Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9181. Wien, Sonntag, den 16. März 1890 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9181. Wien, Sonntag, den 16. März 1890 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 16.03.1890
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Concerte. (Requiem von Berlioz. Concerte von Frau Frankl-Joël, Fräulein M. Weiß, den Herrn Labor, Prohaska und Rosenthal.)

Ed. H. Einer der ersten und feurigsten Anhänger von Berlioz war der unglückliche Dr. Alfred Becher in Wien. In einem langen Essay verherrlichte er (1846) Berlioz als das musikalische Genie, welches alle Geistes- und Gemüths kräfte in höchster Fülle vereinige. Nur ein einziger Mangel sei ihm an Berlioz aufgefallen. „Ich glaube,“ sagt Becher, „es fehlt ihm das religiöse Gefühl. Zwar vermag Berlioz die Frömmigkeit in Anderen täuschend wiederzugeben, aber sie klingt nicht wie selbstempfunden. Auch weicht er ihr oft aus, wo doch der poetische Gedankenzwang sie fast noth wendig bedingte.“ Dieses von Becher zuerst und allein er hobene Bedenken, „der Mangel an religiösem Gefühl“, ist sehr bemerkenswerth. Hätte Dr. Becher das Requiem ge kannt und die Veröffentlichung der Memoiren erlebt, es würden ihm aus beiden Quellen neue Beweisgründe für seine Ansicht zugeflossen sein. In den Me moiren erzählt Berlioz selbst, daß er trüben Jugend erlebnissen einen bleibenden tiefen Widerwillen gegen alles Kirchliche verdanke. Sein Requiem aber zeigt unter allen bekannten Tonwerken dieses Namens die allergeringste Spur von religiösem Sinn. Mit souveräner Willkür und Weltlichkeit verarbeitet Berlioz den altehrwürdigen Kirchentext zu einer Art phantastischem Drama. Was er darin nicht zu unerhörten Klangeffecten verwenden kann, das läßt ihn gleichgiltig und gelangweilt; er behandelt es auch gleichgiltig und langweilig. Lassen wir jedoch die religiöse Frage völlig beiseite und stellen uns ganz auf den Standpunkt des freien Künstlers. Mag ihn in der „Todtenmesse“ immerhin nur die starke, allgemein menschliche Lyrik und vor Allem das dramatische Element angelockt haben. Aber gerade vom musika lischen Standpunkt erscheint mir dieses angebliche Meisterwerk des Franzosen als dessen unzulänglichste und bedenklichste Arbeit. Der Leser kennt meine Bewunderung für die zahlreichen

hohen Schönheiten der „Sinfonie fantastique“, der „Romeo“- und der „Harald“-Symphonie; habe ich doch das Publicum schon in jener Urzeit dafür zu gewinnen versucht, als man noch häufig Berlioz mit Bériot verwechselte. An eine Kritik des Requiems jedoch gehe ich nur mit peinvollen Empfindungen. Es gähnt darin eine trostlose Leere und Ideenarmuth, welche durch eine Armee von Lärminstrumenten ebensowenig verdeckt werden kann, wie die große technische Unbeholfenheit des Componisten. Das Requiem gehört zu Berlioz’ Jugendwerken; die Kunst des musikalischen Satzes im weitesten Sinn, die zeitlebens seine schwache Seite ge blieben — sie steckt hier noch in den Kinderschuhen. Schwer lich stößt man in irgend einer großen geistlichen Composition auf ähnliche Unfähigkeit, ein Thema zu entwickeln, einen vier stimmigen Chorsatz zu führen, ein Motiv contrapunktisch zu ver werthen und was sonst noch den Musiker macht. Jeden Augen blick muß, wie in einer italienischen Oper, der Nothbehelf des Unisono-Singens herhalten; jeden Augenblick zerbröckelt die Form, stolpert und überschlägt sich der melodische Fortgang. Berlioz muß nie zuvor ein Chorwerk von Bach studirt haben, geschweige denn von Palestrina, dessen Ruhm er ja einen schlechten Spaß nennt. Das sind aber die ehernen Funda mente aller geistlichen Musik. Wo nicht seine oft blendend geistreichen, oft auch nur wunderlich barocken Klangeffecte unser Interesse erregen, erschlafft dieses; denn nirgends ent zückt, nirgends erhebt uns die Schönheit eines ausgereiften musikalischen Gedankens. Wie matt und stockend beginnt nicht das „Dies irae“, wo der Componist doch mit ganzer, erschütternder Kraft einzusetzen hat! Dieser „Tag des Zornes“ scheint für Berlioz ein Tag wie jeder andere zu sein. Aber das ist nur eine diplomatische Finte. Berlioz will sich den Contrast einer urplötzlich hereinbrechenden gewaltigen Erup tion für das „Tuba mirum“ offen halten, und dieser colossale Schalleffect ist’s im Grunde, was sein Requiem berühmt gemacht hat. Vierundzwanzig Posaunen, zwölf Hörner und zwölf Trompeten stürzen sich gleichzeitig mit dröhnendem Fortissimo auf uns, dazu lärmen Becken, Tam tam, große Trommel und sechzehn Pauken! Ist es ein Wunder, daß der Zuhörer förmlich niedergeworfen wird? Ist es eine Kunst, mit so brutalen Mitteln eine beängstigend erschütternde Wirkung zu erzielen? Zur

