Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9161. Wien, Montag, den 24. Februar 1890 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9161. Wien, Montag, den 24. Februar 1890 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Abendblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.02.1890
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Werke über Musik. Angezeigt von Ed. H.

Führer durch den Concertsaal“ von Hermann Kretzschmar (II. Abtheilung, 1. Theil). Leipzig, bei A. G. Liebeskind, 1888. Den ersten, 1887 erschienenen Band („Sym phonie und Suite“) haben wir seinerzeit mit der gebührenden An erkennung besprochen und empfohlen. Die zweite Abtheilung ist ausschließlich „kirchlichen Werken“ gewidmet. Es liegt von dieser Abtheilung derzeit nur der erste Band vor, welcher auf mehr als vierhalbhundert Seiten die Passionsmusiken, Messen, Hymnen, Psalmen und Cantaten behandelt; erst der noch ausstehende zweite Band wird sich mit den Oratorien beschäftigen. Man sieht, wie sehr dem geehrten Verfasser der Stoff unter den Händen gewachsen, ja angeschwollen ist. Zwei Bände dieses Umfanges, blos für geistliche Compositionen, die im Concertsaale aufgeführt werden — das ist zum mindesten überraschend. Ernste Musikfreunde werden diese Ausdehnung nicht als einen Uebelstand empfinden, vielmehr dem Verfasser danken, daß er sein Führeramt auch auf wenig bekannte Kirchenmusiken ausdehnt, ja, über die Kritik der einzelnen Werke hinausgehend, eine Art gedrängter Geschichte der Kirchenmusik liefert. Aber zu dem Titel „Führer durch den Concertsaal“ scheint uns so umgangreiche Behandlung der Kirchenmusik nicht mehr recht zu stimmen. Wir müssen auf Grund von Kretzschmar’s Buch wol annehmen, daß es in Norddeutschland einige besonders bevorzugte Concertsäle (etwa in Berlin und Leipzig) gibt, in welchen alle von dem Verfasser be sprochenen Kirchenmusiken wirklich vorkommen — aber das werden immer nur seltene Ausnahmen sein. Für Wien hätte ein viel schmächtigerer „Führer“ durch die Musica sacra ausgereicht; wenig stens die Hälfte der von Kretzschmar beurtheilten Kirchen-Compo sitionen sind unseren Concertsälen vollständig fremd geblieben. Es wäre schön, wenn gerade die Kretzschmar’schen Analysen zur Auf führung mancher bedeutenden Kirchen-Composition bei uns die Anregung bieten würden. Wie im ersten, so auch im zweiten Bande hat der Verfasser die schwierige Aufgabe vorzüglich gelöst, den Bau und Inhalt der einzelnen Tondichtungen dem Leser, stets an der Hand zahlreicher Notenbeispiele, klar auseinanderzusetzen. Neben diesen analytischen und kritischen Ausführungen erhalten wir auch interessante Erzählungen von den Schicksalen berühmter Meisterwerke in früherer Zeit, z. B. der Matthäus-Passion von S. Bach der Festmesse von Beethoven u. A. Daß wir nicht überall mit der Kritik des Verfassers übereinstimmen können, haben wir bereits bei Gelegenheit des ersten Bandes gestanden. Auch in der vorliegenden zweiten Abtheilung befremdet mitunter das zu weit getriebene Wohlwollen gegen eine gewisse Classe von Musik, welche zwar von den Concertvereinen nicht schlechtweg abgelehnt werden kann, die aber doch von einem so classisch gebildeten Kenner wie Kretzschmar in die Grenzen ihrer wahren Bedeutung zurück gewiesen werden sollte. Die Hochstellung der Kirchen-Compo sitionen von Liszt und Berlioz muß bei einem Autor auffallen, der mit so echter Erkenntniß und Begeisterung von den geistlichen Werken eines Bach, Händel, Beethoven, Cherubini, Mendelssohn und Brahms spricht. Wir sehen der Fortsetzung des so verdienst vollen „Führers“ mit Spannung entgegen — möge sie bald er scheinen!

