Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9340. Wien, Sonntag, den 24. August 1890 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9340. Wien, Sonntag, den 24. August 1890 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.08.2024
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Nach dem Sängerfest.

Ed. H. Während das Sängerfest sich in Wien ab spielte, geschah es, daß ein Wiener Musikkritiker unversehens von Bekannten in einem Gebirgsdorf aufgestöbert wurde. Man sieht ihm erstaunt und etwas vorwurfsvoll ins Gesicht. „Wie? Sie sind nicht beim Sängerfest? Sie schreiben nicht darüber? Freuen Sie sich denn etwa nicht des jubelnden Empfanges unserer singenden deutschen Armee?“ Worauf der Flüchtling ungefähr Folgendes antwortete: Gewiß freue ich mich von ganzem Herzen und juble mit, wo immer das treue Zusammenstehen Deutsch-Oesterreichs mit dem Mutter lande in tausendstimmigem Rufe sich kundgibt. Ich gestehe sogar, daß jede begeisterte Kundgebung einer großen Volks menge, ja die bloße Lectüre der Zeitungsberichte mich aufs tiefste ergreift und rührt. Aber, meine werthen Freunde, Sie interpelliren mich ja nicht als Menschen, nicht als Deutsch- Oesterreicher, sondern als Musikkritiker. Und in dieser Eigen schaft kostet es mich wirklich einige Anstrengung, herauszu finden, was denn eigentlich an so einem Sängerfest musi kalisch wichtig und bedeutend sei? Verfolgen wir den Her gang des Festes, wie ihn unsere Blätter so lebendig und warm geschildert haben. Zuerst jubelnder Empfang der an kommenden Sänger auf den Bahnhöfen, herzliche Ansprachen und Erwiderungen. Sodann der imposante Aufmarsch, ein drei Stunden langer Triumphzug, umbraust von Hochrufen, umflattert von wehenden Taschentüchern und fallenden Blumen. In der Festhalle endlich ein Bankett mit schmetternden Toasten und Fanfaren. Dies Alles ist freudvoll und erhebend, aber gewiß nicht musikalisch, sowenig musikalisch, daß es sich gleich geblieben wäre, wenn wir statt der deutschen Sänger deutsche Schützen begrüßt hätten. Gehen wir so weit, uns vorzustellen, es sei mit diesem glänzenden ersten Tage das Fest zu Ende gewesen; jedenfalls war es der ergreifendste Theil, der stärkste Ein

druck des Festes. Und doch hat die Musik nichts dazugethan. Die moralische Wirkung, die wichtigste dieses Sängerbesuches, stand am ersten Tage auf ihrer Höhe; das tausendstimmige Hoch- und Hurrah-Rufen ersetzte und übertraf jede andere Musik.

„Aber die Gesangsproductionen am zweiten und dritten Tag! — diese lieferten doch reiche Ausbeute für die musi kalische Kritik ?“ Ich glaube nicht. Was ist denn in diesen Concerten gesungen worden, das wir nicht schon oft und vortrefflich gehört? Die Literatur des vierstimmigen Männer gesangs ist ja arm an werthvollen Compositionen. Die schlichten Chorlieder, welche die Stifter der ersten Lieder tafeln — Zelter in Berlin und Nägeli in Zürichfür ihre kleine Schaar componirt haben, sind längst veraltet. Mozart und Beethoven haben diese Kunstform nur ausnahmsweise als Operncomponisten gestreift in der Zauber flöte und im Fidelio. Erst mit Weber, Marschner, Conradin Kreutzer beginnt die Frühlingszeit des mehrstimmigen Männergesangs; auch von ihren Blüthen sind gar viele rettungslos verwelkt. Mit den Liedertafeln und durch dieselben vermehrten sich die Compositionen für Männerchor; die Mittelmäßigkeit und der Dilettantismus ergossen sich in breiten Fluthen darüber. Mendelssohn und Schumann sind die letzten großen Meister, welche den Liedertafeln einige Perlen, nur wenige, geschenkt haben. Große Chorcompositionen mit schwieriger Orchesterbegleitung, wie Wagner’sLiebesmahl“, BrahmsRinaldokommen hier nicht in Betracht; die fremden Sänger bringen keine Orchester mit, noch haben sie die Zeit, solche Werke mit einem Wiener Orchester erst einzustudiren. Uebrigens kennen wir in Wien das Wichtigste, was die neuesten Ton dichter an solchen größeren Chorwerken mit Orchester gelie fert haben — Tschirch, Heinrich Hofmann, Liszt, Hans Hueber, Bruch, Gernsheim etc. — Sachen, welche bei aller virtuosen Technik überwiegend den Eindruck des Uebertrie benen, künstlich Aufgebauschten zurücklassen. Mit unserem Engelsberg scheint der letzte naive, melodienreiche Com ponist von Männerchören dahingegangen zu sein. Wie gerne kehren wir zurück zu seiner liebenswürdigen Anspruchslosig

keit von jenen bombastischen Stücken mit großem Orchester, welche die bescheidenen Vorzüge des vierstimmigen Männer chors unnatürlichen und unerreichbaren Aspirationen opfern. Eine Quelle, aus welcher die Männergesang-Vereine noch reichlich schöpfen könnten, sind die Volksliederdie deutschen zunächst, dann die italienischen und nordischen. Wie viel Köstliches läßt sich da, am besten in dreistimmigem Satz, noch bearbeiten!

