Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9444. Wien, Mittwoch, den 10. December 1890 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9444. Wien, Mittwoch, den 10. December 1890 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.12.1890
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Mit der steigenden Vervollkommnung von Rosé’s Quartett-Productionen hat sich auch ihr Publicum stetig vergrößert. Jetzt zeigt sich bereits die günstige Rück wirkung: der Anblick des sehr zahlreichen und empfänglichen Hörerkreises steigert den Eifer und die Spielfreudigkeit der vier Künstler, welche gewiß das Beste leisten, was Wien zur Stunde im Quartettfach besitzt. Am letzten Abend hat ein Quartett von Tschaikowsky (op. 11) lebhaft ange sprochen. Es bildet — mit dem von Rubinstein eingeführten Lied ohne Worte“ in F-dur — einen sehr erfreulichen Gegensatz zu den beiden einzigen Compositionen des gefeierten Russen, die wir in Wien bisher zu hören bekamen; ich meine die wüste „Romeo“-Ouvertüre und sein noch schreck licheres Violinconcert. Ja, wenn unsere modernen Kraft genies sich einmal ohne Orchester behelfen müssen, dann werden sie gleich viel menschlicher. Es ist, als wenn man ihnen die Kanonen weggenommen hätte; sie können uns nicht mehr niederschmettern, sondern müssen uns zu über zeugen suchen. Eines classischen Quartettstyls kann sich Tschaikowsky nicht berühmen. Auch verrathen die ermüdenden Wiederholungen ein und derselben Figur (z. B. des Papa genopfeifchen-Motivs im Durchführungstheil des ersten Satzes) die contrapunktische Hilflosigkeit des Autors und geben dem Ganzen einen dilettantischen Beigeschmack. Allein es ist ein naiver, musikfreudiger Dilettantismus voll Talent und guter Einfälle. Am hübschesten und originellsten klingt das Andante, ein serenadenartiger Gesang der ersten Violine, größtentheils über pizzikirten Accorden. Gerade von diesem russischen Zukunftsmusiker hätten wir ein so einfach melodisches Stück kaum erwartet; es weht darin ein südlicher Hauch, wie von ferner italienischer Musik. Später, beim Aufstieg zu Liszt’s und Berlioz’ Idealen hat der Componist diesen Hauch ver

leugnet; aber daß anfangs italienischer Einfluß mächtig auf ihn eingewirkt habe, verräth uns Tschaikowsky selbst in der interessanten autobiographischen Skizze, welche jüngst in Lindau’s „Nord und Süd“ durch Vermittlung des Herrn Neitzel erschienen ist. „Ich war 17 Jahre alt,“ erzählt Tschaikowsky, „als ich die Bekanntschaft eines ita lienischen Gesanglehrers Piccioli machte. Er war der Erste, der sich für meine musikalische Anlage interessirte. Der Einfluß, den er über mich gewann, war ein ungeheurer: noch jetzt bin ich seinem Machtbereich nicht ganz entwachsen. Piccioli war ein eingefleischter Gegner der deutschen Musik. Ich wurde in Folge dessen ein begeisterter Verehrer von Rossini, Bellini und Donizetti, und hielt in meiner Herzenseinfalt dafür, daß Mozart und Beethoven vortreff liche Dienste leisten könnten, um Jemanden in Schlaf zu bringen. Nun, was das anbetrifft, so habe ich allerdings eine hübsche Wandlung durchgemacht; und doch, wenn meine Vorliebe für die italienische Musik sich auch merklich gelegt und vor Allem an Ausschließlichkeit eingebüßt hat: bis zum heutigen Tage spüre ich ein gewisses Wohlbehagen, wenn die reichverzierten Arien, Cavatinen, Duette eines Rossini mit ihren Rouladen ertönen, und gewisse Melodien Bellini’s kann ich nie hören, ohne daß mir die Thränen in die Augen kommen.“ Die Liebe zur deutschen Musik kam bald darauf von anderer Seite. Ein ausgezeichneter Pianist und Musiker, Rudolph Kündinger aus Nürnberg, hatte sich in Peters burg niedergelassen und gab dem jungen Tschaikowsky jeden Sonntag eine Stunde, nahm ihn auch zuerst in clas sische Concerte mit. Nach und nach begann Tschaikowsky’s Vorurtheil gegen deutsche Musik zu schwinden. Eine Auf führung des „Don Juan“ wirkte wie eine Offenbarung auf ihn. „Unmöglich kann ich diese Begeisterung, dieses Ent zücken, dieses Berauschtsein schildern, das mich ergriff. Mehrere Wochen that ich nichts Anderes, als daß ich diese Oper nach dem Clavierauszug durchspielte. Mozart ist unter den großen Meistern derjenige, zu dem ich mich am meisten hingezogen fühle; das ist seither so geblieben und wird stets so bleiben.“ Auch diese begeisterte Vorliebe für Mozart ist überraschend bei Tschaikowsky und in seinen Werken kaum zu entdecken. Während dieser ganzen Zeit hatte