Adolph Prosniz: „Compendium der Musik geschichte für Schule und Conservatorien“. (Wien, bei Wetzler-Engelmann, 1889.) Herr Prosniz, Professor am Wiener Conservatorium, kommt dem vielfach empfundenen Bedürfnisse nach einem kurzgefaßten und doch wissenschaftlich stichhältigen Handbuche der Musikgeschichte entgegen. Zu bedauern bleibt nur, daß er mit der Herausgabe nicht gewartet hat bis zum wirklichen Abschlusse seiner Aufgabe, sondern es vorzog (ganz wie bei seinem „Handbuch der Clavier-Literatur“), nur die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts reichende erste Hälfte zu veröffentlichen. Solche Theilung, die bei umfangreichen, auf selbstständiger Forschung beruhenden Ge schichtswerken, wie das Ambros’sche, sehr natürlich ist, empfiehlt sich nicht auch für ein kurzgefaßtes Handbuch zum Schulgebrauch; dieses will der Schüler complet in Händen haben. Nun werden Leser und Käufer wahrscheinlich auf das abschließende zweite Heft warten. Den schwierigsten Theil seiner Aufgabe hatte der Verfasser jedenfalls in der ersten Abtheilung zu lösen, und er hat sie sehr geschickt gelöst. Dornige Partien, wie die altgriechische Musik, die Lehre von den Kirchentönen, die Erklärung der Neumen, Mensur, Solmisation sind ausreichend und deutlich behandelt, für den be stimmten praktischen Schulzweck vielleicht etwas zu eingehend. Möge der geschätzte Verfasser sein „Compendium“ recht bald zum Ab schluß bringen; der Erfolg wird nicht ausbleiben.

Dr. Adolph Kohut: „Johannes Miksch, der größte deutsche Singemeister, und sein System.“ (Leipzig, bei Karl Rühle, 1890.) Johannes Miksch, geboren 1765 zu Georgenthal in Böh men, kam bereits mit zwölf Jahren an das katholische Cavell knaben-Institut nach Dresden, um hier zum Tonkünstler ausge bildet zu werden. Er wurde Mitglied der kurfürstlichen italienischen Oper in Dresden, dann Kammersänger und entzückte mit seiner wohlgeschulten Baritonstimme Kenner und Laien. Die berühmten Sängerinnen Agnese Schebest und Schröder-Devrient, die Sänger Mitterwurzer, Sieber u. A. verdanken ihm ihre Ausbildung. Es spricht für die pädagogische Bedeutung und den trefflichen Charakter des Mannes, daß alle seine Schüler zeit lebens mit größter Liebe und Dankbarkeit an ihm hingen. Sein System war das der classischen italienischen Gesangschule, wie sie von dem berühmten Tenoristen Anton Raff, einem Schüler Bernacchi’s, und dem Castraten Caselli ihm überliefert war. Ueber seine Lehrmethode gibt die Kohut’sche Broschüre ziemlich genaue Auskunft in ungedruckten Briefen und Aufsätzen von Miksch, dann in Tagebuchblättern seines Schülers G. W. Teschner. Diese Mittheilungen sind durchaus interessant, für Sänger und Gesang lehrer belehrend. Ohne an den anerkannten hohen Verdiensten Miksch’s im mindesten mäkeln zu wollen, glaube ich doch, es wäre passender gewesen, ihn auf dem Titelblatte lieber den „großen“ als den „größten“ Singemeister zu nennen. Das hat einen etwas prahlerischen Beigeschmack und reizt zu Rangstreiten, die für alle Theile unangenehm und von keinem Gerichtshofe zu entscheiden sind. War nicht z. B. der verstorbene Conservatoriums-Director in München, Franz Hauser, ein gleich vortrefflicher Gesang lehrer, der die gefeierte Henriette Sontag, Frau Vogl in München, den Kammersänger