Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9059. Wien, Dienstag, den 12. November 1889 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9059. Wien, Dienstag, den 12. November 1889 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 12.11.1889
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Josua“, Oratorium von Händel. (Erste Aufführung in Wien am 10. November 1889.)

Ed. H. Ein Händel’sches Oratorium und „Erste Auf führung in Wien“? Wir wissen für diese befremdende, ja unbegreifliche Verspätung weder äußere noch innere Gründe anzugeben. Das Recht individueller Vorliebe unangetastet, steht doch „Josua“ ohne Frage neben Händel’s besten Wer ken. Sechs Jahre nach dem „Messias“ componirt (1747), gehört „Josua“ zu den spätesten Schöpfungen des Meisters — also zu seinen vollkommensten. Die Reihe von Oratorien, die ihn unsterblich gemacht, hat er alle in vorgerückten Jahren geschrieben, darin Gluck und Haydn ähnlich, welche ihr Größtes in einem Alter schufen, in welchem dem Künstler sonst nur eine Nachlese vergönnt ist. Nicht die Werke seines Alters, die seiner Jugend sind veraltet. Ungenieß bar nennen wir die vielen italienischen Opern des Jüng lings und Mannes, während wir an den Oratorien des Greises uns noch lange erbauen werden. „Josuaist, wie die große Mehrzahl der Händel’schen Ora torien, dem Alten Testament entnommen. Möglich, daß man in Wien nicht für dringend erachtete, den „Josuaeinem Publicum vorzuführen, welches Samson, Jephta, Belsazar, Israel in Egypten, Judas Maccabäus kannte — gerade wegen der Aehnlichkeit dieser alttestamentarischen Vor gänge. Da werden regelmäßig die Israeliten einmal geschlagen und stimmen Klagelieder an, dann siegen sie wieder und preisen Jehovah. Der Chor wechselt fast immer zwischen diesen beiden Situationen, und er, der Chor, ist der eigent liche Held, ist Haupt- und Mittelpunkt aller Händel’schen Oratorien. Die Sologesänge stehen daneben in zweiter Reihe. Die Geschichte der Juden bot dem Tondichter große Volks bewegungen, wunderbare Begebenheiten, in welchen das Schicksal der Nation mit dem ihrer Helden sich verknüpft. Außerdem mochte die Vorliebe der Engländer für das Alte Testament ihn in der Wahl dieser Stoffe bestärkt haben.

Die Engländer, die heute noch ihren christlichen Kindern gern alttestamentarische Namen geben (Esther, Rahel), wachsen in intimer Vertrautheit mit allen Begebenheiten jener Vorzeit auf und sehen die jüdischen Kriegshelden Josua, Saul etc. so lebendig vor Augen, wie wir etwa den Blücher oder Wellington. Auch der protestantische Norden ist tiefer eingelebt in die Persönlichkeiten des Alten Testaments, als wir katholische Süddeutsche oder gar die romanischen Völker. Trotzdem dürfte allenthalben wahrzunehmen sein, daß jenes Stoffgebiet in der Kunst einem stetig abnehmenden Interesse begegnet. Packte uns nicht Händel’s gewaltige Musik, der stereotype Wechsel von Siegen und Niederlagen des jüdischen Heeres würde uns heute leidenschaftlichen Antheil kaum abgewinnen. Diese Geschichten sind uns mehr ehrwürdig, als interessant; wir fühlen sie, nur schwach mitvibrirend, wie einen weit ent fernten Ton, sehen sie vielleicht gar durch die Brille moderner Forschung. Händel, der mit der Andacht unerschütterlichen Glaubens zu seinem biblischen Helden emporblickte — was für Augen würde er gemacht haben, wenn er ein Buch wie Renan’s vortreffliche „Histoire du peuple d’Israël“ erlebt hätte! Von seinem frommen Josua heißt es darin: „Ich weiß nicht, ob Josua mehr geschichtliche Wirklichkeit hat, als Jacob. Aber gewiß würde der sanfte Jacob sich empört haben, hätte er eine Menge Handlungen Josua’s sehen können, die später für ruhmvoll galten. Jacob soll auf seinem Sterbebette Simeon und Levi wegen Missethaten verflucht haben, die im Vergleich mit Josua’s Eroberungszug als geringfügige Recriminationen erscheinen.“ Moses selbst, der Vorläufer und Beschützer Josua’s, ist für Renan „beinahe ein Egyp tier“, und seine Rolle „mehr die eines Häuptlings à la Abd-el-Kader, als die eines Offenbarers (révélateur) von der Art Mahomed’s“. Moses’ Erlebniß auf dem Sinai nennt Renan „eine grandiose Legende, welche in den folgenden 4- bis 500 Jahren gleich einer Seifenblase anschwoll, um so glänzender und farbiger, je leerer sie ist“. Heute muß ein armes Menschenkind, das von modernen Bildungselementen erfüllt und von dem Athem einer gewaltigen Wirklichkeit an geweht ist, sich selbst einen sanften Ruck geben, will es für die Thaten Josua’s dieselbe Wärme aufbringen, welche

