Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9314. Wien, Dienstag, den 29. Juli 1890 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9314. Wien, Dienstag, den 29. Juli 1890 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.07.1890
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Die Musik in Amerika. III. (Schlußartikel: Concertwesen, Musikunterricht, „Musical Conventions“, Volksgesang.)

Ed. H. Vergl. die Feuilletons vom 24. und 25. Juni d. J. Boston war in systematischer Pflege des Concertwesens Newyork und den übrigen Städten um zwanzig Jahre voraus. In Newyork gab es um das Jahr 1830 drei bescheidene Dilettanten-Vereine und hin und wieder ein Con cert unter Mitwirkung eines fremden Virtuosen. Unter diesen erzielte ein Herr Young, der die Ophicleide blies, den größten und dauerndsten Erfolg. Trompete und Posaune waren die Lieblingsinstrumente des amerikanischen Publicums. Diese Vorliebe für Blechinstrumente existirt, nach Dr. Ritter’s Zeugniß, noch heute bei der großen Mehrheit der Concert besucher. Bis 1839 hatte man keine Oboën im Orchester; zwei Clarinetten spielten deren Part. Aus der Fremde bezog Amerika seine Musiklehrer, seine Solosänger, seine Instru mentalisten. Ein großes, auch finanziell ergiebiges Concert zur Unterstützung der Griechen im Unabhängigkeitskampfe hob das musikalische Interesse und führte zur Neugestaltung der „Sacred Music Society“ in Newyork, die sich im Jahre 1831 an die erste vollständige Aufführung eines Oratoriums, natürlich des „Messias“, wagte. Es ist also erst sechzig Jahre her, daß Newyork ein vollständiges Oratorium zu hören bekam. In Amerika sehen wir Musikgesellschaften schnell ent stehen und meistens schnell vergehen. Auch die so angesehene „Sacred Music Society“ löste sich bald auf. Die deutsche Bevölkerung in Newyork besaß eigene musikalische Vereini gungen; die bemerkenswertheste hieß „Concordia“ und pflegte sowol Vocal- als Instrumental-Musik. Ihr Dirigent, Daniel Schlesinger (geboren 1799 in Hamburg), ein Schüler von Moscheles und Ferdinand Ries, war einer der vorzüg lichsten deutschen Musiker, deren Newyork sich zu erfreuen gehabt. Er starb 1838 mitten in fruchtbarster Thätigkeit.

Wir haben gesehen, daß die Bemühungen, eine stabile Oper in Amerika zu gründen, stets gescheitert waren. Aber eine günstige Wirkung hatten sie doch mittelbar auf die Concertmusik. Eine Anzahl guter Opernsänger, mitunter großer Künstler, enthüllte dem Amerikaner, der nur das Psalmodiren seiner Singschulen gekannt, den Zauber wohl geschulter schöner Stimmen. Viele von diesen Opernsängern wirkten in Concerten und Oratorien mit. Ein anderes wichtiges Ergebniß war, daß die italienischen Opernvorstellungen voll ständigere Orchester brauchten. Nach den üblen Erfahrungen Garcia’s brachten die nächsten Opern-Unternehmer tüchtige Capellmeister und einige vorzügliche Instrumentalisten mit. Der Geschmack an symphonischer Musik entwickelte sich stetig, und die maßgebenden Musikfreunde von Newyork sahen ein, daß der Zeitpunkt zur Gründung einer eigenen Philharmoni schen Gesellschaft gekommen sei. Der Mann, dessen Energie und Kunstbegeisterung das schwierige Werk zu Stande brachte, einen permanenten Orchesterverein nach Art der Londoner „Philharmonic Society“ zu schaffen, war Uriah Hill. Geboren in Newyork1802, war er als junger Mann nach Europa gegangen und Spohr’s Schüler geworden. Nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt, faßte er gleich den Plan zur Gründung einer Philharmonischen Gesellschaft. Er wirkte darin als erster Violinspieler, mußte aber später, alt geworden, diesen Posten aufgeben. Der Kummer darüber und andere schwere Mißgeschicke trieben den 73jährigen braven Mann zum Selbstmord. Die „Philharmonische Gesellschaft“ eröffnete ihre Concerte im Jahre 1842; sie waren in den ersten Jahren ziemlich dilettantisch („amateurish“ schreibt Ritter), stets aber voll Eifer und Begeisterung. Die „New York Philharmonic Society“, die gegenwärtig ein Orchester von hundert Spielern, durchaus Fachmusiker, besitzt, hat während ihres langen Bestehens großen Einfluß ausgeübt auf das Musikleben in Amerika. Ihre ersten Concerte fanden in einem Tanzlocal („Apollo-Hall“) statt; die Sitze waren nicht nummerirt und bestanden aus hölzernen Bänken. Vier Mit glieder versahen den Dienst von Billeteuren und erhielten da für von der Gesellschaft weißlederne Handschuhe. Nachdem