v. Milde in Weimar u. A. zu seinen Schülern zählte? Andere werden Andere nennen. Die Mittheilung, Miksch habe C. M. Weber zur Aenderung der (ursprünglich beim Eremiten spielenden) Exposition des „Freischützbewogen, wird durch Max v. Weber (II., 70) widerlegt, nach welchem Weber’s Frau diese wichtige Umstaltung bewirkt hat. In dieser Weber-Biographie findet sich (II., 89) folgendes etwas abweichendes Urtheil über Miksch: „Miksch war kein Meister für die Kunst der psychologischen Durchdringung der Musikwerke, das Temperament des Gesanges ging ihm ab; das Gemüth, den Ausdruck der Leidenschaft, cultivirte er nicht bei seinem Unterricht, aber er war groß im systematischen Gesangsunterricht, im Gehor sammachen der Kehle, im Geschmack des Vortrages und in der Bildung des Ohren. Weber pflegte daher zu sagen, daß Miksch unter Aufsicht der größte Chorlehrmeister der Welt, ohne Aufsicht der Ruin aller Stimmen sei.“

Dr. Alfred Kalisch: „Gotthold Ephraim Lessing als Musik- Aesthetiker.“ (Dresden, bei F. Oehlmann, 1889.) Alles, was sich in Lessing’s Werken über Musik vorfindet, ist von dem Verfasser mit großem Fleiße übersichtlich zusammengestellt. Die Ernte ist nicht ergiebig, ja wenn man den Umfang und die Bedeutung der ge sammten philosophischen und kritischen Thätigkeit Lessing’s ins Auge faßt, auffallend dürftig. Daß ein Mann wie Lessing die Musik im Allgemeinen nicht ganz seines Nachdenkens unwerth fand, daß insbesondere ihr Verhältniß zum Drama den Hamburger Dama turgen interessiren mußte, versteht sich von selbst. Aber eine lebhafte Neigung zur Musik hat er niemals empfunden, was je aus der ganzen Natur dieses durchaus verstandesmäßig angelegten, stahl blanken und stahlharten Geistes sehr erklärlich ist. Daß Lessing’s musikalische Kenntnisse ebenso nebensächlich waren, wie seine Liebe zur Musik, dürfte trotz der Bemühungen des übrigens vorurtheils freien Verfassers feststehen. Von irgend welchem Musikunterricht, den Lessing in der Jugend erhalten habe, wissen seine Biographen gar nichts. „Vielleicht,“ sagt Kalisch (S. 2), „vielleicht darf die Vermuthung ausgesprochen werden, daß Lessing’s Vater mit dem Religions-Unterricht auch die Anweisung im Choral gesang und in Allem, was damit zusammenhängt, verbunden habe.“ Diese Vermuthung ist ebenso vage wie die weiter folgende: „Ob wol die Biographen Lessing’s nichts davon verlauten lassen, ist man doch wol zu der Annahme berechtigt, daß ein persönlicher Verkehr zwischen Lessing und Marpurg stattgefunden habe.“ (S. 5.) Das satirische Gedicht, das der zwanzigjährige Lessing gegenMarpurg losgelassen und das eine förmliche Verachtung aller Kunstregeln in der Musik predigt, spricht eher dawider. Die großen Meister Bach und Händel erwähnt Lessing gar nicht: die Oper nur, um sich über ihren Unsinn lustig zu machen. Kalisch citirt ein Jugendgedicht, worin Lessing verschiedene Menschenclassen aufzählt, denen er nicht zu gefallen wünscht: „Allen Narren, die sich isten — zum Exempel Pietisten — zum Exempel Rabulisten — und nicht weniger Linguisten — und nicht weniger Stylisten — und nicht wenig Componisten“ etc. In diesem harmlosen Reim spiele erblickt Kalisch einen Beweiß, „daß Lessing Werke vieler Componisten gehört und in sich aufgenommen hat“! Es stehen im Lessing, wie