Händel beseelt hat. Ja, das biblische Oratorium dünkt uns eine halbverstorbene Kunstgattung: ihre lebendige Hälfte ist die Vergangenheit, ist Bach und Händel — ihre todte Hälfte: Heute und Morgen. Wir verstehen, warum Brahmsder einzige lebende Tonsetzer, welcher die Form des großen Oratoriums zu bewältigen und beleben vermöchte — davon trotz aller Aufforderungen fern bleibt.

Die Handlung von Händel’s „Josua“ hat sein Text dichter Thomas Morell in folgenden Hauptzügen gestaltet: Josua hat die Israeliten eben durch den Jordan geführt, und das Volk singt Jehovah ein Loblied. Jerichos Zerstörung wird durch einen Engel befohlen und von Josua beschlossen. Unter dem Schalle seiner Posaunen stürzen die Mauern von Jericho: der Sieg wird mit Lobgesängen gefeiert. Der Krieg gegen die Stadt beginnt unglücklich, endet aber mit Sieg. Adonizedet wird unter dem von Josua bewirkten Stillstande der Sonne geschlagen. Der Jüngling Othniel, welcher Achsah, die Tochter des Stammesfürsten Kaleb, liebt, erobert für ihn die Stadt Debir und erwirbt sich dadurch seine Braut. Ein Dank- und Preislied macht den Schluß. Diesen Stoff hat Händel in demselben Geiste und in gleicher Form behandelt, wie seine übrigen Oratorien, d. h. zum Theil mit genialer Schöpferkraft und Kunst, zum Theil in der flüch tigen, dem Zeitgeschmack nachgebenden Manier, die von seiner fabelhaften Productivität unzertrennlich war. Wer heute irgend ein Händel’sches Oratorium zum erstenmal zu hören be kommt (wie jetzt die Wiener den „Josua“), der ist sicher, Großes und Schönes zu erleben. Aber er darf nicht er warten, in diesem neuen Oratorium auch überall Neues zu hören. Vielleicht wird er behaupten, es sei diese und jene Arie ihm vorher schon bekannt gewesen, und doch vernimmt er sie thatsächlich zum erstenmal. Händel wiederholt sich eben häufig, er kennt gar nicht das Bedürfniß, immer etwas Neues zu sagen. Dieselben stereotypen Wendungen, Figuren, Schlüsse kehren immer wieder. Es lag in der Anschauungs weise der älteren Meister, mit der größten Unbefangenheit Anlehen bei sich selbst (und auch bei Anderen) zu machen.