das Publicum versammelt war, nahmen diese freiwilligen Aufseher ihre Plätze im Orchester ein. Um einen eigenen Concertsaal bauen zu können, gab die Gesellschaft im Jahre 1846 eine Aufführung von Beethoven’s Neunter Symphonie mit drei- bis vierhundert Mitwirkenden; aber das Publicum kam nicht zahlreich genug, und der Bau unterblieb. In der Verwaltung dieser Gesellschaft wurden allmälig die deutschen Orchesterspieler die bestimmende und contro lirende Macht. Eine gewisse Antipathie entstand zwischen ihnen und den eingeborenen Mitgliedern, welche gegen die Deutschen so heftig vorgingen, daß zeitweilig die Exi stenz der Gesellschaft gefährdet schien. Die Gesellschaft mußte von den amerikanischen Mitgliedern den Vorwurf hören, sie gehe in ihrer Protection der Deutschen auf die Vernichtung der amerikanischen Musik aus, wozu Dr. Ritter die lakonische Bemerkung macht, daß nicht wohl etwas ver nichtet werden konnte, was überhaupt nicht existirte. All mälig wurde dieser Verein die wichtigste Instrumental-Ge sellschaft in den Vereinigten Staaten. An dem Besitzstande classischer Musik festhaltend, blieb sie nicht allzu lange zurück hinter den modernen Entwicklungen. In den Fünfziger- Jahren finden wir in ihren Programmen R. Schumann, in den Sechziger-Jahren Liszt, in den Siebziger-Jahren Wagner, Rubinstein, Goldmark und die beiden ersten Symphonien von Brahms. Einer der verdienst vollsten Dirigenten der Philharmonischen Gesellschaft war von 1855 bis 1876 ein Sachse, Karl Bergmann, der Erste, der in Amerika für Wagner und Liszt gewirkt hat. Er starb, 55 Jahre alt, gänzlich vergessen und verlassen, im deutschen Hospital zu Newyork. Auch Bergmann’s Vorgänger, Theodor Eisfeld, war ein Deutscher und sein Nachfolger, der kürzlich verstorbene Dr. L. Damrosch, ebenfalls ein Deutscher. Neben den Concerten der Philharmonischen Gesell schaft hat auch Th. Thomas eigene „Symphonie-Soiréen“ eingeführt, so daß Newyork heute in Bezug auf Orchester- Concerte mit jeder europäischen Hauptstadt concurriren kann.

Die erste Bekanntschaft mit Werken der Kammer musik verdankt Amerika einigen französischen Royalisten,

welche in Folge der Revolution nach Amerika ausgewandert waren. Hier, wie überall, blieb die Pflege dieses Musik zweiges lange auf den häuslichen Kreis der Liebhaber be schränkt. Den ersten Versuch mit öffentlichen Quartett- Soiréen machte der genannte Uriah Hill im Jahre 1834.