ich glaube, nur zwei längere zusammenhängende Erörterungen, die für den Musik-Aesthetiker von Wichtigkeit sind: das bekannte Fragment zum Laokoon über die Verbindung der Musik und der Poesie, welches wie eine Prophezeiung Wagnerscher Grundsätze klingt; sodann der Aufsatz über Zwischenactmusik im 26. und 27. Stück der Hamburgischen Dramaturgie. In diesem Excurs, der neben geistvollen, treffenden Bemerkungen auch höchst anfechtbare vorbringt, Vgl. den Aufsatz „Zwischenactmusik“ in meinem Büchlein Suite“ (Wien, bei Karl Prochaska, 1884). kritisirt Lessing eine von Agri cola componirte Zwischenactmusik zu Voltaire’s „Semiramis“. Die musikalisch-technische Analyse, mit welcher uns Lessing hier überrascht und welche sich in die kleinsten Details der Instru mentirung einläßt, scheint dem Verfasser besonders imponirt und ihn von den gründlichen Musikkenntnissen Lessing’s vollends über zeugt zu haben. Mich macht gerade dieses musikalische Detail stutzig. Wenn ein Schriftsteller von der Productivität Lessing’s zum ersten- und letztenmale in seinem Leben ein Musikwerk ausführlich beurtheilt und gleich mit so verdächtig genauen, rein technischen Details, dann darf man wol annehmen, daß der befreundete Com ponist ihm diese Details geliefert hat. Wäre Lessing wirklich hin reichend musikalisch gewesen, um zu unterscheiden, wann in dem Stücke „G-Hörner mit E-Hörnern abwechseln“, wann „die Fagotte mit dem Grundbaß gehen“ und „verstärkende Hoboën und Flöten hinzutreten“, dann hätte er gewiß noch einmal in seinem Leben Anlaß genommen, sich über irgend eine Composition auszu sprechen. Lessing’s Biograph G. E. Guhrauer, dem es gewiß an Bewunderung für seinen Helden nicht fehlte, sagt über das früher erwähnte Laokoon-Fragment, Lessing habe darin auf das Verhältniß zwischen Poesie und Musik ebenso scharfe Blicke ge worfen, als über das Verhältniß der Poesie und Malerei, „wenn er gleich von der Musik noch weniger Kenntnisse gehabt zu haben scheint, als von den bildenden Künsten“. Ueber letztere maße ich mir kein Urtheil an; über die musikalischen Kenntnisse Lessing’s scheint mir Guhrauer richtiger zu urtheilen, als Dr. Kalisch.

Hanns v. Wolzogen: „Wagner und die Thier welt.“ (Leipzig, bei H. Hartung, 1890.) In dieser Broschüre schildert und verherrlicht Herr v. Wolzogen in seinem bekannten schwärmerischen Pathos die Beziehungen Wagner’s zur Thierwelt. Er betrachtet die Rolle, welche die Thiere sowol in Wagner’s Bühnenwerken als in seinem Privatleben spielten. Was den ersten Punkt betrifft, so scheint mir der Verfasser mit einiger Gewalt samkeit vorzugehen. Der Schwan im „Lohengrin“, die Taube im Parsifal“, der Lindwurm im „Siegfried“ werden citirt, sogar „die reizenden Elementarwesen der Rheintöchter“, welche doch keine Thiere sind! „Mit dem Rienzi“ brachte Wagner das erste Thier, das edle Roß, als Symbol des kriegerischen Sieges, auf die Bühne.