er keine Ahnung, daß er sich jemals der Musik widmen würde. Er hatte die Rechtsschule in Petersburg absolvirt und bekleidete durch drei Jahre das Amt eines „Unter secretärs“ im Justizministerium. Erst mit 22 Jahren nahm er Unterricht in der musikalischen Theorie und besuchte das von Rubinstein gegründete Conservatorium, ohne jedoch sein Amt im Ministerium aufzugeben. Spät erlangte er die Möglichkeit, sich ausschließlich der Musik widmen zu können. Rubinstein ermunterte ihn energisch in seinem neuen Beruf, pflegte ihm aber wegen seiner Zuneigung zu der Richtung von Berlioz und Wagner gründlich die Leviten zu lesen. Bezeichnend ist es, daß Tschaikowsky kaum das Conservatorium verlassen hatte, als er auch schon die Stelle eines Professors der Compositions-Lehre am Moskauer Conservatorium übernahm. Zehn Jahre hat er dieses Amt bekleidet, an das er nur mit Entsetzen zurück denkt, so peinlich war ihm das Unterrichtgeben. Eine gefähr liche Erkrankung seines Nervensystems trat hinzu, um ihn (1877) zur Niederlegung seiner Stelle zu bestimmen. Seit her lebt er ausschließlich der Composition. Tschaikowsky ist jetzt 50 Jahre alt, in voller Kraft und Lust des Schaffens. Nach Tschaikowsky’s Quartett spielte Herr Ignaz Brüll mit Rosé die bekannte Suite von Goldmark unter großem Beifall. Wir haben an Herrn Brüll nur Eines auszusetzen: daß er nicht häufiger öffentlich spielt. Von seinem vornehmen, männlichen, immer sachgemäßen und unaffectirten Vortrag können alle jungen und auch viele alte Pianisten lernen. In Brüll hat der Virtuose den guten Musiker noch niemals gedrückt, geschweige denn verschlungen. Bei ihm finden wir die Technik der modernsten Virtuosen ohne deren Koketterien und Faxen.

Herr Bernhard Stavenhagen hat zwei Concerte unter gewaltigem Andrange des Publicums und mit außer ordentlichem Erfolge gegeben. Wunderlich genug, daß er, der Liszt-Spieler par excellence, seine Productionen mit Beethoven’s B-dur-Concert Nr. 2 eröffnete. Es wird noch seltener gespielt, als das erste in C-dur, also eigentlich gar nicht. Wir haben es jetzt zum erstenmale öffentlich gehört. Stavenhagen spielte das Concert, dessen Schwierigkeiten heute jeder vorgeschrittene Schüler bewältigt, schön und durchaus

getreu; es mag ihn Selbstverleugnung gekostet haben, dem dünnen Claviersatze nicht durch verstärkende Octaven oder vollstimmigere Accorde stellenweise aufzuhelfen. Das B-dur- Concert (op. 19) ist nach Beethoven’s eigener Angabe früher componirt, als das mit Nr. 1 bezeichnete in C-dur (op. 15). Es könnte beinahe für ein Mozart’sches gelten, so klar, natürlich und selbstgenügsam fließt es dahin. Bedeutend nach Beethoven’schem Maßstabe ist es in keinem der drei Sätze, aber auch in keinem langweilig. Herr Stavenhagen wollte uns wahrscheinlich die äußersten musikalischen Grenzpunkte unseres Jahrhunderts aufzeigen, indem er auf das bescheidene Concert des jungen BeethovenLiszt’sTodtentanz“ folgen ließ. Das ist wirklich und in jedem Sinn „fin du siècle“. Liszt hat es unternommen, einen der berühmten „Todten tänze“, wie die Phantasie der alten deutschen Maler sie ge schaffen, musikalisch nachzubilden in einer Reihe von Clavier- Variationen mit Begleitung des Orchesters. Der schreckliche Sensenmann wird durch eine angeblich aus dem sechsten Jahrhundert stammende Kirchenmelodie (Dies irae) symboli sirt, welche markerschütternd angeblasen kommt und die Per sonen des Todtentanzes, die Variationen nämlich, vor sich hertreibt. Die Variationenform ist ohne Frage glücklich ge wählt für diesen Vorwurf, die Ausführung jedoch sehr materialistisch. Richard Pohl, der literarische Vorreiter jedes incognito reisenden Tiefsinnes, versichert, er sehe deutlich in jeder dieser Variationen einen andern Charakter: „den ernsten Mann, den leichtsinnigen Jüngling, den höhnenden Zweifler, den betenden Mönch, die liebliche Jungfrau“ u. s. w. Ich erblickte nur lauter Clavier-Virtuosen, die nach einander ihre Kunststücke probiren, der eine in Trillern, der andere in Octaven, der dritte in Sprüngen, der vierte in Accorden — alle aber so unbelästigt von Todesgedanken wie etwa ihre Zuhörer. Sollte der „Todten tanz“ wirklich den beabsichtigten phantastisch-schauerlichen Eindruck machen, so durfte eine concertmäßig sich vordrängende Clavierpartie gar nicht dreinreden. Der Stoff hätte von einem gewaltigen ernsten Symphoniker in großem Styl behandelt werden müssen, oder mit der geistreichen, fein ironischen Grazie von Saint-SaënsDanse macabre“, welche Geringeres anstrebt und doch viel mehr erreicht, als Liszt’s Todtentanz. Dieser klingt thatsächlich wie