Chorvereine sind in Newyork zahlreich und schnell entstanden, aber regelmäßig bald wieder verschwunden. Be sondere Erwähnung verdient die „New York Harmonic Society“, welche unter Th. Eisfeld’s Leitung und Jenny Lind’s Mitwirkung im Jahre 1850Händel’sMessiasaufführte. Es ist dies das einzige Oratorium, das bis auf den heutigen Tag im Stande gewesen ist, volle Häuser zu erzielen. Zum „Messias“ greifen die Chorvereine in der Noth stets wieder zurück, gerade so wie die bankerott gewor denen deutschen Operngesellschaften zum „Freischütz“. Jenny Lind hat bekanntlich zwei Jahre lang in Amerika verlebt, das Land nach allen Richtungen als Concertsängerin berei send. Ihr Impresario, Barnum, ist durch seine markt schreierischen Annoncen berühmt geworden und der eigentliche Urheber des unwürdigen Annoncenstyls, der mehr oder minder noch in Amerika besteht.

In Boston beschränkte sich die „Händel- und Haydn- Gesellschaft“ während der ersten zwanzig Jahre auf den Messias“ und die „Schöpfung“. Sie bestand um das Jahr 1830 aus etwa 100 Sängern und 25 Sängerinnen; Letztere waren nicht Mitglieder, sondern wurden von Fall zu Fall zur Mitwirkung eingeladen. Instrumental-Musik fand wenig Verständniß und Pflege in Boston, überhaupt in Neu-Eng land. Das bischen Orchester, das aufzubringen war, wurde meist nur zum Accompagnement von Cantaten und Oratorien verwendet. Eigentliche Orchestervereine für Ausführung sym phonischer Werke fristeten in Boston bis auf die neueste Zeit eine schwankende und schwierige Existenz. Regelmäßige Orchesterwerke versuchte zuerst die „Academy of Music“, deren Kern der Geiger Henry Smith aus einem Lieb haber-Club herausgeschält hatte. Im Jahre 1841 spielte dieser Verein die ersten Beethoven’schen Sympho nien (Nr. 1 und 5), die in Boston gehört wurden.

Es ist das eigentliche Verdienst der Bostoner „Aca demy“, daß sie während ihres kurzen Bestandes doch sechs von den neun Symphonien Beethoven’s zur ersten Aufführung gebracht hat. Ihr folgten im Laufe der Jahre verschiedene Orchestervereine, aber keiner lebte lange. Am längsten noch die „Harvard Musical Associa tion“, die 1837 von Studenten des Harvard-Collegiums gebildet wurde. Diese begeisterten Jünger der Wissenschaft proclamirten, die Musik sei ihnen nicht Unterhaltungssache, sondern ein ernstes Bildungsmittel. Die Büsten von Händel und Mozart seien neben jene von Homer und Plato, Newton und Shakespeare zu stellen. Eine Sonate verdiene kein gerin geres Ansehen, als eine Predigt oder ein Psalm. Natürlich waren die älteren Amerikaner überzeugt, daß die Ausführung dieses revolutionären Programms, welches ein so unnützes Ding wie die Musik den höchsten Wissenschaften gleichstellen möchte, die Grundlagen der Gesellschaft und des Staates unterwühlen müsse. Der muthige Idealismus dieser jungen Leute, die auch gleich an die Gründung einer musikalischen Bibliothek gingen, verdient Bewunderung.