Das Schwergewicht der Josua-Partitur liegt in den Chören. Hier findet Händel’s Kunst die reichste Entfal

tung, die vollste Blüthe. Wir nennen nur einige davon, die, unter einander sehr verschieden, alle auf gleicher Höhe musi kalischer Meisterschaft und unwiderstehlicher Wirkung stehen. Da ist zuerst der Klagechor der geschlagenen Israeliten in E-moll („Wie bald die stolze Hoffnung sank“), ein Gesang von tiefschmerzlichem und doch ungemein würdigem Ausdruck. Zwei Flöten — nur selten sind sie in dem Oratorium an gewendet — hauchen einen eigenartig weichen, elegischen Ton über diese rührende Volksscene. Den stärksten Gegensatz dazu bildet der berühmte Triumphgesang in der dritten Abthei lung: „Seht den Sieger!“ Die erste Strophe wird von einem dreistimmigen Knabenchor gesungen und blos von der Orgel („tasto solo“) begleitet. Hierauf singt ein Frauenchor, von zwei Flöten begleitet, die zweite Strophe. In der Wiener Aufführung vermißten wir die Knabenstim men und mit deren scharf abstechendem Timbre den von Händel be absichtigten Contrast. Endlich steigert sich der Gesang im vollen Chor zur mächtigsten Wirkung; die be gleitenden Streichinstrumente erhalten eine glänzende Ver stärkung durch Oboën, Flöten, Hörner und Pauken. Dieser Preisgesang, mit dem das Volk den heimkehrenden Sieger begrüßt, wirkt durch seine ungemeine Einfachheit und Volks thümlichkeit. Händel hat das Stück später seinem Orato rium „Judas Maccabäus“ einverleibt; componirt ward es für „Josua“. Nächst dem „Hallelujah“ aus dem „Messiasgenießt wol kein Stück von Händel eine solche Popularität in England, als dieses „Seht den Sieger!“, das bei festlichen Aufführungen selten fehlt. Ein Prachtstück ist der Lobgesang der Israeliten in H-moll („Allmächt’ger Herr im Himmels kreis“), dessen Thema zuerst Josua nach Art eines Vor beters intonirt, um es hierauf dem Chor zu kunstvollster contrapunktischer Behandlung zu überantworten. Von Glanz und Kraftgefühl überströmt der Chor „Ehre sei Gott!“ Der Mittelsatz „Die Völker beben“ bietet ein merkwürdiges Beispiel von Tonmalerei, zu welcher nicht blos die Instrumente, sondern auch die das „Beben“ aus drückenden Singstimmen herangezogen werden. Ein genialer Zug musikalischer Malerei erglänzt auch in dem Chor, wel chen Josua’s Ausruf einleitet: „Du Licht des Tages, das hoch am Himmel thront, hemm’ deinen Lauf!“ Nach einem majestätischen Aufschwunge des Orchesters hält das Wort Josua’s die Violinen auf dem hohen A fest. Sie behaupten

hartnäckig diesen Ton; ein zweiunddreißigtactiger Orgel punkt, innerhalb dessen sich eine lange Reihe kämpfender Accorde bewegt. Was die Arien im „Josua“ betrifft, so sind die meisten mit ihrem steifen, vom Orchester in gleich mäßigen Abständen unterbrochenen Gesang und ihren Colo ratur-Passagen für uns rettungslos veraltet. Die erste Arie des Kaleb („Du Held der Weisheit“), Josua’s Arie „Wie Kidron’s Bach“, die beiden letzten Arien der Achsah sind in der Wiener Aufführung ohne Schaden weggeblieben. Auch manche von den athemversetzenden Singübungen, mit welchen Josua seine Heldengefühle ausdrückt, würden einige Kürzung vertragen. Von echt patriarchalischer Würde ist hingegen die Arie des greisen Kaleb: „Sollt’ ich in Mamre’s Segensauen“, von schlichter Empfindung die Arie Achsah’s: „All’ irdischer Stolz“; lieblich und nicht ohne Zärtlichkeit Othniel’s Reci tativ und Arioso in der ersten Abtheilung. Eine hier weg gebliebene Arie des Othniel ist mir immer merkwürdig er schienen durch ihre nackte Einfachheit und ihre ganz volks thümliche, an englische Nationalweisen erinnernde Melodie: die „tempo di Gavotta“ überschriebene F-dur-Arie: „Kämpft der Held, nach Ruhm begehrend“. Vielleicht stieß sich der Dirigent an ihrem vom Styl des Ganzen abstechenden Charakter; aber gerade das macht sie interessant.