In den Wiener Festconcerten wechselten Einzelproduc tionen der verschiedenen Vereine mit Gesammtvorträgen der ganzen Sängermasse. Beide hatten gegen die akustischen Hindernisse des riesigen Locals zu kämpfen. Unmöglich, daß in einer luftigen, zwanzigtausend Personen fassenden Halle Pianostellen und zarte Details überall vernehmlich, geschweige denn wirksam herauskommen. Ebensowenig erreicht in der Regel das Forte der zusammenwirkenden großen Masse den erwarteten außerordentlichen Effect. Wir konnten in Wien diese Erfahrung machen, als Herbeck vor fünfundzwanzig Jahren sämmtliche Männergesang-Vereine Wiens, zwölf hundert Mann stark, in der kaiserlichen Winter-Reitschule zu einer Monstre-Production vereinigte. Die Steigerung der Tonstärke hat ihre akustische und ästhetische Grenze; das heißt die Wirkung wächst mit der Quantität der ausführenden Kräfte nur bis zu einem gewissen Punkt, der ungefähr dem chemischen Begriff der „Sättigung“ entspricht: über diesen hinaus bleibt die akustische Wirkung stehen und geht die ästhetische sogar zurück. „Was ungeheuer, ist darum nicht groß,“ heißt es bei Grillparzer. Bei dem Pariser Aus stellungsfest, das 1867 in dem 20,000 Menschen fassenden Industriepalast stattfand, wirkten 6000 Sänger und ein Riesen-Orchester zusammen; trotzdem verpuffte die Musik ohnmächtig wie ein Löffel voll Wasser auf einer glühenden Platte. Musikproductionen in einem übergroßen Raum bieten niemals einen musikalisch reinen, ungetrübten Genuß. Meistentheils ist der überwältigende Eindruck, den das Publicum von so einem Monstre-Festconcert empfängt, mehr eine Wirkung auf das Auge, als auf das Ohr.

Anfangs eine rein gesellige Unterhaltung, hat das Lieder tafelwesen mit der Zeit eine höhere Vollendung angestrebt

und ist mit Erfolg aus dem Club in die Oeffentlichkeit auf gestiegen. So lange der Männergesang irgendwo mit dem Reiz der Neuheit auftritt, übt er, auch auf das Concert- Publicum, einen eigenthümlichen Zauber. Man glaubt, an dem reinen, scharfen Zusammenklang frischer Männerstimmen sich nicht satthören zu können und gibt sich anfangs mit der Dutzend waare von Trink-, Scherz- und Liebesliedern zufrieden. Später macht sich allmälig das Enge und Dürftige des Männergesanges immer fühlbarer, und selbst die virtuoseste Ausführung will nicht mehr recht über die Spärlichkeit des geistigen Gehalts hinweg helfen. Chormeister von besserer Bildung und stärkerem Ehr geiz, wie unser Herbeck, waren mit Erfolg bemüht, die Grenzen des Repertoires zu erweitern und die Liedertafel auf ein künstlerisches, concertmäßiges Niveau zu heben. Der Männergesang trat in eine zweite Periode, in die der höheren Ziele und ernsteren Würdigung. Aber auch auf diese ist bereits die Ernüchterung gefolgt, ja mitunter bis zu der freundlichen Mahnung vorgeschritten, es möchte der vier stimmige Männergesang aus den Concertsälen allmälig wieder in den Burgfrieden der Geselligkeit und des Vereins wesens zurückkehren. Namentlich die letzten zehn bis fünfzehn Jahre haben uns übersättigt am Männerchor, der, monoton und von beschränktem Umfang, bei aller technischen Vervoll kommnung doch selbstständig nur geringe musikalische Werthe zu produciren vermag. Die Ueberschätzung erzeugte den Rück schlag. Und wie weit diese Ueberschätzung gediehen war, kann man aus der Thatsache ersehen, daß die deutschen Gesang vereine dem Liedertafel-Componisten Franz Abt in Braun schweig ein Monument gesetzt haben. Nicht etwa eine Ge denktafel an seinem Geburtshaus, nein, ein großes Stand bild, wie es Mozart und Beethoven, Schiller und Goethe haben. Selbst wenn man, geziemenderweise, zuvor an ein Monument für Kreutzer und Lortzing gedacht hätte — es wäre, glaube ich, noch lange nicht die Reihe der Ver ewigung an Abt gekommen, von dem man wahrscheinlich in zehn Jahren keine Note mehr singen wird.