Noch immer fehlte eine Institution für den regelmäßigen Gesangsunterricht der Kinder. Die Kirchenchöre und Singvereine brauchten fortwährend neue Recruten. Das beste Material zur Bildung von Chorsängern, die Schul jugend, war zur Hand und das Problem leicht zu lösen durch Einführung des Gesangsunterrichts in den Schulen. Aber das größte Hinderniß bildete die Opposition der Eltern und deren Vorurtheil gegen musikalische Erziehung. Mr. Woodbridge, ein verdienst voller amerikanischer Pädagoge, hatte auf seinen Reisen beobachtet, wie ernsthaft in Deutschland und in der Schweiz die Musik gepflegt ward im Haus wie in der Schule. Er brachte die Pestalozzi’sche Unterrichts-Methode, Nägeli’s Sing schule und Liedersammlungen aus der Schweiz mit. Die von ihm ins Englische übersetzten Bücher legte er in die Hände des Mr. Lowell Mason. Die beiden Männer drangen fortwährend darauf, daß der Gesang als regelmäßiger Unter richts-Gegenstand in die öffentlichen Schulen eingeführt werde.

Um die Einfachheit seiner Methode zu beweisen, erbot sich Mason, in einer öffentlichen Schule ein Jahr lang gratis im Gesang zu unterrichten. Der Versuch glückte vollständig und zerstreute alle Bedenken. Es war eine folgenreiche That, daß der Stadtrath von Boston im Jahre 1838 die Ein führung des Gesangsunterrichtes in den Schulen anordnete. Boston genoß zuerst die Früchte dieser Saat; der Händel- und Haydn-Gesellschaft und anderen Singvereinen fehlte es nicht mehr an geeignetem Nachwuchs. Ja für die ganze Union ward der Vorgang wichtig, denn die vornehmsten Städte im Norden und Westen, im Süden und Osten folgten allmälig dem Beispiele Bostons. Weitere Unterstützung fanden diese Bemühungen durch die speciell amerikanische Institution der Musiktage oder Zusammenkünfte (musical conventions) in verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten. Vielleicht angeregt von der Sitte europäischer Musikfeste, sind sie doch gänzlich von diesen verschieden. Ursprünglich Zusammen künfte von Kirchenchören, die unter Leitung eines Psalmodie- Lehrers Psalmen und kurze Anthems sangen, gewannen diese „Conventions“ eine größere Bedeutung, als Boston das Centrum derselben wurde. Professoren der Bostoner Akademie hielten da Vorlesungen für die Lehrer der verschiedenen Schulen, besonders über die Pestalozzi’sche Methode und andere Fragen des Musikunterrichts. Man erweiterte bald den Kreis dieser Meetings zu einer förmlichen „National- Musik-Convention“, die aber nur kurzen Bestand hatte. Aus ihrem Material bildeten sich zwei neue „Conventions“; an ihrer Spitze standen Lowell Mason mit der Boston- Akademie und G. W. Webb mit der Händel- und Haydn- Gesellschaft. Beide veranstalteten jährliche Zusammenkünfte, worin in zehntägigen Cursen die angehenden Lehrer Vorträge über alle möglichen theoretischen und praktischen Zweige der Musik hörten und eine ganz enorme Arbeit zu bewältigen hatten. Allmälig entstanden in den wichtigsten Städten eigene Musikvereine, meist durch Mitglieder solcher „Conventions“, und machten dieselben überflüssig.

Ein wichtiges Ereigniß war das große dreitägige Musik fest, des die Händel- und Hayden-Gesellschaft im Mai 1857