Die von Herrn Hof-Capellmeister Richter dirigirte Auf führung verdient alles Lob. Der „Wiener Singverein“ und das Orchester hielten sich durchwegs sehr tapfer. Ein unrichtiger Einsatz in dem Chor „Seht den Sieger!“ war schnell ver tuscht. Die Solopartien betreffend, ist es männiglich be kannt, daß heute selbst die besten Opernsänger dem Händelschen Styl entfremdet sind und nur mit einiger Mühe seine reich colorirten Arien bewältigen. Dies vorausgeschickt, ge bührt den Leistungen unserer Solosänger im „Josua“ die wärmste Anerkennung. Der Vortrag der Recitative erschien uns jedoch zu starr und monoton; sie werden (fast in allen unseren Oratorien) in Tact und Tonstärke zu gleichmäßig gesungen, überhaupt zu sehr gesungen. Wir vermißten die rhetorische Belebung, die wechselnde Beleuchtung, welche sich dem verschiedenen Inhalt des Recitativs anzuschmiegen hat. Die meisten Recitative im Josua sind ja dramatisch oder lyrisch, die wenigsten blos erzählend, und Erzählen heißt noch immer nicht Predigen. Der um die Mannigfaltigkeit des Inhalts unbekümmerte, immer gleich starke und gleich schlep

pende Vortrag der Recitative wird zu einem Bleigewicht für die Composition und zu einer Geduldprobe für den Zuhörer. Am wenigsten schien uns Frau Papier in diesen Fehler zu verfallen; sie hat auch durch ihren beherzten Vortrag der Schlacht-Arie im dritten Theil das Publicum aus bereits drohender Lethargie glücklich aufgerüttelt. Die Sopranpartie (Achsah) war einer jungen Sängerin, Fräulein Leonore Bach, anvertraut, die zum erstenmal vor einem größeren Publicum auftrat. Sie ist eine sehr musikalische Natur mit einer Intonation und vortrefflicher Oekonomie des Athems, und hat durch ihre helle, jugendfrische Stimme, wie durch ihren unge künstelten Vortrag den besten Eindruck erzielt. Wir können nur wünschen, Fräulein Bach als Oratorien-Sängerin wieder zu be gegnen. Der Heldengestalt des Josua kam der kräftige Tenor Herrn Winkelmann’s wohl zu statten. Als Kaleb war Herr Weiglein maßvoll und correct wie immer. Elegische Par tien, wie diese, machen es freilich doppelt fühlbar, daß Herr Weiglein seiner Stimme weichere Modulationen, über haupt Modulationen, nicht abzugewinnen vermag. Die kleine Episode des Engels sang Fräulein Tschampa befriedigend. Das Publicum verfolgte die erste Hälfte des Oratoriums sehr aufmerksam und beifallslustig; nach 2 Uhr begann die gewöhnliche Flucht in größeren oder kleineren Rotten. Dem ist, wie schon so oft gesagt, nur dadurch ab zuhelfen, daß man umfangreiche Aufführungen schon um zwölf statt um halb Ein Uhr beginnen läßt. Dann wird der Dirigent auch nicht genöthigt sein, ein Oratorium von an geblich „drei Abtheilungen“ ohne Pause als Ein ununter brochen fortlaufendes und dadurch doppelt ermüdendes Stück abzuspielen.

Die Aufführung des „Josua“ ist trotz ihrer Verspätung um 140 Jahre ein hochzuschätzendes Verdienst der Concert- Direction und des Hof-Capellmeisters Richter. Es wäre be trübend für uns und beschämend für die „Gesellschaft der Musikfreunde“, zu deren frühesten Traditionen ja der Händel- Cultus gehört, wenn eines der großen Oratorien dieses Meisters in Wien niemals eine Aufführung erlebt hätte. Den „Josua“ wird Jeder von uns als ein werthvolles musi kalisches Erlebniß im Gedächtniß bewahren — als ein Kunst werk, das uns seinen Schöpfer, wenn auch nicht von einer neuen, doch vielfach von seiner stärksten Seite gezeigt hat.