Zeit freilich, als Berlioz diesen musikalischen Massenmord ausführte, gehörte der Muth eines Titanen dazu; heute macht das ein geschickter Regiments-Capellmeister. Berlioz hat bekanntlich über Mozart gespottet, der das „Tuba mirum“ von Einer (!) Posaune intoniren läßt. Das war fürs erste ganz correct, da der kirchliche Text nur von Einer „tuba“ spricht; sodann aber gab Mozart dieser Einen ein großartig einfaches Motiv, das uns zwar nicht im buchstäblichen Sinne zu Boden schleudert, wie Berlioz’ Posaunenchor, aber un vergleichlich tiefer ergreift. Bei Mozart: ästhetische Wirkung, bei Berlioz: physische Gewalt. Der Klang der Posaune ist an sich schauerlich, markerschütternd, wie kein anderer; der junge Mozart fiel dabei in Ohnmacht. Unsere Zuhörer be wiesen stärkere Nerven; sie brachen nach dem ersten Schreck in nicht endenwollenden Jubel aus. Wahrscheinlich waren keine Mozarts unter ihnen. Mit dem „Tuba mirum“ und dem „Rex tremendae majestatis“ sind bei Berlioz gleichsam alle Feuergarben des Vulcans ausgeschüttet; es folgt wieder musikalische Asche und Dunkelheit. Gibt es etwas Kläglicheres, als den Chor „Quid sum miser“ oder das Offertorium in D-moll, wo die Stimmen der Verdammten im Fegefeuer von Anfang bis zu Ende auf zwei Tönen, a und b, winseln? Und der Chor „Quaerens me“ mit seiner abschreckenden Stimmführung — ist er nicht ein Musterbeispiel für angehende Componisten, wie man nicht „a capella“ schreiben soll? Schließlich die zum Ueberdruß wiederholte Melodie „Lacrymosa“, im Unisono von Sopran und Tenor — wirkt sie nicht erheiternd? Sie erinnert so hübsch an italienische Opern, speciell an die Stelle aus Donizetti’s „Lucia“, wo der (zum Ausgelachtwerden) „bestimmte Bräutigam“ sich den Cavalieren und Damen des Schlosses vorstellt. Wenn man diese Trivialität hört, so möchte man Rossini gleich Alles abbitten, was man je gegen seine Kirchenmusik eingewendet hat. Rossini’s Welt lichkeit war doch stets in Schönheit getaucht, aus seinem Schönheitsbedürfniß geboren. Wo findet man aber in BerliozRequiem eine sangbare Melodie, die nicht ganz ordinär wäre?

Befremdend wie das ganze Requiem war mir auch die jubelnde Bereitwilligkeit, mit welcher das Wiener Publi cum sich diesem Blendwerke hingab. Dasselbe Publicum,