Dem Liedertafelwesen eignen viele unbestreitbare Vor züge, die nicht mit dem eigentlich musikalischen Kunstgewinn zusammenfallen. Seine erfrischende und veredelnde gesellige

Bedeutung brauche ich kaum hervorzuheben. Nur ist dabei der eine Nachtheil nicht ganz zu übersehen, daß diese Vereine den deutschen Trieb zur Absonderung befördern und die Bildung von „gemischten“ Chören sehr erschweren. In Amerika lösten sich fast alle Männergesang-Vereine auf, so bald sie zur Vervollständigung ihrer musikalischen Leistungen Frauen herbeizogen. Und doch bleibt der aus Männer- und Frauenstimmen gebildete — der ganze — Chor die un gleich vollkommenere künstlerische Form, zu welcher sich der Männerchor verhält wie der Theil zum Ganzen. Noch möchte ich eine andere, höchst werthvolle Wirkung des Männer gesangs hervorheben: seinen sittlich bildenden Einfluß auf die arbeitenden Classen. In Frankreich und Belgien kann man sich davon überzeugen. Die französischen Gesang vereine (orphéons) recrutiren sich (in Paris fast ausschließ lich, in der Provinz größtentheils) aus den arbeitenden Classen; bei uns bestehen sie überwiegend aus musikalisch geschulten Dilettanten des Mittelstandes. Daraus erklärt sich der ungleich höhere künstlerische Werth der deutschen Gesangvereine, andererseits die weit größere sociale Wichtigkeit der französischen. Diese Pariser Arbeiter singen oft herzlich schlecht — kennen doch viele keine Noten — aber die regelmäßige, liebevolle Beschäftigung mit der Musik haucht unfehlbar ein Element der Veredlung und Ver feinerung in ihr Leben und vermittelt ihnen zugleich ein wohlthuendes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Die Re gierung hat an der Gründung dieser Gesangvereine und Gesangschulen ein außerordentliches Verdienst; die meisten sind geradezu ihre Schöpfung. Sie sorgt für den Gesang unterricht, überwacht die Prüfungen, schreibt Concurse aus, vertheilt Preise. Auch die Soldaten verdanken der französischen Regierung die Einführung des Chorgesangs; vor 20 Jahren zählte die französische Armee schon mehr als 70 Regiments- Gesangschulen, und die allgemeine Einführung des Chor gesangs in der ganzen Armee ist dort längst beschlossen. Von diesen wohlthätigen Einrichtungen zur Pflege des Chorgesangs weiß man leider nichts in Oesterreich, und doch ist dies ein Punkt, an dem ein mächtiger Hebel zur Volksbildung und Veredlung einzusetzen wäre.

Die politische Macht der Männergesang-Vereine, wovon jetzt auch häufig gesprochen wird, kann ich nicht hoch anschlagen. Es war etwas Anderes in vormärzlicher Zeit, wo diese Vereine als ein „aus Deutschland importirtes Gift“ von Metternich verboten und verfolgt worden sind. Diese bureaukratische Unterdrückung machte sie thatsächlich zu Trägern des liberalen Geistes, obgleich sie sich nicht unter fingen, einen liberalen Text zu singen. Seitdem die Männer gesang-Vereine nicht mehr unter die Gifte classificirt werden, sind sie politisch Milch geworden. In den Freiheitskriegen entflammten noch die Lieder von Körner, Arndt und Schenkendorf den Patriotismus daheim und im Feldlager. Das dritte Bataillon Lützow besaß zuerst einen eigenen Sängerchor, von dem der alte Jahn Wunder erzählte. Auch diese Rolle ist ausgespielt.

Mit dem „politischen“ Einfluß wolle man aber die nationale Bedeutung des deutschen Männergesangs nicht verwechseln. Letztere ist unbezweifelt und von starkem mora lischen Werth. Wie ein schwarz-roth-goldenes Band verbindet das heimatliche Lied alle die über ganz Amerika verstreuten Deutschen. Männer aus Boston, Chicago, Philadelphia haben die weite Meerfahrt nicht gescheut, um in Wien mit All- Deutschland zusammenzutreffen. Mit welchem Jubel wurden sie begrüßt, sie und die Sänger aus Bayern, Preußen, Schwaben! Sie haben einander nie zuvor gesehen und fühlten sich doch sofort verwandt und treu verbunden — durch das deutsche Lied. Das sind Gefühle von idealem Gehalt und unvergänglicher Kraft. Aber Gefühle sind nicht Kunst, natio nale Sympathien sind nicht Musik. Das Sängerfest in Wien war allen Berichten zufolge fleckenlos herrlich, eine Freude für alle Mitwirkenden und Mitgenießenden, ein reicher Stoff für die schildernde Feder — aber kein Ereigniß von eminent musikalischem Interesse. Jede neue Oper, jede neue Cantate oder Symphonie ist uns musikalisch wichtiger, als das ganze dreitägige Sängerfest im Prater. Und darum — so schloß der aus der Sommerfrische aufgescheuchte Kritiker — darum glaube ich durch mein Fernbleiben wol ein erhebendes Schauspiel, nicht aber eine Pflicht versäumt zu haben.