“ (S. 18.) Hat Herr v. Wolzogen niemals den Masaniello zu Pferde gesehen, desgleichen die Königin in den Hugenotten“, den deutschen Kaiser in der „Jüdin“ u. s. w.? Das war natürlich bloßer Bühnenschmuck; bedeutend ist Alles nur bei Wagner. Im ersten Acte des „Tannhäuser“ findet der Ver fasser wieder den Schwan der Leda und den Stier der Europa (bekanntlich erst viel später für die Pariser Aufführung einge fügt) sehr bedeutungsvoll, ebenso wie die Rosse, Hunde und Falken am Schlusse des Actes. Wolzogen erblickt darin „zugleich eine mahnende Andeutung, daß in einer solchen Welt übermüthig lustiger Jagdfreuden der leidenschaftlich tiefe und menschlich wahr haft empfindende Ritter aus dem Venusberge ebensowenig seinen Platz finden werde, als wie die keusche Jungfrau, die heilige Elisabeth“. Wunderbar, was sich Alles in die „Rosse, Hunde und Falken“ hineingeheimnissen läßt! Im „Fliegenden Holländer“, in den „Meistersingern“ und — wie alle Welt glaubt — auch im Tristan“ kommen keine Thiere vor. Aber Wolzogen’s Auge sieht schärfer; sagt nicht am Schlusse des dritten Actes Kurvenal zu Tristan: „Am Hügel ob weidet er (der Hirt) deine Heerde“? Die Emsigkeit, mit welcher in diesem Buche alle Thierspuren in Wagner’s Leben aufgeschnüffelt werden, grenzt oft ans Komische. Als „mannigfach bedeutungsvoll“ wird hervorgehoben, daß das Geburtshaus Wagner’s ehedem „zum rothen und weißen Löwen“ hieß und Wagner’s Stiefvater „Ludwig Geyer“! Noch beredter wird Wolzogen, wenn er von Wagner’s Liebe zu seinen Haus thieren spricht. Mit der rührenden Genauigkeit des berufsmäßigen Wagnerianers citirt er jede Stelle aus Wagner’s Briefwechsel mit Liszt, Ulrich etc., worin der Hund Peps und der Papagei Papo erwähnt werden. Auch Schopenhauer hat seinen Hund, Friedrich Hebbel sein Eichhörnchen zärtlich geliebt — gegen die Menschen waren Beide nicht eben weichherzig — aber man hat kein solches Aufhebens davon gemacht, geschweige denn eine Bro schüre. Charakteristisch ist allerdings Wagner’s Geständnis, er habe noch nie so viel geweint“, als um seinen Papagei. Als eine kleine persönliche Erinnerung darf ich hier einschalten, daß ich selbst noch so glücklich war, diesen berühmten Papagei kennen zu lernen. Es war in Marienbad im Sommer 1846. Der prächtig schillernde majestätische Vogel schrie so entsetzlich, daß ich meine Verwunderung nicht unterdrücken konnte, wie es Wagner möglich sei, bei diesem wüthenden Gekrächze ein zusammenhängendes Ge spräch zu führen oder gar zu componiren. „O, das genirt mich gar nicht,“ erwiderte Wagner; „habe ich doch andererseits das Glück, eine Frau zu besitzen, die nicht Clavier spielt!“ Ueber die

Hunde Wagner’s erhalten wir von Wolzogen die genauesten genea logischen Nachrichten: „Peps starb im Jahre 1855, dem Wal küren- und Schopenhauer-Jahre. Zwar erhielt Peps mit der Zeit einen freundlichen Nachfolger, doch konnte er diesen nicht vergessen machen, wie er denn auch zu seinem Andenken den Namen Fips empfing.“ Der große Hund, den Wagner in Penzing bei Wien gehabt, hieß Pol, dessen Nachfolger in LuzernRuß. An die Stelle des in Bayreuth bestatteten Ruß trat bald eine Familie prächtiger Bernhardiner. „Da war der gewaltige ur wüchsige schwarze Marke und seine Gemalin, die wild dämonische und doch so liebevolle weiße Brange (Brangäne), welche der heftige Herzschlag ihrer so feurigen Natur zu rasch da hinraffte! Ihren Platz nahm dann Kunde (Kundry) ein, die elegante nordische Preishündin, leider auch nur auf kurze Zeit! Von den Kindern dieser Paare nenne ich noch Fasolt und Fafner.