nach Muster der englischen Festivals gab. Der Chor war 500 Stimmen, das Orchester 78 Mann stark, der Solo gesang durch die besten Künstler vertreten. Seither feiert Boston alle drei Jahre sein Musikfest. Der Fortschritt Bostons zeigte sich auch in der Gründung einer eigenen Musikzeitung, welche Mr. Dwight, ein begeistertes und thätiges Mitglied der „Harvard Association“, unter dem Titel „Dwight’s Journal of music“ begründete. Ein Hinderniß für regelmäßige Orchester-Concerte bestand nur in dem Mangel eines stabilen Orchesters. Die Concerte mußten immer Nach mittags stattfinden, weil die Musiker fast sämmtlich des Abends in den Theatern beschäftigt waren. Diesem Mangel haben später die enthusiastischen Studenten des Harvard- Collegiums abgeholfen, welche auch den ersten Impuls gaben zur Pflege der Kammermusik in Boston. Es entstand im Winter 1849 der „Mendelssohn-Quintett-Club“, der heute noch besteht. Bei dem schwankenden Zustand der Instrumental- Musik in Amerika war das häufige Erscheinen reisender Orchester doppelt werthvoll. Gungl aus Berlin, das „Saxonia-Orchester“ unter Karl Echardt, die „Lombardi“ unter August Fries kamen nacheinander. Keine dieser Ge sellschaften blieb längere Zeit beisammen; einige ihrer Mit glieder siedelten sich in Newyork, Boston oder in einer Stadt des Westens an. Glänzende Concerte gab Jullien aus London, ein tüchtiger Dirigent, zu dessen Gesellschaft Anna Zerr gehörte, die erste Darstellerin der Martha im Wiener Hofoperntheater. Am einflußreichsten wurde das „Germania Orchestra“. Sein Kern bestand aus Mitgliedern der Gungl’schen Gesellschaft, denen andere geschickte Musiker, durchaus befreundete junge Leute, sich anschlossen. Die „Germania“ erfreute sich des seltenen Vorzugs, für jedes Instrument einen tüchtigen Solisten zu besitzen. Sie landete im September 1848 in Newyork und gab dort sechzehn Concerte mit großem Beifalle, aber geringem Profit. Die „Philharmonische Gesellschaft“ mußte mit einem Benefice- Concert aushelfen, dessen reichlicher Ertrag den gesunkenen Muth der Deutschen wieder hob. In Philadelphia wurde ihre Lage verzweifelt. Mit wechselndem Glück bereisten sie

nach einander viele Städte der Union, bis sie in Boston mit rasch nacheinander gegebenen zwanzig Concerten die Höhe ihrer Erfolge erreichten. Für die musikalische Entwicklung Amerikas war das „Germania“-Orchester, das im Laufe von sechs Jahren 129 Concerte gegeben hat, von eminenter Wichtigkeit. Eine überaus große Anzahl von guten und be deutenden Tonwerken ward durch die „Germania“ da zuerst bekannt. Eine schwere, aber nicht vergebliche Pionnier-Arbeit! Wie oft standen diese Künstler, die im Stande waren, eine Beethoven’sche Symphonie perfect auswendig zu spielen, vor einem Publicum, welchem feinere Orchestermusik etwas ganz Neues war. Die Mühsal unausgesetzten Reisens und der Wunsch, sich endlich eine bleibende Heimat zu gründen, ver anlaßte die „Germania“, 1854 auseinanderzugehen. Aber selbst nach ihrer Auflösung hat sie segensreichen Einfluß fort geübt und übt ihn noch heute, indem viele ihrer Mitglieder sich in Amerika bleibend niederließen und jetzt wichtige Musik ämter dort bekleiden.

Die übrigen Städte Amerikas kommen musikalisch neben Boston und Newyork kaum in Betracht. Philadelphia ist in musikalischer Hinsicht eine Art Vorstadt von Newyork und wird von da mit Opern und Virtuosen versorgt. Bei der Weltausstellung vom Jahre 1876 spielte die Musik eine schlechte Rolle; die Philadelphier hatten nicht dafür gesorgt, und die Fremden achteten nicht darauf. Was die musikalische Cultur des Westens betrifft, so haben zwei westliche Städte, Milwaukee und Cincinnati, darauf einen ähnlichen Einfluß geübt, wie Boston und Newyork auf die übrigen Städte des Ostens. Das musikalische Leben in Milwaukee stand anfangs ganz unter deutscher Einwirkung. Eine große Emigration von gebildeten Deutschen hatte sich hier früh angesiedelt und ist namentlich in Folge der Revolution von 1848 durch zahlreiche neue Einwanderer vermehrt wor den. Sie brachten Liebe für Musik und Poesie mit und gründeten eifrig Singvereine. Hanns Balatka, einer dieser deutschen Achtundvierziger, trat an die Spitze des Milwaukee- Musikvereins, eines des ältesten und einflußreichsten im Westen. Er brachte schon vor fünfzehn Jahren das deutsche

