erklang zum erstenmale in Paris am fünften Jahrestage der Erstürmung der Bastille (14. Juli 1794) und blieb fortan ein unerläßlicher Bestandtheil aller patriotischen Feste. Mit einer zweiten Hymne von Chénier und Méhul, „Chant de la Victoire“, wurde der berühmte Tag der „fünften Sansculottide des Jahres II“ gefeiert, während Marat’s Leiche im Panthéon beigesetzt und gleich zeitig die Asche Mirabeau’s, „als unwürdig, neben dem Freunde des Volkes zu ruhen“, hinausgeworfen wurde. Noch viele andere patriotische Hymnen hat Méhul componirt.

Man muß daraus keineswegs auf eine republikanische Gesinnung des Componisten schließen wollen. Obwol nicht ohne Sympathie für die Ideen von Freiheit, hielt sich Méhul doch stets abseits von allen Parteien und äußerte niemals eine politische Meinung. Als ein fruchtbarer Componist von besonderer Begabung für den Ausdruck des Kraftvollen, Heroischen, Feierlichen, fand er in patriotischen Hymnen ein sehr günstiges Feld für seine Thätigkeit. Wegen derselben Vorzüge wurde Méhul unter dem Consulat und dem Kaiser reich mit der Composition von officiellen Hymnen beauftragt, und diese athmeten denselben pathetischen und dabei popu lären Schwung, wie seine Revolutionslieder. Alle französischen Componisten jener Zeit, Cherubini, Lesueur, Gossec, Catel, Devienne etc., mußten zu dem großen musikali schen Bedarf der Nationalfeste beitragen. Méhul war aber glücklicher als sie Alle; sein „Chant du départ“ ist die einzige jener patriotischen Hymnen, die sich neben der Mar seillaise erhalten hat. Bonaparte, welcher Méhul als Menschen und Künstler hochschätzte, hegte eine besondere Vorliebe für den Chant du départ, den er von sämmtlichen Militär musiken spielen ließ bis zum Ende des Consulats. Erst als Kaiser fand er es zweckmäßig, diese den Ruhm der Republik verherrlichende Hymne zu verbieten.

Méhul’s Ruhm und Autorität waren so anerkannt, daß bei der Gründung der Akademie (1795) er als einziger Musiker zum „membre de l’Institut“ ernannt, auch einige Jahre später von allen Tonkünstlern der erste mit dem Kreuz der Ehrenlegion geschmückt wurde. Trotz seiner ge

häuften Beschäftigungen fand er doch Zeit und Lust, den Verkehr mit den vorzüglichsten Geistern seiner Zeit zu pflegen, als liebenswürdiger Gesellschafter und virtuoser Märchen erzähler die berühmten Salons der Madame Récamier, des Consuls Bonaparte, des Schauspielers Talma u. A. zu be leben. Seine schwächliche Gesundheit und Neigung zur Melancholie schienen ihn noch anziehender zu machen, ins besondere für die Damenwelt. Leider hatte er das Unglück, aus seinen Verehrerinnen nicht die rechte für sich auszu wählen. Er heiratete die Tochter eines Arztes in Avignon, Dr. Gastaldy, der, ein excentrischer Lebemann, sich weit mehr mit Gastronomie beschäftigte, als mit seiner Wissenschaft und seinen Patienten. Er gab seine vornehme Clientel in Avignon auf und ließ sich in Paris nieder, wo er die Nächte am Spieltisch, die Tage im Bett oder bei Gastmälern verbrachte, ein bedeutendes Vermögen rasch verschleudernd. Man darf annehmen, daß die Tochter eines solchen Mannes etwas von den Gewohnheiten und Anschauungen ihres Vaters über kommen habe. Mademoiselle Gastaldy wird als eine hübsche, sehr lebhafte und intelligente kleine Person geschildert. Den Werth ihres Gatten verstand sie nicht; die Disharmonie zwischen Beiden wuchs bald zur vollsten Unverträglichkeit. Gleich nach der Hochzeit hatte Madame Méhul eine Freundin ins Haus genommen, von der sie sich keinen Augenblick trennte; die Verwandten ihres Mannes hingegen behandelte sie mit größter Unfreundlichkeit. Bald wurde ein erträgliches Zusammenleben unmöglich, und die Scheidung erfolgte. Madame Méhul hat ihren Gatten um volle 40 Jahre über lebt. Niemals sprach sie seinen Namen aus, dessen Ruhm sie gänzlich unempfindlich ließ, niemals ließ sie einen Ver wandten ihres Mannes vor. Nach dem Tode Méhul’s eilte sie sofort nach Paris, packte in der Wohnung des Verstor benen hastig Alles zusammen, was nicht niet- und nagelfest war, und fuhr damit unverweilt zurück nach ihrem Aufent haltsort Lyon. Nach der Scheidung und der Abreise seiner Frau war es in Méhul’s Hause ruhig geworden. Aber ein Gefühl von Bitterkeit und Vereinsamung bemächtigte sich seiner, das, immer zunehmend, Zeit seines Lebens schwer auf ihm lastete. (Ein Schlußartikel folgt.)