eine gelungene geistreiche Persiflage von Liszt’s Compositions styl. Herr R. Pohl sagt mit Unrecht, Liszt’s Todten tanz sei „kein unterhaltendes Stück“. Nein, diese in lauter Purzelbäumen vom Erhabenen ins Lächerliche sich über schlagende Musik ist unterhaltend, ist sehr unterhaltend, Zeuge dessen die zahlreichen Physiognomien im Concert, die alle von mühsam zurückgedrängter Heiterkeit wetterleuchteten. Nachdem Herr Stavenhagen noch in Liszt’s A-dur-Concert als großer Virtuose geglänzt hatte, trat er zum erstenmal auch als Componist hervor. Er hat einen langen Monolog aus dem Drama „Suleika“ von Kastrupp für eine Sopran stimme mit Orchesterbegleitung gesetzt. Suleika spricht von ihrer Liebe zu Jussuff; Wonne und Zärtlichkeit, Schmerz und Verzweiflung, Selbstvorwürfe und glühende Sehnsucht nach dem Geliebten lösen einander ab. Der Componist hat diese Wandlungen in eine Reihe von Gesangstückchen umgesetzt, die musikalisch dürftig und isolirt, eigentlich nur durch den Faden der Dichtung zusammenhängen. Das Ganze — es ist eben kein Ganzes — entläßt uns ohne bestimmten Total- Eindruck. Der Styl ist der rhapsodisch declamatorische, über schwängliche von Tristan und Isolde. Das Orchester in seiner modernsten Machtfülle führt das große Wort und soll uns durch Farbeneffecte für den Mangel an musikalischen Ideen entschädigen. Wir würden des Componisten große Ge wandtheit im Instrumentiren loben, wenn dieses Lob heutzu tage noch viel zu bedeuten hätte. Wann werden unsere Ton dichter aufhören, für einen Zopf zu halten, was eine ewige Wahrheit, ein Urgesetz ist: daß die Melodie der oberste Wille sein muß in jedem Gesangstück! Die junge schöne Gattin des Componisten, Frau AgnesStavenhagen, sang die „Suleika“ und im zweiten Concert noch drei Lieder ihres Mannes mit hellklingender, angenehmer Sopran stimme, reiner Intonation und deutlicher Aussprache, im Ausdrucke jedoch eigenthümlich starr und unfrei. Die Lieder selbst sind von der Art des jetzigen jungen Deutschland: ein ziemlich physiognomieloser Gesang, unter welchem eine weit griffige, complicirte Clavierfigur sich eigensinnig fortwälzt. Das dritte Lied: „Deine weißen Lilienfinger“, ist geradezu eine unverfälschte Clavier-Etüde mit entbehrlicher Gesangs begleitung. Unsere jungen componirenden Seelenmaler wissen für jede Nuance einer hysterischen Wallung die entsprechen