Requiem und die beiden ersten Symphonien von Brahms zur Aufführung. In Cincinnati und Chicago sind es gleichfalls vorzugsweise die Deutschen, welche Gesangvereine gebildet haben und Musikfeste veranstalteten. In St. Louis gründete 1859 Ed. Sobolewsky, ein geborener Königs berger und Schützling Liszt’s, eine Philharmonische Gesell schaft, welche viele der besten neueren Orchesterwerke zum erstenmale dort bekannt machte. Er starb 1872 in St. Louis. Im Allgemeinen verwenden die westlichen Städte ihre musi kalischen Anstrengungen auf die Veranstaltung jährlicher Musikfeste, deren guter Einfluß unzweifelhaft und um so wichtiger ist, als dort, wo stabile Orchester fehlen, regel mäßige große Instrumental-Concerte nicht herzustellen sind. Die älteste und bedeutendste Vereinigung für solche Musik feste ist der „Nordamerikanische Sängerbund“, bestehend aus den deutschen Musikvereinen verschiedener Städte des Westens. Anfangs blos auf Männergesang be schränkt, erschien der Bund bei dem Sängerfest in Chicago (1868) mit einem Orchester von 100 Mann und wirkt seit her auf breiterer Grundlage.

Nationalgesang ist im amerikanischen Volk nicht zu finden. Der amerikanische Pächter, Schäfer, Handwerker singt niemals, außer als Mitglied eines Kirchenchors. Darum ist die amerikanische Landschaft stumm und unbelebt und macht, trotz ihrer Naturschönheiten, einen melancholischen Eindruck. Die beseelenden, erfrischenden Klänge der mensch lichen Stimme fehlen vollständig. Das Gefühlsleben der Menschen, welche hier das Land bebauen, scheint tief in ihre Brust zurückgedrängt oder nicht existirend. Nur einmal im Jahr klingen menschliche Stimmen durch die Landschaft: wenn die Sommerparteien kommen, die Städter, welche mit ihren abgeschmackten, trivialen Minstrel-Balladen die Sing vögel verscheuchen. Wie sollen wir uns diese gänzliche Ab wesenheit von Volksgesang erklären? Professor Tyler sagt in seiner Charakteristik der ersten Ansiedler in Neu-England: „Ihnen war das Leben eine ernsthafte Arbeit, ja ein harter Kampf. Außer und über diesem war es nur die Religion, was ihre ganze Intelligenz und Empfindung absorbirte. Religion, sagten sie,

ist die Hauptsache; sie glaubten es, sie handelten danach. Die Wirkung war furchtbar. In Plymouth wird eine brave Dienstmagd Samuel Gordon’s wie eine Landstreicherin aus der Gemeinde ausgestoßen, weil sie — in der Kirche gelächelt hat. Ein hochgeachteter Geistlicher, der einige junge Leute im Erdgeschoß herzlich lachen hört, steigt sofort zu ihnen her unter mit der Ermahnung: „Mitbrüder, ich staune, daß ihr so heiter sein könnt, da ihr doch eurer ewigen Seligkeit nicht gewiß seid!“ Aus dem Gemüth eines solchen Volkes kann ein unbefangener herzlicher Gesang nicht erblühen. Diese düstere Verschlossenheit ist bis auf den heutigen Tag der Grundzug der Majorität des Volkes geblieben. Allerdings geschah während des Unabhängigkeitskrieges der Versuch, einige patriotische Lieder zu schaffen, aber nach dem Krieg waren sie auch schon vergessen; der groteske, lächerliche „Yankee doodle“ — obendrein ein fremdländisches Product — hat sie alle aus dem Feld geschlagen. Daß ein so ernsthaftes Volk diesen Gassenhauer zum Ausdruck seiner patriotischen Gefühle erwählen konnte, gehört zu den psychologischen Räthseln.