“ Und so geht es fort, bis der Verfasser schließlich bei den Enkeln dieser geweihten Dynastie, Frisch und Fricko, Froh und Freya glücklich anlangt. Nach diesem genealogischen Kalender bringt Wolzogen nicht mehr viel Neues. Wir kennen die Schopenhauer’sche Lehre vom „Mitleiden“ und die darauf be züglichen Aussprüche Richard Wagner’s, der ja, nach Wolzogen’s Versicherung, „Schopenhauer’s Lehre selbstständig auf dem Ge biete der Kunst verkörpert und auf dem Gebiete der Religion vervollständigt hat“! Wir kennen auch seine Abhand lung über „Kunst und Religion“, worin er die sittliche Depra vation des Menschengeschlechts von der „Verzehrung der lebenden Mitwesen“ herschreibt und von dem Fluch spricht, „den wir, den reißenden Thieren selbst und gleichstellend, durch den Genuß ani malischer Nahrung auf uns geladen“. Leider hat es Wagner verschmäht, durch sein allmächtiges persönliches Beispiel die Verbreitung seiner „Mitleidslehre“ zu unterstützen. Er hat den Beitritt zum Thierschutzverein abgelehnt und ist an seinem Mittagstisch zeitlebens dem Genuß animalischer Nahrung treu geblieben, welchen er in seinen Schriften als fluchwürdige Ver sündigung an der Natur brandmarkt.

Otto Neitzel: „Der Führer durch die Oper des Theaters der Gegenwart.“ (Erster Band: Deutsche Opern. Leipzig, bei Liebeskind, 1890.) Das Buch gibt sich als ein Seitenstück zu Kretzschmar’s so günstig aufgenommenem „Führer durch den Concertsaal“, welchen es aber in keiner Hinsicht erreicht. Der Verfasser stellt sich eine sehr umfangreiche Aufgabe: er will uns „eine klare Anschauung von der ganzen Handlung, den Charakteren und der Musik in allen auf dem Repertoire befindlichen Opern vermitteln“. Nachdem der uns vorliegende erste Band auf nahezu 300 Seiten nur zehn Opern (vier von Gluck, fünf von Mo zart und die eine von Beethoven) erledigt, so dürfte der Neitzel’sche „Führer“ zu einer großartigen Bibliothek angewachsen sein, bevor er „alle auf dem Repertoire befindlichen Opern“ erläutert hat. Da seine Analysen die dramatische, musikalische und scenische Beschaffenheit der einzelnen Opern umfassen, muß jede dieser Kategorien sich mit recht unzulänglicher Ausführung be gnügen. Schon mit dem Inhaltsverzeichnisse müssen wir rechten. Wie kommt der Verfasser dazu, die „Entführung aus dem Serailzu den komischen Opern zu zählen und „Figaro’s Hochzeit“ zu den ernsten? Beide sind komische Opern und wurden niemals für etwas Anderes gehalten. Gluck’s „Armida“ und Mozart’s „Così fan tutte“ registrirt er gleichmäßig unter „Deutsche Opern“, ob wol erstere eine französische, letztere eine italienische Oper ist; un beschadet der deutschen Herkunft ihrer Componisten. Am weitläufig sten wird die Handlung jeder Oper erzählt, Scene für Scene, was bei so allbekannten Textbüchern wie „Die Zauberflöte“, Fidelio“, „Figaro’s Hochzeit“ oder „Don Juan“ uns mehr er müdet als belehrt. Am ungenügendsten ist alles Historische behan delt. An dem Libretto von „Figaro’s Hochzeit“ ist doch das Ver hältniß desselben zu Beaumarchais’ epochemachendem Lust spiel das Allerwichtigste und Interessanteste. Herr Neitzel begnügt sich zu sagen, daß Da Ponte’s Libretto „ein Meisterstück“ und „geschickt aus Beaumarchais geschöpft“ sei. Ueber die Entstehung und die ganz einzige Stellung von Mozart’s „Entführung“, als der ersten classischen Oper in deutscher Sprache, verliert der