das so oft erhoben, entzückt dem „Requiem“ von Mozart, von Cherubini, von Brahms gelauscht hat! Selbst Verdi’sRequiem wächst, gegen das Berlioz’sche gehalten, zu einem musikalischen Meisterstück. Und noch an ein an deres, bescheideneres Werk dieser Gattung möchte ich erin nern: an Schumann’sRequiem. Aus dem Spätherbste des Meisters stammend, steht es ziemlich unbeachtet im Schatten seiner früheren Werke. Und trotzdem, wie wahr und gesammelt, wie menschlich schön spricht es zu uns! Daß ein Werk von der Berühmtheit des Berlioz’schen Re quiems den Wienern nicht vorenthalten bleiben durfte, steht außer Frage. Daß seine geistreichen Einzelheiten den Hörer interessiren, seine unerhörten Klangcombinationen überraschen und blenden müssen, ist ebenso begreiflich. Aber die Ernüch terung, dachten wir, würde schnell auf den Rausch folgen, so schnell, daß ein allgemeines Bedürfniß nach einer zweiten und dritten Aufführung kaum zur Sprache käme. Und doch lesen wir, daß bereits eine vierte, obendrein mit noch ver stärktem Orchester, geplant sei. Es wäre traurig, wenn die „Gesellschaft der Musikfreunde“, dieses einzige Asyl großer classischer Musik in Wien, das Berlioz’sche Spectakelstück in ihre regelmäßig wiederkehrenden Aufführungen einreihen wollte. Der Concertcyklus der „Gesellschaft“ ist eng begrenzt und jeder Fußbreit dieser schmalen Area kostbar. Wir haben BerliozRequiem vor seiner ersten Aufführung als einen interessanten berühmten Fremdling gastfreundlich begrüßt, daß aber dieser „todte Gast“ sich bleibend hier ansiedle, können wir im Interesse des ästhetischen Geschmacks und des musikalisch guten Rufes der Wiener unmöglich wünschen. Die Aufführung des Requiems, ein gar mühsames und schwieriges Unternehmen, ist am 9. d. M. überraschend gut geglückt. Dem Componisten konnten wir kein Loblied singen, aber auf den Dirigenten Hanns Richter wenden wir mit voller Ueberzeugung die Worte des Requiems an: Te decet hymnus!

Wir stecken mitten in den Aequinoctialstürmen der Saison, die Tag für Tag ein Concert ans Land werfen. Obenauf schwimmen natürlich die Pianistinnen. Sie sind längst in der Majorität gegen ihre männlichen Collegen.

Auf Fräulein Hopekirk und Fräulein Pancera — um nur die Besten zu nennen — folgte Frau Frankl-Joël, deren ehrenvoller Platz im Wiener Concertleben längst ge sichert ist. In ihrem Programm glänzte die selten gehörte und selten gut gespielte G-moll-Sonate von Schumann. Frau Frankl erwies sich den starken technischen Anforderungen dieses Stückes vollkommen gewachsen und blieb auch dem Vortrag weder Kraft noch Zartheit schuldig. Von Brahms spielte sie merkwürdigerweise ein „Intermezzo“ aus Op. 76 und nicht die G-moll-Rhapsodie! Oft genug haben wir Brahms gebeten, endlich einmal neue Clavierstücke zu schreiben; es muß ihn doch selbst langweilen, zwanzigmal in jeder Saison immer nur seine G-moll-Rhapsodie wenn auch nicht zu hören, doch auf den Anschlagszetteln zu lesen. Auch daß Frau Frankl die F-dur-Variationen von Beethoven und mehrere der weniger abgedroschenen Präludien von Chopin gespielt und gut gespielt hat, gereicht ihr zum Lobe. Nicht der leiseste Zweifel an ihrem guten Geschmack wäre aufgekommen, hätte sie nicht selbst ihr Concert mit einer Improvisation (?) über StraußMethusalem-Walzer beschlossen. Es wäre die schlimmste Pedanterie, heitere Musik aus den Virtuosen- Concerten ausschließen zu wollen; im Gegentheil, wir brauchen lustige Stücke für unsere täglich gelehrter und tragischer aus sehenden Programme — nur muß es gute Musik sein. Wie manches reizende Tanzstück findet sich in Schubert, Weber, Chopin, Liszt („Soirées de Vienne“), Dvořak und Anderen! Und was unsern Johann Strauß betrifft, so wäre uns sein Methusalem-Walzer pur et simple noch immer viel lieber gewesen, als eingewickelt in einen Wust wohlfeiler Passagen. Neben Frau Frankl wurde auch Frau Bertha Gut mann nach dem Vortrage der Fidelio-Arie und mehrerer Lieder mit Beifall überschüttet. — Mit günstigstem Erfolg ist eine junge Sängerin, Fräulein Malvine Weiß, zum erstenmale vor das Publicum getreten. In der großen Arie der „Sonnambula“ überraschte sie durch das Metall ihrer hohen Töne, durch eine schon bemerkenswerth entwickelte Coloratur und die geschmackvolle Vortragsweise, welche sie der Schule Victor Rokitansky’s verdankt. — Am 11. März gab Herr Joseph Labor ein Orgelconcert