Volksgesang von sehr origineller Form existirt nur in den südlichen Staaten der Union: die Lieder der farbigen Race. Die Farbigen des Südens sind sprichwörtlich musika lisch; man könnte sie ein Troubadourvolk nennen. In einigen ihrer Melodie-Typen besteht Alles, was man eigentlich amerikanische Musik nennen kann; alles Uebrige ist mehr oder minder vollständig das Echo europäischer Musik. Natür licher, naiver Gesang war das Einzige, was den armen unterdrückten Sklaven in Zusammenhang mit seinem Volke erhielt. Die gleichförmig düstere Geschichte des ehemaligen Negersklaven zeigt ihn uns als ein Wesen von geringer Intelligenz, nur im Besitz einiger wörtlich eingelernten reli giösen Vorschriften und eines angeborenen musikalischen Talents. Seine Nationallieder, größtentheils in Dur, zeigen einen lebhaften Sinn für originelle Melodie und Rhythmik, auch für eigenthümliche Harmonisirung des vom Chor ge sungenen Refrains. Der Neger der Vereinigten Staaten ist derzeit ein freier Mann und genießt die Vortheile einer

höheren intellectuellen Erziehung. Nicht wenige Farbige, Männer wie Frauen, haben sich bereits ausgezeichnet als Sänger und Instrumentalisten, ja sogar durch Proben von Compositions-Talent. Schade, daß Dr. Ritter nicht einige dieser von ihm so sehr gepriesenen Negerlieder in Noten bei gefügt hat; sie wären den Lesern willkommener gewesen, als die im Anhang abgedruckten alten Psalm-Melodien. Bemerkens werth ist, daß die Weißen in Amerika, gleichgiltig und passiv in Erfindung von Original-Melodien, sich gegenwärtig die charakteristischen Rhythmen und Modulationen der Neger gern aneignen, um ihren „Balladen“ eine Localfarbe zu geben. Diese Balladen werden insbesondere durch die speciell ameri kanischen Productionen der Negro-Minstrels populär und haben das Talent manches amerikanischen Componisten ab sorbirt. Der Begabteste unter ihnen ist Stephen Foster, ein Amerikaner irländischer Abkunft, der in Newyork1864 starb, nachdem er eine Menge volksthümlich gewordener, in ihrer Einfachheit rührender Balladen geschrieben. Er kann par excellence „der Componist des amerikanischen Volkes“ genannt werden.

Wir schließen unsere Mittheilungen aus Dr. Ritter’s werthvollem Buche mit dem Wunsche, es möchte die nächste Auflage drei Versehen gutmachen, die uns besonders aufge fallen sind. Fürs erste fehlt unter den zahlreichen, von Dr. Ritter aufgezählten Sängerinnen der Name Pauline Lucca. Diese Künstlerin, deren Namen man ebensowenig übersehen, als ihre genialen Leistungen vergessen kann, hat durch drei Jahre in Amerika geglänzt. Ferner vermissen wir den Namen Wilhelm Gericke’s, der in den letzten fünf Jahren die Bostoner Symphonie-Concerte mit größter Hin gebung und glänzendem Erfolge geleitet hat. Endlich erwähnt der Verfasser nur ganz beiläufig der Brüder Steinway als Erbauer der „Steinway-Hall“, ohne deren epochemachende Erfindungen und Leistungen im Clavierbau zu berühren, die in allen Weltausstellungen den Sieg über die europäische Fabrication davongetragen haben. Wenn ein Name die musi kalische Reputation Amerikas in Europa hoch gesteigert, ja geschaffen hat, so ist es der Name Steinway.