Verfasser kein Wort. Herr Otto Neitzel ist Musiker, Componist einer kürz lich in Köln mit Beifall aufgeführten Oper: „Der alte Dessauer“; das Musikalische nimmt daher seine Aufmerksamkeit vorwiegend in Anspruch. Fast von jeder einzelnen Nummer der betreffenden Oper bringt er ein oder mehrere Notenbeispiele und begleitet sie mit erläuternden Worten. Es sind Umschreibungen, die uns mit großer Redseligkeit meistens recht Selbstverständliches sagen. Wir nehmen aufs Gerathewohl eines der kürzeren Beispiele heraus, die Erzäh lung der ersten Scene in „Fidelio“:

Die Bühne stellt den Hof des Staatsgefängnisses dar. Mar celline, die Tochter Rocco’s, ist mit Plätten beschäftigt; Jacquino, der Pförtner des Gefängnisses, benützt die Gelegenheit, um ihr nicht ohne Verlegenheit, doch auch nicht ohne Selbstbewußtsein von Liebe und Ehe zu sprechen. Marcelline, die ihn früher begünstigt hat, weist ihn zurück: „Ich weiß, daß der Arme sich quälet, es thut mir so leid auch um ihn! Fidelio hab’ ich gewählet.“ Die Musik entspricht dem schlich ten, harmlosen Empfindungskreise des bürgerlichen Lebens. Sehr be zeichnend ist das Stocken Jacquino’s, bevor er sich zu seinem Werbe- Antrage entschließt, wiedergegeben, so in der dreimal wiederholten Figur im Anfang (Notenbeispiel), welche später vor den Worten: „Ich habe dich zum Weib gewählet“, etwas mehr in Fluß kommt. Die Musik drückt hier das aus, was man mit der Redensart „um den heißen Brei gehen“ bezeichnet. Das Pochen an der Pforte, welches Jacquino’s Herzensergießungen zweimal unterbricht, ist genau in der Musik wiedergegeben (Notenbeispiel), und es ist selbstverständlich, daß das Pochen auf der Bühne mit diesen Noten zusammenfallen muß. Nur sobald MarcellineFidelio’s Erwähnung thut, wird die Musik zarter und inniger. Nachdem Jacquino den letzten der pochenden Störenfriede schon etwas unwirsch angefahren hat, erschallt aus dem Schloßgarten rechts immer befehlerischer Rocco’s Stimme, und der arme Bursche muß diesmal endgiltig auf seine Liebeswerbung verzichten Jetzt ist Marcelline endlich allein, nichts hält ihre Gedanken mehr ab sich dem Gegenstande ihrer Liebe zu weihen. Sie wünscht mit ihm vereint zu sein; bei allen Verrichtungen ihres stillen häuslichen Lebens empfindet sie seine beseligende Nähe: die Hoffnung schon erfüllt ihre Brust mit unaussprechlich süßer Lust. (Notenbeispiel.) Die Musik ist, so sehnsuchtsvoll sie ist, so harmlos und treuherzig. Sehr feinsinnig be zeichnet der Uebergang vom Moll zum Dur mit seinem mächtig an schwellenden Fis und den nachfolgenden Triolen (Notenbeispiel) das Nahen der Hoffnung, die alle Sorgen, alle Mißhelligkeiten in süße Liebeswonne auflöst.

Ich denke mir es einfacher, nützlicher und anziehender, sich den Clavierauszug der Oper selbst aufs Pult zu legen, anstatt diese langen Beschreibungen zu lesen. Denn für musikkundige Leser ist Neitzel’s „Führer“ doch jedenfalls bestimmt, da nur solche beim Lesen der zahlreichen Notenbeispiele sich dieselbeen gleich zu ver gegenwärtigen wissen. Herrn Neitzel’s „Führer“ ist mit großem Fleiße zusammengestellt; neue, geistreiche Bemerkungen oder auch nur stylistisch reizvolle Wendungen sind uns jedoch darin nicht aufgefallen. Die citirte Stelle über „Fidelio“ kann zugleich als Stylprobe gelten.