im großen Musikvereinsaal. Labor gehört zu den wenigen Auserwählten, welche die Orgel wirklich künstlerisch zu be handeln verstehen. Er ist nicht blos Virtuose auf diesem Instrument, er ist auch ein Künstler von tiefem Verständniß und gesunder musikalischer Empfindung. Als solcher hat er sich namentlich in seinem unablässigen Bemühen um die Verbreitung der Kenntniß Bach’scher Orgelwerke stets ge zeigt. Zum Unterschiede von den meisten Orgelvirtuosen ist Labor auch ein vortrefflicher Clavierspieler von schönem, seelenvollem Anschlag. — Der Pianist Herr Karl Pro haska hat uns schon im vorigen Jahr durch seinen fein empfundenen Vortrag, namentlich classischer Compositionen, aufrichtig befriedigt. In seinem diesjährigen Concert zeigte sich sein Anschlag gekräftigt und seine Technik fort geschritten. Daß er unter Anderem die „Davidsbündler- Tänze“ von Schumann vorzüglich gespielt hat, bietet einen Maßstab zur Beurtheilung seines Könnens. — Schließlich hat Herr Moriz Rosenthal nach seinem glücklich beendigten Triumphzug in Amerika hier ein Concert unter stürmischem Andrang des Publicums gegeben. Herr Rosen thal, den wir schon bei seinem ersten Auftreten (1884) einen Virtuosen ersten Ranges nennen mußten, dürfte gegenwärtig an technischem Können die meisten seiner berühmten Collegen übertreffen. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß er die Besten auch in allen übrigen Vorzügen erreiche und an Tiefe der musikalischen Empfindung, an Wärme und Adel des Vortrages nichts zu wünschen lasse. Rosen thal’s Spiel hat bisher seine blendendste und voll ständigste Wirkung im Vortrag Liszt’scher Compo sitionen gefunden. Wahrscheinlich wollte er sich dies mal von einer neuen Seite zeigen, indem er seinem langen Programm ein einziges Stück von Liszt, obendrein ein Arrangement, einfügte: die Wilhelm Tell-Ouvertüre. Sie war der Glanzpunkt des ganzen Abends und bis auf den sehr unsauber gespielten Schluß eine erstaunliche Bravour leistung. Die Ueberwindung technischer Schwierigkeiten scheint Herrn Rosenthal auch in solchen Tondichtungen zumeist an zulocken, die neben der Bravour noch etwas ganz Anderes, Höheres verlangen. Wo die Finger nicht vollauf zu thun

finden, da wird Rosenthal entweder gleichgiltig, kühl, oder er sucht die innere Theilnahmslosigkeit durch Häufung senti mentaler Ausdrucksmittel, wo sie nicht hingehören, zu ver decken. Das virtuose Element, wo es ihm dankbar entgegen kommt, übertreibt er wiederum gern in Zeitmaß und Kraft aufwand. Die A-moll-Orgelfuge von Bach war gut be gonnen, gerieth aber gegen den Schluß in Tobsucht. Die Scarlatti’sche Gigue in G-dur und die (in Terzen gespielte) Gis-moll-Etude von Chopin flogen fast ohne rhythmische Accentuirung so blitzschnell dahin, daß man die Stücke genau kennen mußte, um daraus klug zu werden. Rosenthal’s Vortrag der kindlich einfachen A-moll-Mazurka (op. 67) und der schwärmerischen Des-dur-Nocturne (op. 27) von Chopin zeigten uns die fatalsten Manieren der Lisztschule wie im Hohlspiegel: hysterisches Tempo rubato, grelles Beleuchten einzelner Tacte, neben welchen das Uebrige nebelhaft verschwamm, willkürliches Verzerren des Rhythmus, Zertrennen der ge bundenen Melodie in einzelne Noten — und was solcher Wundersalben mehr sind. Der Mangel an seelischer Wärme und eminent musikalischem Geist berührte uns am empfindlichsten in Schumann’sC-dur-Phantasie, einer der höchsten — nicht blos der schwierigsten — Aufgaben für den reproducirenden Künstler. Der breit hinfluthende große Zug des ersten Satzes zerbröckelte unter Rosenthal’s Händen in virtuosenhaftes Stückwerk; weggewischt war der unbe schreiblich zarte, träumerische Hauch über den langsamen Sätzen, verhetzt und verpaukt der energische Mittelsatz in Es-dur. Uns ward zu Muthe, als sähen wir Schumann’s Geist auf der Flucht vor dem ihn verfolgenden Virtuosen. Schumann wird nur von Jenen gut gespielt, die, auf ihre Virtuosenglorie vergessend, sich mit Liebe und reifem Ver ständniß in ihn eingelebt haben. Ich weiß nicht, ob das, was Herrn Rosenthal dazu fehlt, sich nachträglich noch er werben lasse. Glücklicherweise hat Herr Rosenthal ein Feld, auf dem er souverän waltet: das große Gebiet der Vir tuosität par excellence. Insbesondere als Lisztspieler wird Rosenthal überall ehrliche Triumphe feiern und jedes Pu blicum entzücken.