den Farbentone zu finden; nur was ein Lied ist, wird man bald nicht mehr wissen. In Stavenhagen’s zweitem Concert, das ohne Orchester stattfand, vermochte man die Feinheiten seines Spiels noch besser zu würdigen. Er ist ja am be deutendsten als Miniaturmaler. Die Kunst der Anschlags nuancen, als ein besonderes Studium, datirt erst aus neuerer Zeit. In dieser Kunst, dem Clavier die mannigfaltigsten Klangfarben abzugewinnen, hat Staven hagen keinen Rivalen. Allein meine Befürchtung vom vorigen Jahre, Stavenhagen könnte die Ausbildung dieser Specialität auf eine gefährliche Spitze treiben, war nicht grundlos. Wirklich verleitet ihn sein Reichthum an Anschlagsnuancen manchmal dazu, über die besondere Klang schönheit einer einzelnen Phrase den musikalischen Charakter des Ganzen zu vernachlässigen. Zu oft und anhaltend benützt er die „Verschiebung“, so z. B. durch das ganze Dur-Trio des H-moll-Menuetts von Schubert. Diese, wie durch Kampfersalbe hervorgekünstelte Blässe zerstört das schöne natürliche Wangenroth der Schubert’schen Melodie. Dasselbe Schönheitsmittel „una corda“ gebraucht Stavenhagen für die F-dur-Nocturne von Chopin (op. 15); dazu spielt er den (ausdrücklich mit „sempre legato“ bezeichneten) Baß im allerspitzigsten Staccato! Vorbei war es mit der holden Innigkeit dieser Melodie, sie ward gezirpt anstatt gesungen. Es gefiel eben unserm Klangkünstler, das volltönende Clavier in eine armselige Zither zu verwandeln. Die „Polonaise-Fantaisievon Chopin hat uns Stavenhagen bereits im vorigen Jahre gespielt; wir hätten dieser fieberkranken Rhapsodie jedenfalls die glanzvolle As-dur-Polonaise, op. 53, vorge zogen. Liszt’sH-moll-Sonate haben wir bisher nur von Bülow gehört; sie bekam unter Stavenhagen’s Fingern mehr Farbe und sinnlichen Reiz. Einzelne Partien, zumal die elegischen, traten dadurch in eine günstigere Beleuch tung; das abstruse Ganze ist freilich nicht zu retten. Es dürften vielleicht nur wenige von den Verehrern Liszt’s ein Buch kennen, das 1847 in Mailand unter dem Titel er schienen ist: „Etude prénologique sur le carac tère originel et actuel de Mr. François Liszt“. Der Verfasser, ein englischer Doctor der Medicin, Mr. Castle, erhielt in einem äußerst liebenswürdigen Briefe von Liszt die Erlaubniß, seinen „mehr oder minder buckligen Schädel“

zu untersuchen. Zugleich gibt ihm Liszt die Versiche rung, er werde nicht die leiseste Empfindlichkeit zeigen, selbst wenn der Phrenolog Organe des Diebs sinnes und der Mordlust an ihm entdecken sollte. In dem citirten furchtbar langweiligen Buche hat Mr. Castle die Resultate seiner Untersuchung ausführlich mitgetheilt und in einer langen Tabelle übersichtlich gemacht. Ganz richtig findet er an Liszt’s Schädel im höchsten Grade ausgeprägt: Intelligenz, Liebe, Freundschaft, Großmuth, Enthusiasmus, Ehrgeiz u. s. w. Nur Eine Eigenschaft Liszt’s bezeichnet Castle als minder hervorragend: sein Compositions-Talent, welches offenbar durch seine mächtige Reproductionsgabe („la puissance d’exécution artistique“) zurückgedrängt und gehemmt sei. Mr. Castle hatte es freilich leicht, das Alles an dem Schädel Liszt’s zu „entdecken“, da er ja vor der Untersuchung über den großen Menschen und Künstler vollständig im Klaren war.

Dem letzten Philharmonischen Concert verdanken wir die Bekanntschaft eines neuen ausgezeichneten Pianisten, des Herrn Emil Sauer aus Dresden. Der noch sehr junge Mann spielte Henselt’sClavierconcert in F-moll mit großer Virtuosität, schönem Anschlag und warmer, fast mädchenhaft zarter Empfindung. Seine im schönsten Pia nissimo hingehauchten Passagen und Verzierungen erregten Aufsehen. Herr Sauer kann sich eines entschiedenen Erfolges rühmen. Das Henselt’sche Concert, welches mehr Zartheit als Kraft und Kühnheit verlangt, kam seiner Spielweise sehr günstig entgegen. Die Composition selbst wirkt nur durch schöne Einzelheiten; ein großes Ganzes zu formen, lag nicht in der Macht Henselt’s, dieses feinen poetischen Kleinmalers. Seine Etuden übertreffen an schöner Eigenart und musikali schem Gehalt das große Concert; sie bleiben immerdar Henselt’s Meisterwerk. Mit Unrecht werden sie jetzt von den Clavier-Virtuosen völlig ignorirt; höchstens, daß hin und wieder noch das „Vöglein“ gespielt oder vielmehr durch ein sinnloses Tempo zu Tode gehetzt wird. Henselt’s Etuden sind durch ihre glänzende Technik wie durch ihre poetische Empfindung ungemein dankbar für den Spieler, wenn sie ihm auch nicht die Möglichkeit bieten, zu demonstriren, wie ein heiliger Franz über die Wellen spaziert und ein anderer heiliger Franz den Vögeln predigt.